~Es war dunkel. Das die Dunkelheit einen mit der Zeit blenden konnte, das wusste sie schon allzu gut. Sie wusste auch, wenn sie brav war und schweigsam hier in der Ecke kauerte, dann würden sie irgendwann kommen und sie holen. Dann küsste ihre Mutter ihre tränenfeuchten, salzigen Wangen und der Vater schenkte ihr ein Stück Schokoladenkuchen, welches Mutter am Vortag gebacken hatte. Sie durfte nur nicht betteln und nicht schreien, denn das mochten die Eltern nicht. Ihre Angst versteckte sie in ihrem Herzen, sperrte sie dort ein und warf den Schlüssel weit fort. Irgendwann kamen sie immer herab in das Kellerloch und holten sie. Und darauf vertraute das Kind. Anfangs waren es nur ein paar Minuten gewesen. Mittlerweile saß sie hier viele, viele Stunden. Oftmals brachte sie Vater schon nach dem Frühstück hinunter und wenn er sie wieder holte war es bereits draußen am dämmern. Im Winter war dem so gewesen und nun, im Sommer ebenso. Wenn sie musste, verkniff sie es sich, bis es schmerzte. Wenn sie nicht stand hielt, strafte man sie. Mittlerweile war sie es gewohnt, den Schmerz ihres Körpers zu unterdrücken. Nur die Kälte war stets aufs neue nagend. Draußen war es heiß. Die Insekten zirpten und ganz fern, ganz dumpf, drang Kinderlachen zu ihr herunter. Kinder mit denen sie niemals spielen durfte. Mutter sagte sie seien nicht nur äußerlich schmutzig, sondern auch innerlich. Unreine, feige Geschöpfe, zerfressen von Schwäche. Vater strafte sie, wenn sie ihnen durch das Fenster beim spielen zusah und dabei erwischt wurde. Nach seiner letzten Strafe hatte sie das Gucken nach den Gleichaltrigen aufgegeben. Es begann schleichend. Zuerst bemerkte sie es nicht einmal. Vielleicht weil sie eingeschlafen war. Ein leises Knirschen. Ratten? Das Mädchen öffnete vorsichtig die von Tränen verklebten Wimpern, spähte in das Nichts, als könnte sie dort etwas ausmachen. Und wahrlich. Sie sah etwas. Und sofort wünschte sie sich, es wäre wieder finster, denn sie war nicht mehr allein. In seltsames Licht getaucht, harrten dort Wesen in den Ecken des Raumes, der größer war, als sie ihn in Erinnerung hatte. Wesen, grotesk entstellt und auf abscheuliche Weise menschenähnlich. Körper- geplatzt und verbogen. Hier und da mochte sie feuchtes Fleisch erkennen, Klauen und Zähne. Grausame, hässliche, abartige Wesen, welche sie anglotzten, atmeten und schnarrten. Und dann... bewegte sich das Erste auf sie zu. Es war als habe man einen Mann seitlich in einen Zweiten geschoben, zwei Köpfe starrten sie an, zwei Gesichter mit aufgerissenen Mäulern. Der Bauch nach oben gekehrt, krabbelte es auf allen Vieren auf sie zu, die Gelenke knackend und knirschen bei jedem Schritt. Sie schob sich noch ein Stück tiefer in die Eckennische. Der Kinderatem wurde hektischer. Schmerzlich gruben sich die kleinen Nägel in ihre Knie und hinterließen helle Halbmonde auf der kakaobraunen Haut. Gurgelnd kraxelte das Wesen weiter. Näher und näher. Eine Ausgeburt aus einem Alptraum. Und ihr folgend, kamen die Anderen nach. „Nein...“, wisperte sie leise, drängte den Rücken schon schmerzlich gegen den Stein. „Nein... nein... nein nein... geh weg!“ Eine 'Hand' umgriff ihre zartgliedrige Fessel, zog sie mit einem Ruck etwas näher zu sich, so dass das Kind ängstlich aufschrie. „Nein, geh weg! Lass mich los!“, keifte sie und strampelte gegen die ekelhafte Klaue, die um ihren Knöchel saß, wie ein Schraubstock so fest. Hektisch floh der Atem, der Gestank um sie herum war beißend, fast grausam. Sie waren nun alle da, alle griffen sie nach dem Mädchen. Hände legten sich um ihre Arme und Beine, hielten sie fest und sie schrie in Panik. Sie würden sie fressen, sie alle würden sie zu ihrem Abendbrot verspeisen. Das vaabiblütige Geschöpf schrie und schrie. Bittere Tränen der Angst raubten ihr die Sicht, benetzten ihre kleinen Wangen. Sie schmeckte bittere Galle in ihrem Mund. Und als sie es nicht mehr ertrug schrie sie nach den Eltern, bettelte, dass es aufhören möge. Und die erste Kreatur zerbarst. Wie ein Spiegel. Doch für das Kind war nichts mehr wie es vorher war. Schwarz zu weiß.
Über ihr knirschten die Dielen, wenn das Personal sich durch das Haus bewegte. Nicht zu groß, aber auch nicht ärmlich. Keiner von ihnen hatte je versucht die Tür zum Keller zu öffnen, sie heraus zu lassen oder ihr Essen hinab zu schmuggeln. Sie verstand auch warum. Sie hatte mittlerweile begriffen, dass es da diesen Schleier gab, der sich senkte. Und wenn sie hier unten war, dann war sie dort oben in der Welt des Lichtes nicht präsent. Dann ward sie dort eine unterdrückte Erinnerung, ein fahler Juckreiz im Hinterkopf. Mehr nicht. Deswegen suchte niemals jemand nach ihr. Und die Tür war niemals auch nur zu erahnen, wenn sie erst einmal geschlossen war.
Hier unten gab es nur Dunkelheit und Kälte. Doch wenn sie die Zähne zusammen biss und die Knie an den Leib zerrte, dann würde man sie wie all die Tage zuvor wieder hinauf holen. Sie musste nur Geduld zeigen. Nur noch eine Stundenglasumdrehung... vielleicht zwei...
Und die Anderen folgten ihr.
Das Kind selbst kauerte mit weit aufgerissenen Augen in jener Ecke, atmete hektisch, weinte und zitterte wie Espenlaub. Sie schröpfte panisch nach Atem, als bekäme sie keine Luft mehr. Angst umwölkte noch immer ihr Denken. Und nur allzu offensichtlich war, dass sie sich eingenässt hatte. Dabei war sie schon 'so groß'. Zu ihrer Panik traten nun auch Tränen der Scham auf ihre Züge, als sie Tür zu jenem Kellerloch aufgestoßen wurde. Licht blendete sie, schmerzte in den Augen und ließ sie sich wie ein Tier tiefer in den Schatten verkriechen.
Ihre Mutter trat die Stufen der Treppe hinab. Eine kleine, aber schlanke und geradlinige Frau, ohne nennenwerte Rundungen oder bemerkenswerte Schönheit. Das schwarze Haar hatte sie zu einem strengen Dutt empor gebunden. Juwelen in den dunklen Loden waren der einzige Zierrat den sie sich gönnte. Das Kleid selbst saß wie eine zweite Haut an ihrem Körper, schwarz wie die Nacht, kaum dunkler als ihre Haut.
„Und dies mein Kind, ist die wichtigste Lektion, die uns die Göttin lehrt.“, sprach sie kalt und ein kleines Lächeln der Abscheu umspielte die vollen Lippen. „Sie lehrt uns nicht nur die Schleier zu formen, die Realität zu manipulieren und das Chaos zu schüren. Sie lehrt uns ebenso diese Schleier herab zu reißen. Wer alle Illusionen kennt, lässt sich nicht täuschen.“ Ein herablassendes Schnalzen mit ihrer Zunge folgte. Die Laterne in ihrer Linken Hand zuckte nicht mal ein bisschen, als sie näher kam und ihre zusammen gekauerte Tochter in der Ecke beschaute. Hinter ihr, stieg der Vater nun die hölzernen Stufen hernieder. Schwer und adrett der Gang, ein Handgelenk ruhte hinter seinem Rücken auf dem Steiß. Auch seine Augen wanderten tadelnd über das Häufchen Elend, welches da hockte. „Du wirst es noch lernen. Heute war erst der erste Tag.“, sprach er dunkel und knurrend, während er sich näher schob. Ein Pfiff rief einen Diener herbei- glatzköpfig und breit und die Augen leer, schon seit Jahren. Eigentlich schon seit er in die Dienste ihrer Eltern trat. Ihre Mutter verspottete ihn als dumm, doch mochte das Kind ahnen, dass der Elonier etwas in den Händen ihrer Eltern verloren hatte. Ein Gefäß war es also vielmehr, welches nach ihr griff und sie auf die Arme lud. Ihr besudeltes Kleid wurde von den leeren, seelenlosen Augen nicht einmal wahr genommen.
Als er sie auf Geheiß des Vaters hin nach oben bringen wollte, war es die Mutter, die sie noch ein letztes Mal aufhielt. Ein rüder Griff in das Haar des Kindes folgte. Sinnend ließ sie sich die Strähnen durch die Finger rieseln. „Du musst wirklich schreckliche Angst gehabt haben.“, spottete die Frau und nickte ihrem geliebten Gatten gönnerhaft zu. „Sie waren wirklich ein Meisterwerk unserer Kunst.“ Und somit verließen sie das Dunkel. Für heute.
~Mittag. Und es war brütend heiß in jenem Keller. Draußen war Sommer und die Grillen sangen ihr hoffnungsvolles Lied. Priesen ihre Werbung nach Leben in die Welt und fischten verzweifelt nach einem Gegenpart um zu tanzen und dann alsbald zu sterben. Sie waren bedauernswerte Geschöpfe, wie ihre Mutter befand. Getrieben von Lust und Chaos, aber nicht fähig das Ganze zu überblicken, nicht fähig mit der Lust und dem Chaos zu spielen. Dies konnten allein die Menschen. Und nur sie wie sie befand- die edelste unter den Rassen. Was mochte ein Charr mit seinem pelzigen Hirn die hohe Kunst der Mesmerie verstehen? Oder ein klein gewachsener Asura, was verstand er von Schönheit und Lust- außerhalb der ihm gegebenen komplexen Gedankenwelten. Und die Sylvari- selbst zu schön als dass sie nicht Opfer ihrer eigenen Eitelkeit geworden wären. Ja, so dachte ihre Mutter. Und das Mädchen konnte nicht sagen ob diese Worte Wahrheit oder Illusion waren. Sie selbst hatte in ihrem kurzen Leben noch kein andersartiges Wesen gesehen. Außer den Abbildungen in Büchern. Kohlezeichnungen und Kupferstiche. Muster auf Wandteppichen und Gemälde an Wänden. Mehr waren diese Wesen nicht für sie. Illusion.
Die Menschenfrau taxierte ihre Tochter unerbittlich. Im Keller war es ungewöhnlich hell. Flammen glühten in Fackelhaltern an den Wänden. Drei Öfen waren befeuert worden und versengten die Wände und den Raum mit Hitze. Schweiß stand der Kleinen auf der Stirn, rann ihr in dicken, salzigen Tropfen den Nacken herab und zerronn in ihrem teuren, weißen Brokatkleidchen. Die Strümpfe waren aus dicker Wolle. An den Füßen trug sie weiße Lackschühchen mit kleinen weißen Lederblüten verziert.. Das weiße Haar hatte man ihr in dicke Locken gedreht und mit weißen Bändern empor gesteckt. Tausende Nadeln zwickten in ihre Kopfhaut, rieben sich daran und bissen schmerzlich ins Fleisch. Ihre Mutter sagte, das wäre die einzige Möglichkeit, diese grässliche Farbe noch irgendwie schön aussehen zu lassen. Wenn die Familie Besuch bekam, da nutzte sie eine Illusion und aus dem Weiß wurde wieder ein sattes Schwarz, so wie es sich für ein elonisches Kind eigentlich gehört hätte.
Heute war es unerträglich heiß. Silica krächzte förmlich bei jedem Wort, als sie die zitternden Hände hob und den Mann vor sich eine weißliche Paste auf den Körper malte. Worte, elonischen Ursprungs verließen ihre Kehle, die ihr später nicht mehr einfallen würden. Sie zeichnete Runen, die sie hiernach nicht mehr zu lesen verstand. Der Mann vor ihr bebte, denn die Paste war eiskalt. Aufmerksam lag der mütterliche Blick auf dem Mädchen, welches die Worte formte und malte. „Lyssa schenkt uns Lüge und Illusion. Lyssa schenkt uns Chaos. Aber- und das verstehen die Wenigsten- sie ist es auch, welche die Wahrheit am geschicktesten aus der Falschheit zu puhlen versteht. Sie zerreißt die Schleier und webt neue, wenn ihr der Sinn danach steht. Lyssa deckt die Lüge auf. Und sie gibt uns das Werkzeug die Lüge zu drehen und sie zu manipulieren. Lyssa webt aus einer hässlichen Lüge etwas, welches sich schön anfühlt und schön aussieht. Aber deswegen bleibt es eine Illusion.“
Oh, die Mutter war geschickt mit den Silben, während das verängstigte Kind die weißen Zeichen malte. Der Mann auf dem Stuhl vor ihr- ein Diener des Hauses- hing gänzlich entzückt an den fraulichen Lippen und leckte mit den Augen jede Silbe von den sinnlich geschwungenen Polstern. Ihre Frau Mama war durchaus ein erhabener Anblick. Schlank und unnahbar saß sie da auf dem Stuhl, als throne sie auf den Gebeinen der Welt, das Kleid wie immer eng und kosend an ihren Formen. Keine Schweißperle zierte die dunkle elonische Haut. Was für ein Zauber da auch immer gewoben worden war. Das Kind unterdess beendete sein Tun, wischte den verklebten Finger an einem Taschentuch ab und trat einen Schritt zurück, während sie ihr Werk musterte. Ob auch alles richtig war. War jedes Zeichen an seinem Platz? Sie wusste, wenn sie einen Fehler gemacht hatte, so war dieser den Mutteraugen nicht verborgen geblieben. Doch diese schwieg nur, atmete sinnlich ein und schenkte dem Diener die Illusion eines verführerischen Lächelns. „Mach weiter.“
Tiefes Schlucken, als das Mädchen wieder auf ihn zu trat, gekleidet in diesen bauchigen, aufgehübschten Alptraum aus weißem Brokat. Der Unwissende saß breitbeinig auf dem Stuhl, so dass sie bequem dazwischen passte, als sie sich vor ihn stellte. Seine Handgelenke waren an die Stuhllehnen gebunden. Endlich wandte er den Blick von ihrer Mutter ab und richtete ihn auf das Kind. In seinen Augen lag keinerlei Argwohn oder Misstrauen. Ob man ihn wohl zuvor bezirzt hatte? Jedenfalls schien er in dem Kinde keinerlei Gefahr zu vermuten. „Mutter ich beginne jetzt...“, flüsterte das Kind und hob die rechte Hand, zeichnete einen Kreis in die Luft und wölbte drei Worte aus der Kehle. Ein Mantra ward gesprochen, welches dazu fähig sein sollte Entspannung zu liefern und den Geist des Zuhörers zu öffnen. Der Mann vor ihr wurde ganz ruhig, als das Kind- die kleine Schülerin- die Fingerspitzen an die Schläfen des Anderen bettete.
„Ihr seid in einem wunderschönen Garten. Es ist angenehm warm, nicht zu heiß und die Vögel fliegen um euch herum, zwitschern in den Bäumen und singen ihr Lied. Ein Schmetterling umtanzt euch...“ Zu ihrer Freude wendete der Mann das Antlitz, folgte mit den Augen einem unsichtbaren Punkt und lächelte entzückt bei dem 'Anblick' der sich ihm bot. „Weiter.“, drängte die Mutter kühl und das Kind gehorchte. „Ihr seid nun auf einer Lichtung und seht drei Türen.“, sprach sie weiter und fühlte den Schweiß die unteren Wirbel hinab rinnen. „Über der ersten Tür steht Macht. Über der zweiten Tür steht das Wort Gold und über der dritten Tür steht Lust. Eine davon wirkt besonders anziehend auf euch... welche durchschreitet ihr?“, fragte sie und allmählich wurde das Stimmchen zittrig, gar ängstlich. Diese Geschichte hatte sie sich nicht in dieser Art ausgedacht. Die Prüfung sollte anders verlaufen... Im Hintergrund hörte sie den Nagel der Mutter auf die Stuhllehne trommeln. Der Diener vor ihr wurde unruhig. Das Kind schloss die Augen, war nun selbst Teil dieser Lichtung und der Türen. Sie sah ihn neben sich stehen wie er auf die Pforten starrte und schluckte. Er schluckte schwer, doch konnte er sich nun nicht mehr weigern. Er trat auf die Tür zu in deren Kopfrahmen das Wort: Lust, in goldenen Lettern eingraviert worden war. Als er sie öffnete, zitternden seine Finger. Dahinter starrten ihn die panischen Augen einer jungen Frau an, gebunden, geknebelt und über Kopf aufgehängt. Das Kind schrak vor dem geschaffenen Bildnis zurück, stolperte vor dem Mann auf dem Stuhl zurück und wäre fast gefallen. Ihre Mutter hatte sich erhoben und betrachtete den Burschen aus gefährlichen Augen. „In diesem Haus gibt es keine Geheimnisse. Egal wie schmutzig und klein.“, sprach die Frau gelassen und kühl zu jenem Mann, der in seinem Geiste immer noch in der Illusion gefangen war. Das Mädchen fasste in verzweifelter Manier nach dem Rock der Mutter. „Mutter, bitte holt ihn zurück!“
Eine Hand bettete sich sanft und zärtlich auf den Schopf des Kindes. „Dieses Haus bleibt frei von Laster und der Schwäche und Hässlichkeit der menschlichen Gelüste. Lyssa lehrt uns das Durchschauen, das Spielen und das Wiederstehen. Dieser Mann ist schwach, mein Kind. Aber gräme dich nicht. Schau, du selbst hast sein Urteil gefällt.“
Dabei deutete sie auf eine der weißen Runen auf seiner nackten Haut. Silicas Schweiß oder die feuchten Kuppen mögen den Bogen der Rune nicht recht ausgeführt haben. Die hellen Augsterne des Kindes weiteten sich entsetzt. „Mutter?“ Als sie empor blickte, da lächelte die Frau Mama in gütiger und stiller Manier. Sie hob die Hand und zeichnete einen Kreis in die Luft. „Wahrheit.“ Die Runen auf dem dunklen Leibe des Dieners begannen wohl zu prickeln, denn die Kleine konnte sehen wie er sich seicht wand. „Entscheidung.“, sprach die Elonierin die nächsten Laute. Kleine Rauchsäulen stiegen plötzlich von den Runen auf, da ihre Anordnung nicht stimmte und das Mantra somit eine falsche Wirkung hervor rief. „Nein Mutter, bitte, hört auf, ihr zerstört es! Ihr zerbrecht ihn!“, flehte Silica und sank vor ihr auf die Knie, weinte und bebte, während die Schmerzensschreie des Dieners in ihren Ohren dröhnten. Ihre Mutter beugte sich und griff ihr grob in das weiße Haar, zerrte sie empor, wieder auf die Beine und zwang sie hinzusehen. „Schau hin, was geschieht, wenn du nicht ordentlich arbeitest! Seine Strafe ist die Deine: Rückkehr!“, beendete sie das Mantra und der Diener bäumte sich mit einem hilflosen, letzten, entsetzten Schrei der Qual auf, als das Licht in seinen Augen brach und der Kopf unwillkürlich seitlich kippe, der Mund halb geöffnet, so dass der Geifer aus seinem Mund rann und seinen Oberleib benetzte. Er war nicht tot. Nur sein Verstand war unter der Belastung zerbrochen und geschmolzen wie heißes Eisen. Die Mutter schnitt ihn mit einer kleinen Klinge, welche sie stets im Ärmel versteckte, los. „Geh nach oben und wisch die Dielen.“, befahl sie streng und die Hülle erhob sich schwankend und wanderte ohne ein Wort empor, der Kopf noch immer grotesk geneigt als lauschte er einer Musik, die nur er hören konnte, die weißen Runen waren zu braunen, stinkenden Brandmalen verkümmert, aus denen teilweise Blut quoll.
Das war zu viel.
Das Kind stürzte weinend auf die Knie und erbrach sich in ihren Schoß, in das sündhaftteure, weiße Brokatkleidchen, entleerte sie ihren Magen. Ein zarter, mütterlicher Fingerstreich fuhr ihr derweil durch die weißen Loden und spielte daran.
„Mal sehen ob du es morgen, bei seinem Mädchen, besser machst, mein Schatz.“ Schwarz zu weiß.
~Sein Name war Aruzh. In der üblichen Mittagshitze, wurde der kleine, aber penibel eingerichtete Salon zu einem Brutkasten. Die schweren Vorhänge waren zurückgezogen und die Strahlen der Sonne glitten wie heiße Messer durch das Mosaikglas der Fenster. Das Leder des Sitzmobiliars begann förmlich zu dampfen. Es roch markant nach wildem Tier, Holzpolitur und Büchern. Schwer, dunkel und süß, wie eine Jungfrauennacht.
Er hieß Aruzh und er war ihr Bruder. Bis zu diesem Tage wusste sie nicht einmal, dass sie einen Bruder hatte. Sie war junge zwölf, als Mutter und Vater die tägliche Tortur im Keller ausfallen ließen, um das Kind in ein weißes Puppenkleid zu stecken und ihr Schleifchen in das hässliche, weiße Haar zu binden. Man brachte sie in den Brutkasten und setzte sie gegenüber dieses jungen Mannes, der damals Anfang zwanzig gewesen sein musste. Groß, dunkel, gutaussehend. Sein dunkelbraunes Haar, leuchtete im Licht der Sonnenstrahlen kupfern. Sein Bart war vornehm gestutzt und sein Leib in teure Stoffe gehüllt. Bequem saß er auf der Chaiselongue, ein Bein eingeschlagen, ruhte der stiefelumhüllte Knöchel auf dem Knie des anderen. Ein Arm lag gönnerhaft auf der Lehne des Sofas. Weiß behandschuhte Fingerkuppen trommelten auf das Leder. Die andere Pranke umfasste den zerbrechlichen, durchscheinenden Hals eines Kristallkelches, in welchem roter, süßer Wein brandete. Er nippe daran, hin und wieder, während sein eisiger Blick auf dem Mädchen lag, welches man ihm zum Fraß vorgeworfen hatte. Nur ein flacher Tisch trennte ihn und sie. „Das ist sie also.“, sprach er rau und nonchalant. Ein Lächeln umspielte den linken Mundwinkel. Herablassend tasteten die blauen Iriskreise des Mannes über den weißen Haarschopf seiner Schwester, über das noch pausbäckige Antlitz, den Hals hinab, über die langsam gedeihenden Rundungen ihrer Brüste und den in teure Lagen Tüll gezwängten, restlichen Körper. Sein Blick spielte mit den Bändchen an ihren Strümpfen und provokant schnaufte er auf, als er die weißen Lackschuhe an ihren kleinen Füßen begutachtete, die zitternd auf dem Boden harrten. Unruhig scharrten sie, wie flinke Mäuse, welche den Käse in der Falle witterten. Er hob nur träge den Blick gen Eltern, die sich hinter dem Kind aufgestellt hatten. Vaters Pranke ruhte auf der Rückenlehne des winzigen Sofas. Mutter war wie stets ein adrettes Bild herzloser Einzigartigkeit.
Er hieß Aruzh, er war ihr Bruder und schon jetzt hasste er sie. Sie konnte es an seinen Augen sehen. An der Art wie sein Blick ihre bebende Kehle taxierte, als währe es ihm eine Freude diese mit bloßen Fingern zu zerdrücken, bis der Kehlkopf unter seinen Händen sich nach innen stülpen würde und sie somit jämmerlich erstickte. An ihrem eigenen Blut. Ja, sie war jung an diesem Tag. Aber sie hatte auch schon zu viel gesehen um nicht zu wissen, was diese Augen bedeuteten. Sie kannte diesen Blick und die Angst war ein vertrautes Nest in ihrem Magen geworden. Es war ihr fast ein bekannter Freund, mit welchem sie lernen sollte zu spielen und ihn zu lieben. Sie wusste, sie sollte lernen die Angst zu verführen und in ihre Waffe zu wandeln. Sie sollte die Angst zu ihrem Geliebten machen. War er deswegen hier? Das Mädchen hob zitternd den Blick, sich der strafenden Gegenwart ihrer Eltern nur zu bewusst. Kalt lief es ihr den Rücken hinab, während sie ihn ebenso taxierte, wie er es bei ihr tat. „Das ist sie.“ Es lag kein Stolz in der Stimme der Mutter. Nur eine nüchterne Feststellung. Der Blick der Vaabiblütigen ruhte auf ihrem Sohn, der keine Miene verzog und doch konnte das Schlohhaar entdecken, wie sich blanker Hass durch seine Augen bewegte. Er manifestierte sich zu einem eiskalten Lodern, ein blaues Feuer, welches alles zu verschlingen drohte. ~Verschlinge mich, so dachte sie. ~Nimm mich mit aus dieser Welt. Reiße mich fort und verbrenne mich zu Asche! Denn nichts gab es, was sie in diesem Leben noch hielt, außer der schlichte Überlebensinstinkt. Oh, sie und Aruzh sie waren kümmerliche Geschöpfe. Er selbst eine perfide Ausgeburt an Talent. Hochbegabt in allem was er tat. Ein Mesmer, der die Kunst des Vaters bei weitem übertraf und auch die der Mutter alsbald überholen würde. Und doch war er nichts in den Augen seiner Eltern. Nur ein Klumpen Fleisch, ausgespien aus dem Schoß seiner Mutter. Nicht einmal der wirkliche Sohn ihres Vaters. Nur der Bastard einer kontrollierten Leidenschaft. Ja, natürlich liebte die Mutter viele Männer. Sie spielte mit ihnen und sie nahm sich jene, die gute Gene versprachen. Aruzh war ein wertvolles Werkzeug. Von einem guten 'Spender' gezeugt. Silica wusste nicht einmal, ob der Vater nicht einer der Männer war, die hier im Haushalt arbeiteten. Einer der armen gebrochenen Seelen. Aruzh, ihr Bruder. Nicht einen Speicheltropfen so viel wert wie sie es war. Und das Kind verstand nicht warum. Warum musste sie sich quälen, wenn es doch ihn gab? Warum musste sie leiden, erlernen was sie nicht konnte- wo er es doch perfekt beherrschte? Er war älter als sie. Herzloser. Kälter.
Doch er war auch ein Mann.
Mutter lächelte dünn, als sie das Sofa langsam umrundete. Die Hüften wogten weder sinnlich noch überreizend und doch umhüllte sie eine wortlose Aufforderung. Lyssa war eine Frau. Ilya ebenso. Und damit war es bestimmt, wer allein Erbe des Hauses sein konnte. Erbe des Kartells. Und damit war beschlossen, dass er nicht eher ruhen würde, bis sie tot wäre. Er war nichts wert. Weniger wert als Abfall. Und er schien nicht zu begreifen, dass seine Schwester ebenso nichts bedeutete. Sie wurden dressiert wie die Schoßhündchen. Aufgehübscht, dem persönlichen Spieltrieb ausgeliefert und dem Chaos des Wahnsinns, den ihre Eltern trieben. Wahnsinn! Nicht mehr als dies. Aber ihre bittenden Blicke, ihre wortlos geformten Hilferufe blieben von ihm ungesehen. Unbemerkt oder ignoriert, denn er sah sie reaktionsfrei an mit diesen alles verschlingenden Augen, ehe er wieder den Blick zu ihren Eltern hob. „Sie ist bezaubernd. Ein liebreizendes Geschöpf. Ein kleiner, süßer Vogel.“, heuchelte er und der Wohlklang seiner Stimme war verführerische Verlockung. Das Kind wollte ihm dies glauben. Oh, zu gerne hätte sie sich der Illusion hingegeben, dass dieser Mensch dort sie liebte. Dass er sie gern hatte, so wie es in einer Familie doch normal gewesen wäre. Ihr Bruder! Von ihrem Fleische und ihrem Blute!- es bedeutete nichts. Was in dieser Welt, in diesem Haus zählte war etwas anderes. Hier folgte alles den stummen Regeln ihrer Eltern. Hier zogen sie die Marionettenfäden und er hing ebenso an diesen wie sie. Er noch williger als jeder Andere in diesem Kartell. Vermutlich glaubte er, dass er frei wäre. Doch selbst das kleine Kind verstand, wie dumm er dieser Illusion erlegen war. Denn er spielte das Spiel willig mit. Er suhlte sich in der Lüge der Unabhängigkeit, dachte dass er das Chaos an sich riss und es entsprechend verdrehte, wenn er seine Schwester und die Erbin des Kartells hasste und ihr irgendwann ein heimliches Ableben bescherte. Doch all dies war nur Trug. Sie wusste das, als sie nun den Blick abwandte und aus dem Fenster sah, durch welches Sonnenstrahlen tänzelten und flirrenden Staub wie Goldfunken glitzern ließen. Sie beobachte das hübsche, gar wunderschöne Spiel und schluckte die bittere Galle in ihrer Kehle neuerlich hinab, während der Taft und Tüll des weißen, neuen Brokatkleidchens gerichtet wurden. „Ja, sie ist unser kleines Juwel.“, bestätigte die Mutter in ihrer eisigen Kälte und eine leblose Hand streichelte ihr durch die weißen Locken, die von Aruzh nur einen höhnischen Blick kassierten. Herablassend und arrogant verspottete sein Blick das dumme Mädchen, welches in ihrer Angst binnen weniger Stunden ergraut war. Sie selbst musterte noch immer blicklos den Tanz des Lichtes. „Lyssa hat sie offenkundig nicht mit den ausgeprägtesten Künsten gesegnet. Doch kommt es darauf an, was man daraus macht. Nicht wahr?“, spottete die Mutter weiter. Aruzh schnaubte nur amüsiert. „Gewiss. Wenn sie alt genug ist, zählt nicht wie sie aussieht... es zählt wie sie mit dem umgeht was sie hat. Auch wenn es beileibe nicht viel zu sein scheint. Aber vielleicht wird das was sie präsentiert und das was sie zwischen ihren Schenkeln mit sich herum trägt, den Mangel an Talent wieder wett machen?“ Der Bruder lachte und das Kind spürte, wie die Hand ihrer Mutter sich in ihrem Haar verkrallte, wie sich Nägel schmerzhaft in ihre Kopfhaut gruben, so dass sie wimmernd aufstöhne und sich zu lösen versuchte. Aruzh beobachtete dies mit stillem Vergnügen, kostete seinen Wein und warf nun selbst einen Blick auf die brechenden Lichtstrahlen. In seinen Augen lag keinerlei Erkenntnis über die Schönheit dieses Anblicks.
Er war ihr Bruder. Das wusste Silica. Und irgendwann- und das wusste sie auch mit Sicherheit- würde er sie töten wollen. Doch nicht heute. Noch hatte sie Zeit. Schwarz zu weiß.
~Er drängte sie mit der flachen Hand zurück in den Schutz des Nischenschattens und gebot ihr in einer stummen Geste still zu sein. Und sie gehorchte. Sie hielt den Atem an, während die vor Panik geweiteten Augen ins Duster starrten, in der zweifelhaften Hoffnung etwas zu erkennen. Sie wusste nicht, was er gehört zu haben glaubte, doch nun war da nichts mehr. Und doch wagten sie eine lange Zeit nicht auch nur zu atmen.
Als er sich vorsichtig vorbeugte, so dass er um die Ecke spähen konnte, schlug ihr das Herz bis zum Halse. Doch auch dort schien nichts gewesen zu sein, denn allmählich löste er sich aus dem Schatten, wagte einen vorsichtigen, tastenden Schritt nach vorn, während er mit den Fingern ein Zeichen machte, dass sie dicht bei ihm bleiben sollte. Und wieder gehorchte Silica allzu gerne. Ihr Kopf war leer gefegt von Angst und Panik. An nichts konnte sie denken. Keine Entscheidung konnte sie wählen- lediglich die dunklen Finger in das Bündel krallen, welches sie bei sich trug.
In jenem Leinen eingewickelt fand sich Unterwäsche zum Wechseln und eine Bürste. Einen leeren Trinkschlauch hatte sie ebenso dabei. An irgendeinem Brunnen in der nächstbesten Stadt würde sie ihn schon füllen können. So war ihre Hoffnung. Doch allzu viel Balast mitzunehmen wagte sie nicht.
Wieder glitt ihr Blick zu ihm, ihrer letzten Hoffnung. Ein junger Kammerdiener, neu im Hause der Familie. Ein hübscher, mitte-zwanzig Jahre alter Bursche, mit reinem Herzen und guter Seele. Ohne Fehl und Tadel war er- der einzige Grund, dass die Mutter sich ihm noch nicht in brechender Manier gewidmet hatte. Sonst wäre er längst eine seelenlose Hülle, wie die Anderen. Doch wusste Silica, dass auch ihn dieses Schicksal erwartete. Irgendwann taten sie es immer und sei es nur aus Furcht, die Dienerschaft könnte etwas nach außen tragen. Spätestens Übermorgen, nach dem großen Treffen der Zunft wäre er dran gewesen, das wusste Silica. Und weil sie ihn mochte, er ihr ein Lächeln geschenkt hatte und ihr einmal ein Taschentuch gereicht hatte, als sie still vor sich hin weinte- deswegen weihte sie ihn in die Schrecken dieses Hauses ein. Den Grund hinter den stummen Dienern mit den leeren Augen. Und er hatte ihr geschworen sie zum Dank hinaus zu bringen. Koste es was es wolle.
Und heute war es soweit. Die Eltern waren aus, auf irgendeiner öffentlichen Veranstaltung die es notwendig machte, dass sich Leute wie sie dort zeigten. Zurück blieben nur die dressierten 'Hunde'. Jene Diener, die zugleich Leibwächter und Foltermeister waren.
Als die schwere Standuhr im Flur unten die zehnte Stunde schlug, hatte er ihr Zimmer aufgeschlossen- die Götter allein wussten, wie der Junge an den Schlüssel gekommen war- hatte ihre Hand genommen und sie hinaus geführt.
Nun war es halb elf und sie erreichten gerade einmal den untersten Korridor, so sorgsam bewegten sie sich durch die Gänge. So beflissen achtete der Jungspund darauf, dass sie nicht entdeckt werden konnten. Und Silica wusste nicht einmal seinen Namen.
Vorsichtig setzte er die Schritte über das dunkle, geölte Parkett und nahm sie bei der Hand um sie mit sich zu führen. Das Weib presste sich dabei ängstlich gegen seinen Rücken, folgte schweigend und still wie ein Mäuschen Schritt um Schritt. Nur kein Knarzen, kein Poltern. Sie wünschte sie wäre mächtig genug gewesen um eine Illusion zu wirken, die jedwedes Geräusch schlucken würde. Ihre Mutter hätte es gekonnt. So aber mussten sie sich lediglich auf ihre Augen und ihre Achtsamkeit verlassen. Wieder ein Gang, den sie hinter sich ließen, als eine Tür unmittelbar in ihrer Nähe aufschwang.
Kein Fluch brach über seine Lippen, nicht einmal eine Andeutung von Hilflosigkeit oder Schock. Fließend als wäre er selbst ein Schatten, zog er sie wieder in das Dunkel einer Nische, drängte ihren Körper in diese Ecke und schirmte sie beide mit dem Seinen ab. Die dunklen Kapuzenmäntel, welche sie trugen, ließen sie mit dem Schwarz verschwinden. Und zumindest hier konnte die Elonablütige ein wenig nachhelfen. Aus der Tür selbst, trat der schwarzhäutige Schrank eines Dieners, der schon ein paar Jahre im Dienste ihrer Eltern war. Einer jener Diener, den man Trieb und einen Funken Intelligenz oblassen hatte, um ihn somit noch gefährlicher und brauchbarer zu machen. Einmal hatte Silica beobachtet, wie ihre Mutter ihn dereinst zu sich und ihren Vater ins Schlafzimmer geholt hatte. Zwei Tage später zierten unendlich viele Schnitte seinen Leib, die mit perverser Leidenschaft oberflächlich in die Haut geritzt worden waren. So dass er Schmerzen gehabt haben muss, aber nicht schwer verletzt wurde. Dieser Mann war ein gefährliches Spielzeug der beiden Mesmer. Und er bewegte sich träge und mit leerem, starren Blick auf sie zu. Silica blieb das Herz stehen. Heftig sog sie den Atem ein, weil sie die Luft nicht mehr anhalten konnte in wachsender Panik und sogleich bettete sich die Hand des Burschen über ihren Mund und ihre Nase.
Der Diener kam näher. Langsam. Schlurfend. Keine Regung lag auf den dunklen, harten Zügen. Silica schwindelte ob des Luftmangels. Unter der Hand des Anderen verdrehte sie die Augen in wachsender Hilflosigkeit und spürte die tröstliche Nähe seiner Stirn an der ihren. Sie wusste was er ihr damit sagen wollte. Gleich war er vorbei. Gleich hatten sie es geschafft. Und nach unendlichen Herzschlägen war wieder eine Tür zugefallen und sie allein in diesem Flur.
Tränen brannten der jungen Tochter des Hauses in den Augen, doch er nahm die Pranke von ihren geschwollenen Lippen und fasste nach ihrer Hand. Lautlos zog er sie wie ein sicherer Anker gen Eingangsbereich. Mit geschickten Fingern vollbrachte er die Unmöglichkeit, die schwere Eichentür des Eingangs aufzustemmen ohne dass sie knarzte und quietschte.
Draußen war es finstere Nacht. Herbstregen hatte die Luft feucht gemacht und dunsiger Nebel zog über das Land und die Gassen und Häuserecken des nahen Dorfes. Tranlampen flackerten bollernd in der Nachtluft. Hier und da war das Geräusch eines zuschlagenden Fensterladens weithin zu hören. Doch vom Dorf selbst lag das Anwesen weit genug entfernt, so dass nie jemand Verdacht schöpfte ob der Umstände, die hinter der Mauern herrschten. Silica stöhnte lautlos auf, trat die Stufen des Portals hinab und versenkte die Füße im Kies der Freiheit. Sie hatten es geschafft!
Lautlos schloss der Bursche die Pforte hinter ihnen und schenkte ihr unter der Kapuze hindurch ein strahlendes, erleichtertes Lächeln.
Hastig gingen sie weiter, hasteten den Kiesweg entlang gen schmiedeeisernen Gattertor, welches das Grundstück von der Straße abschnitt und zu beiden Seiten mit einer meterhohen Hecke umspannt war. Schwarzpetrol glänzten die fleischigen Blätter des Buschwerks im Licht der Tranlampen. Sie wagten sich nicht daran das Gatter zu öffnen, so half er ihr über die Hecke, formte mit den Händen eine Räuberleiter für sie und als sie oben war, fasste sie hinab um nach seiner Hand zu greifen und ihn ebenso hinüber zu helfen.
Sie konnte nicht einmal mehr schreien.
Schwer und gnadenlos lag der Arm des gebrochenen Eloniers um den Nacken des Burschens geschlungen, der sie mit angstgeweiteten Augen von unten herauf anstarrte. Der dunkle Mann überragte den Burschen fast um zwei Köpfe. Noch immer hatte Silica die Hand nach ihm gereckt, als glaubte ein irrwitziger Teil in ihr doch tatsächlich, dass ihre Augen ihr einen Streich spielten. Doch es war kein Streich. Und wenn doch- ein bitterböser.
Die Augen des Eloniers waren leer und kein Zucken ging durch die Miene des Kerls als er die andere Hand gegen den Kopf des Kammerdieners drückte, noch ehe dieser Schreien konnte. Einen Genickbruch konnte man das was geschah nicht nennen. Vielmehr riss er dem Anderen den Kopf dabei halb von den Schultern, so dass der Leib nicht nur erschlaffte, als er zu Boden sank, sondern sich auch roter Blutquell über den Kies ergoss, den sie schlichtweg umharken würden, ehe der Morgen graute um den Mord zu vertuschen. Eiseskälte befiel sie und ließ sie zittern. Der Gebrochene reckte die Pranke nach der Ihren, noch immer ausgestreckten. Silica begriff gerade noch im rechten Moment. Mit einem mitleidserregenden Laut wich sie vor dem halben Riesen zurück, stürzte von der Hecke hinab auf das Kopfsteinpflaster und stöhnte bitter auf. Galle lag in ihrem Mund. Tränen brannten in ihren Augen. Doch ihre Beine funktionierten wie von selbst. Das Bündel war vergessen. Sie rannte einfach nur. Sie rannte. Und rannte. Wie ein gehetztes Tier rannte sie davon, verließ blindlinks die Straße, strauchelte über Wiesen, taumelte durch lichte Wäldchen, ganz gleich ob ihr Büsche und tiefhängende Äste von Bäumen das Gesicht und die Haut zerkratzten.
Sie lief und lief.
Als Sumpfwasser in ihre Stiefel gesogen wurde, lief sie einfach weiter. Um sie herum war es voller Gefahren, doch sie war allein und hielt sich an keinen Weg. Wie durch ein Wunder entging sie Räuberbanden und auch Wildtieren und Zentauren. Und als sie vor Götterfels auf die Knie sackte, nach unendlich vielen Tagen des Laufens und der Rastlosigkeit, erbrach sie sich weinend, während sie die Wange an die wunderschöne und starke Mauer presste, welche diese Stadt umschirmte und auch sie beschützen würde, sie in ihren Mantel der Vergessenheit hüllen würde. Da war sie sich sicher. Sie hatte es überstanden- sie war entflohen. Sie war frei! Schwarz zu weiß.