Lesewarnung
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Gesine stöhnte, und der Apostat zog eine Grimasse. Sie zu verführen war leichter gewesen als er angenommen hatte. Umfassend betrachtet funktionierte seine Taktik ein ganzes Stück besser als ihm angenehm war. Aber was man einmal anfing, das brachte man besser auch zuende. Die Nacht war noch jung. Er stieß auf etwas Hartes in den Ritzen des Sofapolsters, und Momente später hielt er mit spitzen Fingern einen angelaufenen Kupferling ins Licht. Seufzend stopfte er die Münze zurück und stand dann auf, langsam und vorsichtig. Sie bewegte sich neben ihm, flüsterte seinen Namen. Ihre Lippen teilten sich immer wieder in begierigen Atemzügen, und die Augen bewegten sich rastlos unter geschlossenen Lidern. Selbst im Schlaf war sie noch voller Lust. Der Apostat wandte sich ab von ihr, von den Weingläsern auf dem Wohnzimmertisch, und überließ die Witwe ihren brünstigen Träumen.
In den Kommoden fand er eine Menge unbrauchbaren Ramsch. Teure Schals und Handschuhe vor allem, eine Schublade voller Schmuck, teils sogar juwelenbesetzt. In einem der größeren Fächer stapelte sich frisches Papier zusammen mit allerhand Zeichenutensilien. Wie zu erwarten sparte Gesine Füchslein nicht an persönlichem Luxus. Ihre Überheblichkeit im Laden barg bisweilen einen gewissen Reiz, zugegeben; Zeitweise hatte er seine Fähigkeit angezweifelt, im Falle eines Mahlheurs am Plan festzuhalten. Aber es war alles glatt gelaufen, und er wandelte jetzt auf neuen Pfaden, mit neuen Prinzipien. Seine alten lebten bereits weiter in Gestalt von Madelaine, die jeden Tag aufs Neue im Schatten ihrer Meisterin stand. Sie erinnerte ihn sehr an sich selbst, an seine eigenen Tage als graue Maus im Schatten eines grellbunten Tyrannen. Er grübelte noch immer darüber, wovor die junge Assistentin sich so fürchtete, dass sie selbst bei der Vorstellung bleich wurde, mit ihm ein Bier trinken zu gehen. Dieser Test war durchaus aufschlussreich gewesen. Es war naheliegend, dass Gesine etwas gegen sie in der Hand hatte. Und heute Nacht würden die Rätsel ein Ende finden. Zumindest hoffte er das.
"Mein dunkler Engel..", stöhnte Gesine. Ruckartig sah er über die Schulter, aber sie lag nur da und räkelte sich. Lasziv, aber kein Stück wacher als zuvor. Er grimassierte wieder. Es wäre ein Leichtes gewesen, sie nun zum Schweigen zu bringen. Seine eigene Schmach zu ersticken. Aber das war nicht sein Weg. Das war er noch nie gewesen. Er war hier für Antworten, nicht für noch mehr Blut.
Der Apostat ging hinüber zum Bücherregal. Er war nur zu dankbar für den weichen, zierreichen Teppichboden, der seine Schritte dämpfte. Gesines Lektüre war so erwartungsgemäß wie all seine bisherigen Funde. Ganze Bände über Modegeschichte reihten sich aneinander, von modernen krytanischen Schnittmustern über Traditionelles aus Ascalon bis hin zu dicken Wälzern über canthanische Adelsmode von vor über einem Jahrhundert. Daneben, ganz am Rande, führte ein altes Gebetsbüchlein ein bescheidenes Schrumpfdasein. Er griff danach und begann lose zu blättern, mit Verunstaltungen rechnend, aber es war Nichts ungewöhnliches zu entdecken. Nur fromme Bildchen und noch frommere Gebete an die sechs wahren Götter. Der Apostat fragte sich, wieviel Wahrheit an diesen Göttern wirklich war. Sie waren nicht die Götter, denen er abgeschworen hatte - doch wenn man jüngsten Enthüllungen Glauben schenken wollte, dann war der Übergang zwischen beiden Göttergruppen dieser Tage ziemlich fließend. Es war noch nicht allzu lange her, dass er über Margoniter gelesen hatte, die dem dunklen Gott Abaddon abtrünnig wurden und seinen Feinden halfen. Daraus hatte er Inspiration bezogen. Ketzer. Blasphemiker. Ungläubiger. Das waren harte Worte. Worte, in denen Hass steckte. Apostat hingegen, das hatte diesen gewissen Hauch von Würde. Von Perspektive, vielleicht. Worüber das Buch nie gesprochen hatte, das fiel ihm rückblickend auf, waren die neuen Überzeugungen der Abtrünnigen.
Er stellte das Gebetsbuch zurück und klopfte testend gegen die Rückwand des Regals, doch Nichts. In den Kommoden hatte es keine doppelten Böden gegeben, dessen war er sich äußerst sicher. Vorsichtig sank er auf die Knie und blickte unter die Möbel, doch auch hier fand er nur Leere vor. Nichtmal eine Spinnwebe war zu entdecken. Gesine hatte eine gründliche Putzfrau. Der Apostat war sich ziemlich sicher, dass diese Putzfrau Madelaine hieß.
Die obere Hälfte der Wände war holzvertäfelt, und daran hingen gerahmte Zeichnungen. Allesamt Modeentwürfe, wie ihm nun auffiel. Er hatte gründlich darauf geachtet, die Augen nicht von Gesine zu nehmen, bevor er nicht mit ihr fertig war. Er nahm die Bilder behutsam von den Nägeln und drehte sie um, eines nach dem andren. Zu seiner Enttäuschung fand er auch hier keine Verstecke, dafür aber Widmungen in Gesines Handschrift, auf der Rückseite jedes einzelnen Bilderrahmens. Die meisten Namen waren ihm fremd, aber als er den Entwurf eines luftigen Damenkleides herumdrehte, schlich sich ein zufriedenes Grinsen in sein Gesicht. Lady Charity Cochrane.
Schlampig, Gesine, schlampig.
"Bitte-", keuchte sie, "-gib' ihn mir... Ja! Heilige mich, mein dunkler Engel.."
Seufzend hängte er das Bild wieder an seinen Platz.
Der Wohnzimmertisch war sauber, die Anrichte ebenso, also begann er schließlich mit höchster Vorsicht die Wände abzuklopfen. Er blinzelte erstaunt. Sein Pochen klang sofort hohl. Testweise klopfte er erneut, aber als er es einige Handbreiten weiter rechts erneut versuchte, war das Geräuch identisch. Schließlich senkte er die Knöchel und pochte vergleichsweise an die verputzte Wand unterhalb der Holzleisten. Solide. Ein Blick hinaus in den Flur bestätigte den falschen Alarm; die Wände waren nicht besonders dick. Er nutzte die Gelegenheit, um auch die Bilder im Flur zu überprüfen. Ölgemälde diesmal. Eines davon zeigte eine jüngere Gesine an der Seite eines korpulenten Brokatträgers mit Zylinder und Monokel. Ottokar Füchslein war wahrlich nicht der Schlankste gewesen, und auch wenn der Maler vorteilhaft gearbeitet hatte, konnte man doch gut erahnen, dass der stolze Bart dieses Mannes zu Lebzeiten ein leichtes Doppelkinn verborgen hatte. Ich werde dich niemals vergessen, stand in Gesines Hand auf der Rückseite. Der Apostat hatte begründete Zweifel an diesem Gelübde.
Den Schuhschrank ließ er unüberprüft. Dafür würde immer noch Zeit sein, wenn er das restliche Haus durchsucht hatte. Er trat zurück ins Wohnzimmer. Was könnt' ich übersehen haben? Die Blumenvasen. Er schritt sie nacheinander ab. Fuhr mit den Fingern die Innenseiten nach. Lupfte vorsichtig die Sträuße. Ließ den Inhalt hin und her plätschern. Aber es war Nichts da. Das machte ihn zusehends unruhiger.
Gesine bekam von alledem nicht das Mindeste mit - ihr bewegter Schlaf war für ihn allmählich nervenzehrend, doch er schien allen Widrigkeiten zum Trotz äußerst tief zu sein. Also blendete er ihre tranceartigen Lustbekenntnisse aus, steuerte die Tür zum Wohnbereich an und ließ sie hinter sich offen stehen, um ein halbes Ohr bei der Witwe zu behalten.
Offensichtlich war Gesine keine große Köchin. Ihre Küche war mickrig und sah nicht aus als wäre sie je auch nur in Betrieb gewesen. Sie hatte nicht einmal Brot im Schrank, nur ein paar Nüsse und getrocknete Apfelringe. Das erstaunte ihn nicht. Sie ließ sich jeden Morgen belegte Brötchen ins Geschäft bringen, frisch vom Bäcker. In, auf und unter den Küchenschränken fand sich wie bereits zu erwarten kein brauchbarer Anhaltspunkt. Er überwand sich, den Abort ebenso überprüfen, und kam nicht klüger heraus als er hineingegangen war. Lediglich dankbar dafür, dass Gesine Wert auf Duftmittel legte. Im Badezimmer fand er eine große, zentral gelegene Wanne vor. Und ein halbes Dutzend Spiegel, die allesamt auffällig auf die Raummitte ausgerichtet waren. Einer davon hing an der Decke. Götter, hat es je ein größeres Ego gegeben? Er kramte sich durch die etlichen Duftwasserfläschchen, Cremetiegel und Puderdöschen auf dem Schminktisch, und verließ den Raum in größerer Weisheit über die Myriaden kosmetischer Überflüssigkeiten, die diese Welt produzierte.
Schließlich kam er im Schlafzimmer an. Es empfand es als beunruhigend, dass das fluffige Himmelbett noch immer säuberlich für zwei Personen gemacht war. Ein Paar ungenutzter Herrenhausschuhe stand fein säuberlich neben der ungenutzten Seite auf dem Teppichboden. Auf dem Nachttisch brannte bereits eine Öllampe. Im angrenzenden Büro eine weitere. Einen Moment lang stand ihm das Herz still; Aber es war Niemand hier. Offenbar Gesines Werk. Direkt neben der Tür entdeckte er ein weiteres Bücherregal, das förmlich überquoll mit weiterer Modeliteratur. Schon im Abwenden begriffen, um zunächst die Kommoden und Kleiderschränke zu prüfen, entdeckte er weiter oben einen weiteren Satz vollkommen anderer Bücher. Eines davon, mit dem Titel Innovationen des krytanischen Ackerbaus zog er heraus, schlug es auf und blätterte flüchtig darin. Wie sich herausstellte, handelte es sich um Fachliteratur über Ingenieurskunst. Er entdeckte allerhand Entwürfe und Modelle für Wassersprenkler und enorme Pflugmechanismen und Geräte deren Zweck sich ihm nicht erschloss. Hinter jedem zweiten Bild waren mit furchtbarer Sauklaue handschriftliche Notizen ins Buch gekrakelt, und viele der vom eigentlichen Autoren vorgeschlagene Baupläne waren geradewegs durchgestrichen oder mit Kohlestift modifiziert worden. Er stellte es zurück, griff sich per Zufallsprinzip das nächste Buch und entdeckte nur noch mehr vollgekritzelte Abbildungen über landwirtschaftliche Apparaturen.
Das technologische Gefasel warf lediglich Fragen auf, und so ließ er das Regal hinter sich. Gesines Kommoden waren förmlich vollgestopft mit Reizwäsche, die sie ohne Zweifel selbst geschneidert hatte. Er musste sich eingestehen, dass die Sachen ansprechend aussahen, aber er war gewiss nicht hier um sich mit Zerstreuung aufzuhalten. Ein Stück weiter unten stieß er auf eine glatt polierte, phallusförmige Holzschnitzerei samt einer Tube voll Fischöl, und schob die Schublade rasch wieder zu. Und dann, endlich, hielt er Gesine Füchsleins Tagebuch in den Händen. Nur um festzustellen, dass es mit einem kleinen, aber robusten Stahlschloss versiegelt war. Seine Dietriche würden einen so feinen Mechanismus nicht knacken, und stumpfe Gewalt hinterließ zu viele Spuren, also arbeitete er sich erneut durch alle Schubladen durch, sowohl mehr als auch minder freiwillig. Er hatte Glück und fand den Schlüssel in einem kleinen Säckchen unter einem sorgfältig zusammengefalteten Spitzenschlüpfer zwei Schubladen weiter oben. Das kompakte Schloss öffnete sich mit filigranem Klicken, und der Apostat begann zu lesen.
Gerechnet hatte er mit blumigem Geschwafel, doch was er vorfand kam erstaunlich rasch zur Sache. Es kostete ihn nicht viel Zeit, um zu bemerken dass Gesine ein Mensch war der nur dann Tagebuch führte, wenn es ihm gerade herausragend schlecht ging. Ihre frühesten Einträge waren gut fünf Jahre alt. Er blätterte überfliegend durch die Seiten, auf der Suche nach Anhaltspunkten.
...dass meine Mode in Götterfels besser ankommt als in Ebonfalke. Die Menschen hier kennen mich noch nicht. Sie vertrauen meiner Arbeit noch nicht. Ich hoffe, dass ich mit frischem Wind ihr Auge gewinnen...
...Ottokars unrealistischen Visionen. Ich kann nicht begreifen, warum er nicht merkt, dass auf diese Weise kein Geld ins Haus kommt. Wäre ich auch nur halb bei Sinnen, hätte ich ihn längst verlassen. Aber ich liebe ihn zu sehr. Wie soll es nur...
...steigen an. Ich habe endlich soetwas wie einen stabilen Kundenstamm aufgebaut. Bald werden wir uns einen Umzug leisten können. Ich kann es kaum erwarten, dieses unerträgliche Rattenloch endlich hinter mir zu lassen.
Die darauffolgende Seite blieb leer, und er stellte fest, dass der nächste Eintrag auf 1327 datiert war, ganze zwei Jahre später.
Ich habe mein Kind verloren. So lange haben wir es nun probiert, und jetzt da es endlich geglückt wäre, nehmen mir die Götter dieses Geschenk noch in der Wiege fort. Ich wollte doch Nichts sehnlicher, als ihm...
...Ottokar sich immer mehr von mir distanziert. Unsere Ehe ist so kalt geworden. Und wer kann es ihm verdenken? Ich konnte ihm keinen Stammhalter schenken. Aber ich werde nicht aufhören ihm zur Seite zu stehen. In dieser Zeit...
...sie ansieht. Ich bemerke die Blicke, die sie tauschen. Dieses kleine Flittchen will meinen Mann ficken, und denkt ich bemerke es nicht. Doch ich werde schweigen, ihm zuliebe. Werde ihm diese Freiheit...
Er bringt schon wieder kein Geld ins Haus, und das obwohl er immer wieder von Projekten spricht. Projekte, an denen er mich schon lange nicht mehr so teilhaben lässt wie früher noch. Ob ich wohl zu ablehnend war mit ihm? Ob er das Geld wohl bei Huren...
...mich dagegen entschieden, ihm Jemanden hinterher zu schicken, oder seine Sachen zu durchwühlen. Ich weiß, dass ich töricht bin, doch ich möchte so lange wie möglich an dem festhalten, was ich habe. Ich liebe ihn noch immer. Und ich fürchte, dass die Wahrheit mich...
...es vielleicht zum Besten ist. Vielleicht kann Madelaine ihm das geben, was ich ihm nie geben konnte.
Der Apostat saß stirnrunzelnd im Schneidersitz vor der Kommode und las die letzten paar Sätze mit wachsender Unruhe ein weiteres Mal. Das war nicht die Gesine, die er kennen gelernt hatte. Das war auch nicht die Gesine, die er zu enttarnen erhofft hatte.
...sich verändert hat. Seine Beleidigungen verletzen mich so sehr. Er nennt mich ein blödes Huhn, eine alte Schnepfe, einen aufdringlichen Hausdrachen. Er beschimpft mich sogar als Schlampe. Wie kann er nur...
...dass seine Hände beim Schreiben zu zittern beginnen. Zunächst dachte ich, er sei nur überarbeitet, aber am nächsten Abend ging es so weiter. Inzwischen kann er kaum noch seinen Stift halten. Vielleicht ist er nicht krank - vielleicht hat ihn Jemand vergiftet.
...liegt mit hohem Fieber im Bett. Ich habe ihn angefleht, einen Arzt ins Haus holen zu dürfen, oder zumindest nach einem Priester schicken zu lassen. Er will Nichts davon hören. Ich sorge mich so um...
Er ist über Nacht von mir gegangen. Einfach fort. Einfach tot. Ich kann kaum glauben, dass es eine Welt ohne ihn-
Die Tinte war mitten im Satz verschwommen, das Papier gewellt, wo es einmal tröpfchenweise nass geworden war. Der Apostat zwang sich dazu, nicht weiter zu lesen. Mit aufeinander gepressten Lippen legte er den Daumen an und begann zu blättern. Die neueren Einträge, bei denen er schließlich innehielt, hatten ihren Anfang vor nur wenigen Monaten gefunden.
...im Leben noch nie solche Angst. Nicht seit Ottokars Dahinscheiden. Einige meiner Kunden sagen, dass sie Caudecus und den Weißen Mantel vorhergesehen hätten. Der Adel und sein Hochmut. Stets wissen sie es dann besser, wenn es bereits zu spät...
...ist nicht wieder aufgetaucht. Sie ist seit dem Tag vor dem Angriff spurlos verschwunden. Ich sollte mich schlecht fühlen, mir vielleicht Sorgen um sie machen, aber da ist Nichts. Vielleicht wegen damals. Ich werde einen Leibwächter...
...Belagerung ist vorüber. Torben hat meine Dienste wieder verlassen, und Madelaine ist überraschend wieder aufgetaucht. Sie konnte wegen der Kuppel nicht in die Stadt zurück. Ich kann nicht leugnen, dass ich ihr misstrauisch gegenüber stehe. Aber sie hat immer sauber gearbeitet, und ich...
...schon ein wenig suspekt ist. Er macht mir Augen wie schicke junge Männer es sonst nie tun. Ich werde den Eindruck nicht los, dass er nicht nur wegen der Kleidung für mich arbeiten will. Werde ein Auge offen...
...mir vielleicht einfach zu viele Gedanken mache. Es ist an der Zeit, mir etwas zu gönnen. Er wird meine einzig wahre Liebe nicht ersetzen, aber im Bett wird er zu gebrauchen...
Er klappte das Büchlein zu, sperrte es ab und legte alles wieder dorthin wo er es vorgefunden hatte. Dann stand er auf und ging ohne jede Umschweife hinüber in das Büro der Schneiderin.
Gemessen an einer so säuberlich erscheinenden Frau war das Büro der Füchslein das reinste Chaos. Unordentliche Dokumentenstapel türmten sich mitten auf dem Schreibtisch, unfertige Skizzen und zerknüllte Papierblätter lagen überall im Raum verteilt, benutzte Stifte und Lineale waren kreuz und quer auf dem Boden verteilt. Der Apostat setzte seine Schritte mit Bedacht, darauf achtend, alles dort zu lassen wo es war. Unordnung, das wusste er, war oft kaum zu entheddern, und doch merkte man allzu schnell, wenn fremde Hände etwas verändert hatten. Vor den Aktenfächern kauerte er sich ab und zog testweise mehrere Schubladen auf, bis er die richtige gefunden hatte.
Beute, dachte er schmunzelnd, süße Beute.
Gesine hatte die Sachen ihres Mannes offenbar tatsächlich nie angerührt. Seit über einem Jahr lagen sie hier, unangetastet, aus Sorge um den Zerfall einer Illusion, die zu bewahren einfach zu viel bedeutete. Er blätterte durch Ottokar Füchsleins Entwürfe und wusste, welchen Zeitraum er abpassen musste. Zu welchem Zeitpunkt die Entwürfe auf mysteriöse Weise immer weniger nach landwirtschaftlichen Maschinen und immer mehr nach Kriegsgerät auszusehen begannen. Er zog die relevanten Papierrollen heraus und wühlte suchend durch die Korrespondenzen und Notizen des verblichenen Ingenieurs.
Ser gehrter Her Füxlain, wir dankn fielmahls füa di näuen Sprenklär. Di Betsahlung in Raten...
Rechnen binnen nächster Woche mit Euren Resultaten, Füchslein. Ihr seid über der Zeit, und meine Geduld neigt sich dem Ende zu. - K.
Müssen uns dringlich unterhalten. Erscheint morgen zur achten Abendstunde am üblichen Treffpunkt. - P.
Die Konzepte die Ihr P. übergeben habt, sind unfertig, Füchslein. Ihr habt mein Missfallen erweckt. Meine Geduld ist nun erschöpft. - K.
...sagte M. mir, dass sie eine strahlende Zukunft für uns sieht. Gesine würde es nicht verstehen. Sie weiß nicht, was auf dem Spiel steht. Es ist...
Ein Krieg kommt auf uns zu, und ich werde auf der richtigen Seite stehen. Der Seite der Zukunft. Endlich finde ich Gehör. Endlich weiß man meine aufstrebenden Ideen zu schätzen. Was wäre ich nur ohne ihre Hilfe? Ich werde...
...ist beinahe fertig. Wenn ich nur mehr Zeit hätte, könnte ich noch so viel mehr erreichen. Die Uhr tickt. K. ist ungeduldig. M. sagt, dass...
... Sie hat mich umgebracht.
Ohne genauer zu lesen, strich er die Briefe und das Büchlein ein. Dafür würde später Zeit sein; Er wusste dass er die Goldgrube geortet hatte. Jetzt galt es, den Schatz sicher zu bergen. Neben den übrigen Entwürfen lag nur noch ein letztes, weiteres Büchlein auf dem Grund der ausladenden Schublade. Der Apostat zog es hervor und blätterte darin. Finanzen, ging ihm rasch auf. Abermals blätterte er vor, und abermals fand er den Zeitpunkt genau dort wo er ihn vermutet hatte. Ottokar Füchslein hatte mehr Geld gehabt, ganz wie Gesine es geahnt hatte. Und sich obendrein noch an dem seiner Frau bedient. Nur dass er es nicht für Huren ausgegeben hatte. Der Buchstabe 'M' dominierte beinahe jeden Eintrag. Blumen für M. Neue Kleider für M. Eine neue Wohnung für M. Mietkosten für M. Und dann, ein gutes Jahr später, tauchte ein gänzlich neuer Name in den Abrechnungen auf. Jason. Der Apostat las weiter, und hörte auf zu schmunzeln.
Erst als er schon fast wieder aus dem Schlafgemach draußen war, fiel ihm der Teppichboden wieder ein. Also schlich er sich fluchend direkt wieder ins Büro zurück. Es kostete ihn fast eine halbe Stunde, mit höchster Sorgfalt, Rückwärtsschritt für Rückwärtsschritt, und ohne in eine der umherfliegenden Skizzen zu treten, bevor er all die weichen Stofffasern hinter sich glattgestrichen und jeden Verdacht getilgt hatte, dass er je hier drin gewesen war.
Aber als er wieder ins Wohnzimmer kam, hing Gesine noch immer genau so in der Lehne, wie er sie zurückgelassen hatte. Er stand über ihr und sah ihr freudlos dabei zu wie sie sich räkelte, und vor sich hin murmelte, und die bittere, reale Welt zugunsten von etwas Schönerem verdrängte. Schlüpfrig wie das auch sein mochte. Sie war über zehn Jahre älter als er, aber sie sah gut aus. Ihre rot gefärbten Haare umrahmten das Gesicht, zerzaust vor sexueller Verausgabung, die sie sich nur einbildete. Sie trug einen kurzen Rock und schwarze Strapse, dazu schöne, hohe Stiefel und ein enges Korsett, das ihre Brüste straff und üppig nach oben drückte. Alles aus eigener Arbeit. Alles extra für ihn angezogen. Obwohl er ihr mit keinem Wort gesagt hatte was er sehen wollte. Aber sie rief jetzt nicht länger nach ihrem dunklen Engel.
"Nimm mich...", hauchte sie benebelt. "Nimm mich, Ottokar.."
Einmal mehr zog der Apostat eine missmutige Grimasse, und plötzlich tat sie ihm leid. Trotz all ihrer Eitelkeit tat sie ihm leid. Er hatte sie ausgenutzt und falsch eingeschätzt. Und er war beinahe froh, dass er sie vergiftet hatte und nicht gefickt. Vor vielleicht anderthalb Monaten hätte er kaum mit der Wimper gezuckt, zu der Witwe ins Bett zu steigen um zu bekommen was er wollte. Aber jetzt.. War er wirklich ein neuer Mann, mit neuen Prinzipien? Oder war auch das nur eine neue Ausrede für neue Missetaten, für die er eine Rechtfertigung finden musste? Ich habe mein Wort gehalten.
Er griff nach dem Wein, soff ein paar gluckernde Schlucke aus der Flasche und korkte sie aufatmend wieder zu, um sie zurück in die mitgebrachte Tragetasche zu stecken. Dann sortierte er die gestohlenen Dokumente achtsam obenauf und verknotete die Stoffgriffe darüber lose ineinander. Gesines Haustürschlüssel stopfte er sich in die Hosentasche, ebenso wie seinen Haarstecker mit der kleinen Phiole und die vermoderten Reste seines provisorischen Siegels. Beides hatte er zu seinem kurzzeitigen Schrecken beinahe auf dem Sofa vergessen. Er nahm einen Fetzen Zeichenpapier samt Stift aus ihrer Kommode und ließ die Schublade eigens ein Stück offen stehen, bevor er der Witwe eine kurze Abschiedsnachricht schrieb und auf dem Tisch hinterließ. Dann schob er Gesines Rock hoch, zog ihr das Spitzenhöschen aus und schnippte es mit gezielter Wahllosigkeit auf die Sofalehne. Als er sie bei den Schultern berührte, um ihren Körper vorsichtig auf die Polster niederzubetten, ließ die Droge sie erneut in extatischen Schüben erschauern.
"Ottokar.."
Der Apostat griff nach seiner Tragetasche. Ich habe mein Wort gehalten.
Er ging und blickte nicht zurück.
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