Der Waldboden ist eine gute Grundlage. Von oben werfen die Blätter an den Baumkronen ganze Netzgeflechte von Schatten. Von unten bietet er gerade so viel Widerstand, wie es braucht, sich von ihm wegzudrücken. Er setzt dem Fuß etwas entgegen, aber er bleibt weich, er durchschüttert einem nicht die Knochen, noch gibt er vor, etwas zu sein, was er nicht ist. Wie es ihm beliebt wirft er sich mal auf, mal ab, ist schief und krumm, klafft plötzlich auf oder fällt steil herab. Und trotzdem ist er dem Läufer ein viel besserer Freund als jede glatt gestriegelte Steinstraße es jemals sein könnte.
Narcis Iorgas Herz arbeitet wie eine Pumpe. Ihm läuft der Schweiß an der Stirn herab, denn er geht ganz aus sich heraus. Jetzt hat er schon einen zweistündigen Lauf hinter sich und er hält nicht an. Noch ist er jung, und er muss die Meilen nachholen, die er in den letzten Jahren nicht gehen konnte. Manchmal erschrickt er von jetzt auf gleich immer noch, weil ihn plötzlich keine Gitterstäbe mehr zurückhalten. Manchmal wird ihm plötzlich bang und er befürchtet, die Bäume brächen, unheimlich über ihn erhoben, plötzlich auf ihn herab und schlügen ihn tot. Dabei sind es nicht die Bäume. Die Bäume sind nur Bilder. Sie sind darüber hinaus auch noch schlecht gezeichnet, schattenhafte Formen, die in ihrer Darstellung gruselig und unausreichend sind. Sie scheinen plötzlich schief zu stehen, verrückt in den Himmel hoch zu ragen, und alles wirkt dann ein wenig verschoben. Das sind die Momente, in denen sein Herz sich zusammenzieht, in denen ihm die Luft wegbleibt. Wenn er läuft, dann atmet er wenigstens.
Er muss aber feststellen, dass man vor einem Ort zwar wegrennen kann, dafür niemals vor einem Gedanken. Selbst wenn er sich selbst Feuer macht, und ihm brennen schon die Muskeln, gehen ihm noch Dinge durch den Kopf, die ihn irgendwie in den Wald verfolgt haben. Das sind Gedanken wie Insekten, finden immer einen Weg, kommen durch Fugen herein und breiten sich aus, aber man bemerkt sie erst, wenn sie sich fett und eklig in der Ecke eingenistet haben. Manchmal öffnet man unbedarft einen Schrank und dann fallen sie einen an. Wenn man nach ihnen schlägt, ziehen sie sich zurück, verstecken sich in unmöglichen Ritzen, bis man es mit dem Tothauen aufgibt, bis auch man selbst sich zurückzieht. Man vergisst sie schnell, manchmal hat man Glück und sieht sie nie wieder. Meistens bleiben sie aber irgendwo und kriechen an ihren alten Platz zurück.
Er erinnert sich an ein junges Mädchen, das ihn immerzu angesehen hat. Sie hatte einen schläfrigen, tiefliegenden Blick. Ihr Großvater war Eloner gewesen, ihre Mutter hellblond. Sie selbst war eine cremefarbene Mischung beider Ethnien mit Haar, das dunkler war als ihre Augen.
Sie gehörte zu denen, die er wegschiffen ließ. Es störte ihn, das sie ihn die ganze Zeit mit ihren übergroßen Augen anstarrte, als wären diese Augen gleichzeitig Vergrößerungsgläser, die auf die Vergangenheit ausgerichtet waren. Sie sah ihn damit in einem vergangenen Licht. Man konnte einen Menschen nicht bei Nacht ansehen und vorgeben, ihn immer noch genauso zu erkennen wie zuvor bei Tage. Obwohl es in ihrem Fall anders herum war. Sie hatte ihn zuerst bei Nacht gesehen. Und jetzt weigerte sie sich, anzuerkennen, was der Tag offenbarte.
„Du kannst sie dir mitnehmen“, sagte Revan Libanez zu ihm, der erkannt hatte, dass er fortwährend widerwillig zu dem Mädchen sah, weil er es nicht ertrug, nicht zu wissen, ob sie ihn immer noch anstarrte oder nicht. Sie und andere wurden gerade abgezählt und überprüft. „Aber Narcis. Bring sie morgen zurück und benimm dich. Nicolae will keine beschädigte Ware.“
Er erinnert sich an den Geruch von einem Gesöff in einem kleinen Kelch, das Libanez immer trank. Ein bittersüßes Gemisch aus Rotwein und Fieberrindensaft, das nach Zimt, Bitterorange und Enzian stank. Er trank es mit und ohne Kaffee, je nachdem, wie weit der Tag fortgeschritten war.
Plötzlich ist ihm wieder der Ekel gegenwärtig, der ihn damals aus dem Nichts übermannte. Er glaubte damals, davon zu Boden geworfen zu werden.
„Ich hatte sie schon“, hörte er sich sagen. „Oder was glaubst du, wie sie hierher gekommen ist.“
Der Ekel richtete sich gegen ihn selbst wie eine schleimige, weiße Made. Narcis war so angewidert von sich, dass er sich betrunken fühlte, abgefüllt von Niedertracht und einer galligen Brühe, die irgendwo in den abstoßendsten Kammern der Menschheit gekeltert wurde. Sie hatte geglaubt, er würde sie beschützen. Jetzt ließ er es noch so klingen, als habe er es alles geplant. Als sein jüngerer Bruder ihm lachend auf die Schulter schlug, wagte er nicht, ihm zu sagen, dass er das Mädchen nicht absichtlich in die Fänge der Menschenhändler getrieben hatte. Banel war noch unerfahren, nicht einmal volljährig. Er stand jeden Tag auf und tat was getan werden musste. Er war gut darin, die Leute glauben zu lassen, dass er es gern tat. Er war so gut, dass er damit manchmal sogar seinen Bruder verunsicherte.
„Das war dumm“, sagte später eine Stimme hinter ihm, Narcis war gerade unterwegs zum Landeplatz der Schiffe, wo er seinen Vorgesetzten treffen sollte, und er wusste, dass es Ganes war. Ihm konnte er nichts vormachen. Ein Jahr älter und zehn Jahre klüger, er hatte außerdem am Abend davor mitbekommen, wie blauäugig Narcis das Mädchen eingeladen hatte. Aber er hatte nichts gesagt. Vielleicht hatte er auch nichts gewusst.
Ihm ist jetzt wieder schlecht wie damals. In seinem Mund hat sich der Geschmack von Eisen ausgebreitet. Wenn er etwas trinkt, geht es vielleicht weg, die Übelkeit und das Eisen, aber dafür muss er in die Stadt zurück.
Eigentlich will er keine Leute sehen. Er läuft auf müden Beinen. Je näher er den gepflasterten Wegen kommt, umso mehr verlangsamt er. Er beeilt sich nicht, aber er ist schnell. Seine Muskeln sind voller Blut, sie zeichnen sich an den Armen und den Oberschenkeln ab. Leute an denen er vorbeikommt, werfen ihm Blicke nach.
Als er ins Anwesen tritt, begegnet er jemanden.
Er steht einem Mädchen, eher einer jungen Frau gegenüber. Sie hat schweres, blondes Haar; es ist hell, als habe sich ein Lichtschein darin verfangen. Überhaupt hat sie eine Frische und Entschiedenheit in ihrem Ausdruck, als wäre sie fest entschlossen, gar nichts gehen zu lassen, was sich ihr einmal genähert hat; alles verfängt sich und sie hebt es irgendwo auf, sortiert es und bemisst es ab und an mit einem liebevollen Blick, um es dann auf lange Zeit unbeachtet zu lassen. Sie gibt dieses Bild auf ihn ab, ohne auch nur ein Wort zu sagen. Etwas an ihr überragt den Raum, nur kann er nicht sagen, ob es ihr Charakter ist oder der Charakter, den sie selbst sich zugeordnet hat.
„Du bist Narcis“, begrüßt sie ihn schließlich, „Oder bist du Banel?“
Er ist überrascht. Ihre Stimme klingt melodischer als er erwartet hat, auch wenn sie sich Mühe gibt, sich nicht übermäßig für ihn zu interessieren. Er weiß ihren Versuch zu schätzen, obwohl er ihn ihr nicht abkauft. Sie hat auch etwas von einem Flegel.
„Ich bin Narcis“, bestätigt er. „Und du bist Helena, nicht wahr?“
„Aha. Ihr seid jetzt also hier. Und macht ihr Ärger?“
„Ich habe dich lange nicht gesehen.“ Der Kurs, den sie einschlägt, verwirrt ihn. Er runzelt die Stirn und startet selbst einen Versuch, unbehelligt zu bleiben. Sie gibt ihm über ihre Gefühle keinen Aufschluss. Aber Freundlichkeit ist doch etwas, gegen das die meisten Menschen sich nicht erwehren können, ohne sich selbst ein bisschen lächerlich zu machen. „Du bist sehr erwachsen geworden. Ich habe nicht vor, Ärger zu machen.“
„Es gibt Regeln. Und ich bitte dich, nicht zu glauben, dass sie für dich nicht gelten, nur, weil du jetzt lange einen Dienst für die Familie ausgestanden hast. Wo das gesagt ist: Herzlich Willkommen. Du musst dich hier natürlich zu Hause fühlen. Ich mache dir etwas zu trinken. Setz dich hin. Wo ist dein Bruder?“
Helena geht gleich zu eifrigen Handgriffen über. Zuerst schiebt sie ihn zum Tisch in der Küche; dass er verschwitzt ist stört sie dabei nicht. Dann holt sie Tonbecher und Krüge. Von der Seite betrachtet sieht sie aus, als schliefe sie, wenn ihre Augen niedergeschlagen sind. Ihre Wangen fahren einen sanften, hohen Bogen, sie ist natürlich fraulicher geworden, aber er erkennt immer noch die Rudimente des Mädchens, das sie bei ihrer letzten Begegnung war.
„Banel hat etwas in Löwenstein zu erledigen. Er wollte Adrian und Veruca besuchen.“
Sie hält inne, gerade, als sie ihm etwas eingießen wollte. Als sie sich nach ihm umdreht, ist ein Teil von ihr ausgewechselt. Sie fährt ein wenig zusammen, lächelt, aber in ihre Augen ist, wie ein Blitz, ein bezwingender Reiz gefahren. Man darf ihr keine Antwort verwehren:
„Was hast du mit Cird zu schaffen?“
Kurz glaubte er, bei irgendetwas ertappt worden zu sein. Als sie dann ihre Frage stellt, kommt er nicht umhin, sich erleichtert zu fühlen.
„Nichts. Wir haben einander getroffen. Ich bin mit einem Freund von dir aneinander geraten, einem gewissen Mela-“
„Melandrin ich weiß.“
Sie hat ganz offensichtlich keine Geduld. Im Becher schwappt der Inhalt, als sie ihn forsch bei ihm abstellt, er kann nicht deuten, was sie ihm gegeben hat. Gerade will er etwas sagen, als sie besänftigt fortfährt:
„Ich will, dass ihr Melandrin in Frieden lasst. Lasst euch von ihm nicht reizen, und wenn du Cird siehst, sag ihm das auch.“
„Er hat Tin ein Messer an den Hals gehalten. Mir wurde gesagt, dass er unter deinem Schutz steh-“
„Er hat was? Wieder?“
„Wieder?“ Narcis gefällt gar nicht, wie sie ihm wiederholt ins Wort fällt. Ihre Frage aber bringt ihn dazu, aufzulächeln und eine Art Belustigung der Unbetroffenen zu empfinden. „Du willst sagen, dass-“
„Ich sage überhaupt nichts. Ihr dürft euch natürlich wehren. Aber seid damit nicht grober als ihr müsst. Darum bitte ich euch.“
„Wer ist dieser Panther?“ Er lässt sie ausreden. Er lehnt sich sogar noch langsam in seinem Stuhl zurück und streckt seinen Fuß über einem anderen aus, bevor er seine Frage stellt.
„Wie kommst du auf Panther? Sag bloß, er war auch dabei.“
„Nicht bei dieser Sache, nein.“
„Ich kann dir zu Panther wenig sagen. Ich habe mich mit ihm nie so viel beschäftigt wie er sich mit uns, und so scheint es ja meistens zu sein. Ab und zu kommt einer, der uns hasst und bezwingen will, und wir wissen nicht einmal weshalb und wer der Kerl überhaupt ist. Daran gewöhnst du dich besser. Und auch daran, die Füße vom Stuhl zu nehmen.“
Sie spricht mit einer beeindruckenden Angewohnheit; streng aber doch mit einem Geschmack von Nachsicht. Ihre Regeln sind nicht unbiegsam, aber nicht jeder darf sie nach seinem Belieben verformen. Sie legt auf ihre Autorität wert, nicht um sich hervorzuheben, denn genau genommen könnte sie in einer Menge auch untergehen, sondern damit alles ordentlich und genau geschieht. Narcis glaubt auf Anhieb zu verstehen, dass es genügt, ihr zu vermitteln, dass sein Handeln für sie keinen Kontrollverlust bedeutet, damit auch ihm mehr Freiheiten eingeräumt werden. Er lächelt mit geschlossenem Mund. Ihm wird das wahrscheinlich leicht fallen. Es wird allerdings interessant werden, Banel dabei zuzusehen, wie er es versucht.
Kommentare 20