„Unmöglich. Unmöglich sag ich!“
„Und doch ists so wahr, wie ich hier stehe. Du glaubst mir nicht, so komm, komm mit mir. Hinauf und noch höher, zu seinen Zinnen!“ Zart waren die Hände die sie griffen, bestimmt jedoch der Zug derselben die Treppe hinauf.
„Du lügst doch...was wenn die Herrin uns erwischt.....“
„Schweig still und spar dir deinen Atem!“ Immer schneller trappelten nackte Füße über die Steine, aufgeregtes Keuchen erstickte weiteren Protest. Am Taubenschlag vorbei, unter dem kaputten Sekretär hindurchgekrabbelt und an der modrigen Wand entlang gepresst. Aufgeschreckte Vögel gurrten und glucksten als die beiden vorbeitrabten, und schließlich, um die nächste Ecke herum, ziemlich abrupt zum Stehen kamen. Ein großer, zerschlissener Vorhang tat sich im mauergeschützten Zwielicht vor ihren Augen auf, von Mottenfraß gespickt, längst von Spinnenvolk beheimatet. Zitternde Finger griffen nach dem Schleier und zogen sachte daran. Mit leuchtenden Augen bemaß sie nochmals ihre Schwester, und strahlte ihr Liebstes mit vorfreudigem Lächeln an.
„Bist du bereit, Anais?“
„Ich w-weiß nicht. Wofür...?“ piepste sie leise.
„Einfach alles, was du dir in deinen Träumen ausmalen kannst! Du wirst sehen was ich meine wenn wir da sind...frohgemut,“
„„....auf! Auf gehts, zum Palast! Sprach sie und zog den schmutzigen Mantel beiseite. Ehe Anais ein Schrei der Bestürzung aus der Kehle flüchten konnte, machte Marlene einen beherzten Sprung, die Haxen voraus, mitten in das Spiegelbild, in welchem sich beide bis eben noch flüchtig wahrzunehmen im Stande waren.““
Wieder klappt der verblichen blaue Deckel zurück auf das Buch, wie schon so oft, immer wieder, seit Jahren. Ein paar Staubkörnchen wirbeln im fahlen Lichtschein, welcher durch das Kutschenfenster hinein lugt.
„Und so begann das Abenteuer...“ wispert sie, den Blick vom Buch gelöst und hinaus auf die weiten Felder Shaemors gerichtet. Eine Traube Krähen steigt aus dem späten Rapps, vielleicht bereit, die Gefilde zu verlassen um in wärmeren Regionen zu verweilen. Die schmalen Schultern zucken sachte nach oben. „Wieso auch nicht?“ die Frage verklingt unbeantwortet im Ruckeln und Klackern der Droschke. Mit den Fingerspitzen stippt sie in die kleine Schachtel, die neben ihr samt all den hastig eingepackten Kisten beim grobgepflasterten Kutschgang wackelt. Nur ein Chouquette am Tag - das hatte sie sich gemerkt, während sie des Nächtens verbotenerweise in den Zeitschriften der Götterfelser Schickeria gestöbert hatte.
Mit einem spitzen Lächeln auf den Zinnoberlippen legt sie sich zwei hübsch dekorierte Süßigkeiten auf die Handfläche, beißt von einer, beißt von der anderen, und tupft sich hernach die überschüssige Vanillecreme mit einem fliederfarbenen Seidentaschentuch vom Mundwinkel. Zarte Rituale des Protestes, denen sie ausgesprochen gerne fröhnte, das äußerste Quentchen Freude, welches die sündhafte Spezialität noch einen Hauch delikater machte. Regeln und Prinzipien waren schließlich da, um hin und wieder ein wenig überreizt zu werden, nicht? Während sie das Naschwerk auf der Zunge wälzt, legt sich ihre Stirn in Falten. Ein leichtes Kopfschütteln begleitet die Erinnerung an jüngst zurückliegende Nacht, die vom großen Aufbruch kündete. Elona...Elona! Hin und her wälzt sie den klangvollen Namen im Geiste, so erinnert jener sie eigentlich vielmehr an eine Protagonistin aus einer Liebestragödie, als an ein Land voller Gefahren, wandelnder Toter, Krieg und Verderben – und das, obgleich die eigene Milchkaffeehaut die fremden Wurzeln verriet, Tag um Tag aufs Neue, ohne dass es je eine wahrhaftige Verbindung gegeben hätte...Elona, meine Liebste, verzage nicht mein Herz! Nie werden sie uns entzweien!
Ängste und Wünsche, Freude wie Sorgen ringen seit der Kundgebung ihres mondblassen Seelenbruders in Yaras Herz, ohne eine Aussicht auf Ruhe. Was würde sie erwarten? Was würde ihnen begegnen? Würden sich ihre Hoffnungen erfüllen? Oh Lyssa, Lyssa, deinen Segen für diese Unternehmung!
Instinktiv fährt ihre Hand zurück über das blaue Buch, als spende die alte Schwarte gerade den richtigen Trost.
Kommentare 2