Lesewarnung
Mord, Gewaltdarstellungen (auch gegen Frauen), vulgäre bis diffamierende Wortwahl.
Geschichte
„Ja da ich frage mich auch, was diese Scheiße sollte.“
Möglicherweise fragte sich Banel das als Einziger. Denn sein Gesprächspartner, der seiner Rolle als passiver und augenfällig sehr irritierter Zuhörer nicht entweichen wollte blieb stumm. Ein obdachloser Alter, dessen Namen der Iorga nicht kannte und der ohnehin unwichtig war, dessen vor Konfusion heruntergefallene Kinnlade einen wenig erquicklichen Blick auf desaströse Zähne gewährte. Banel führte seine Flasche zum Mund, nur um abermals mit einem zornigen Grunzen zum wiederholten male festzustellen, dass er sie bereits vor geraumer Zeit geleert hatte und sich das verdammte Ding nicht von alleine wieder auffüllte.
„Ich meine ja nur... ich versteh' ja wie er sich fühlt. Mir geht’s ja genauso. Aber dass er mir dann noch meinen Titel streitig machen, dass ~ich~ derjenige bin, der immer die bescheuertesten Ideen hat und mir diesen beschissen Ruf hart erarbeitet habe... das... Verdammt, das versteh' ich nich'. ICH VERSTEH'S NICH'!“
Der Obdachlose, ohnehin schon auf dem Boden sitzend und in eine Decke gehüllt, fuhr beinahe erschrickt in die Höhe, als sein Gast plötzlich begann loszubrüllen, dabei hündisch die Zähne bleckte und darauf unmittelbar in ein manischen Lachen verfiel. Ein Lachen, das befremdlich lange anhielt und in einem neuen Wutausbruch mündete, als die Flasche den Mund abermals trocken zurückließ. Der Alte zog in panischer Erwartung nun den schmutzverkrusteten Kopf ein, suchte verzweifelt Zuflucht in seiner dünnen, übel riechenden Wolldecke.
„Scheiße!“ Banel rang mit sich, die Flasche einfach wegzuwerfen, doch kurz darauf taxierten die weichbraunen Augen neben der generellen Konzentration wieder den Zuhörer. „Was... was ich damit sagen will...“
Der Iorga verdeckte kurz die Augen mit der Hand, welche auch die Flasche wie einen heiligen Gral festhielt und vollführte mit dem Zeigefinger der freien Hand irgendwelche wilden Gesten wie ein irrer Schulmeister. Sie sollten beruhigend wirken, doch lösten bei dem Bettler mutmaßlich das genaue Gegenteil aus.
„Ich... ich will einfach nich', dass er wieder für diesen alten Flachwichser arbeitet.“ Banel entblößte seine Augen wieder, die im spärlichen Licht der Gosse gar feucht glitzerten. „Egal wie selten er da angeblich macht. Selbst wenn das nur... Sieben mal im ganzen, verdammten Jahr sein sollten. Fünf mal im Zephyr, drei mal im Koloss...Arsch. Was zu viel is', das is' zu viel. Scheiß auf meinen Ruf, ich entwickle diese ganzen Scheißideen doch nicht einfach, weil's so toll ist.... Oder?“
In seinem Wechselbad der Gefühle, durchzogen von leichten, physischen Schwankungen und einem steten Hagel der seelischen Erschütterungen über die unendliche Leere der Flasche, schien der Iorga nun plötzlich einer melancholischen Stimmung zu verfallen. Wahrhaftig weniger, weil jemand mal eine dümmere Idee als er gehabt hatte, sondern weil er – wenigstens in diesem Zustand – einfach nicht wollte, dass sein Bruder wieder für ihren Onkel arbeitete. Doch gerade als er sich in der Trauer und damit einsetzendem Schweigen verlieren wollte, fiel der Obdachlose aus seiner Rolle und erhob vorsichtig seine verrauschte, heisere Stimme.
„Von... Von wem redest 'n Du eigentlich? Warum erzählst' mir den ganz'n Kram und... und ~wer~ bei Mutter Dwayna bist 'n Du überhaupt?“
Banel ließ die Arme sinken. Langsam und entgegen seiner augenfällig starken Trunkenheit, geschah dies kalkuliert. Den Bettler traf ein eisiger Blick. Ruhe und Beherrschtheit spiegelten sich urplötzlich in sämtlichen Regungen der iorgaischen Mimik wider. Es wurde still, während ein Moment und etliche weitere vergingen. Der Obdachlose verschluckte sich vor Nervosität beinahe rechnete er doch mit einem neuerlichen Brüllen oder irritierenden Auflachen seines Gastes.
Doch nichts von beidem geschah.
Stattdessen traf den Alten der Schlag. Mit aller gegebenen Frustration, Enttäuschung über gegebene Umstände die nur Banel kannte und einer pochenden Wut, dass dieser Bettler doch ohnehin nichts verstand und nur Zeit vergeutete, zerschmetterte ein wuchtiger Fußtritt das geschundene Antlitz. Vollkommen abgemagert, alt und schwächlich, hatte er diesem Angriff nichts entgegen zu setzen. Heiser und einmalig aufschreiend kauerte er in seiner Ecke zusammen, betend zu alle Göttern, diesen Ausbruch zu überleben und ertrug die peinigenden Tritte, bis Banel ihm schließlich das Bewusstsein raubte.
Abrupt hielt er hernach in seinem Gewaltakt inne, fuhr sich einmal mit der Hand durch das kurze Haar und nahm den nunmehr blutverschmierten Obdachlosen binnen eines Herzschlages mit anderen Augen wahr. Er hatte es nicht gewollt. Ferner hatte es dieser arme Zhaitansbraten auch wahrscheinlich nicht verdient. Banels Selbstreflexion überlebte den nächsten Augenblick jedoch nicht. Seine zum Mund geführte Flasche blieb ihm weiterhin den süßen Nektar schuldig, was den den Iorga zu einem zornigen, finalen Tritt verleitete. Erneut durchlief er einen kurzen Augenblick der Lethargie und des Bedauerns, bis er sich hinab beugte, um sich der sieben Sachen des Alten zu bemächtigen... welche lediglich aus einer Brückenration bestanden.
Obwohl er durch die Gosse wankte, die nichts denn trostloses Gemäuer, Schutt und Straßendreck bot, sah Banel des öfteren bunte, florale Muster, als sei er unter Addison Cunninghams Blumenkleid getaucht. Eine grausige Vorstellung. Banel hatte nicht die geringste Ahnung, wer das überhaupt war. Er hatte den Namen bei einer seltenen Lästerorgie Trajans aufgeschnappt, als er in besonderen Tönen von der Gönnerin seines Studiums sprach. Trajan. Sein verwöhnter Cousin war ohnehin die Ursache von all diesem Ärger. Er und diese verdammten Libanez.
Bei den gemeinsamen Tagesgeschäften im Keller hatte Dato berichtet, dass einer seiner Brüder... oder Cousins, oder Onkel oder Liebhaber, einem Anschlag erlegen war. Banel verlor bei dieser Sippschaft schnell den Überblick, aber das war auch kein Wunder. Wenn er bedachte, wie oft sich Revan Libanez vermutlich von Nicolae ficken ließ, wäre eine dreistellige an Anzahl von Kindern vermutlich noch untertrieben. Jedenfalls hatte Anlass zur Sorge bestanden. Denn trotz aller leeren Drohungen, die man als Iorga so bekam, waren doch durchaus jene ernst zu nehmen, die sich... nun, als „volle“ Drohungen erwiesen. Vito hatte die passende Antwort auf jedwede Trauerstimmung, in Form von Kartoffelschnaps sowie Mariani-Wein und Schnee aus dem Meridian, sehr schnell gefunden. Und ausgerechnet heute, am Abend dieses bescheuerten Herbstballs, war Dato in Löwenstein, Narcis im Pfandhaus und Vito irgendwo anders gewesen. Banel hatten sie alleine mit den Resten von Tulios Trauerzeremonie im Keller zurück gelassen. Götterverfluchte Idioten.
Banel hatte sich bei seiner Mutter geschworen, die Rauschmittel lediglich zu besseren Verrichtung der Arbeit einzunehmen. Als ihm die Sinnlosigkeit dieses Schwurs aufging, hatte er sich bereits an sämtlichen Restbeständen gütlich getan. Sicher, er hätte es nicht tun sollen und auch nicht tun müssen. Seit seinem Plan und seiner Perspektive hatte er wieder ein klares Ziel vor Augen, für welches sich die Nüchternheit lohnte. Er hatte gar eine Woche an dem dazugehörigen Bewerbungsschreiben gesessen, bis er sich sicher war, neben seinem Namen auch alles andere fehlerfrei niedergeschrieben zu haben. Doch Narcis ging ihm nicht aus dem Kopf. Banel hatte es versäumt. Er hatte seinem Bruder nicht gesagt, wie beschissen die Idee war, wieder für Eugen-Paul zu arbeiten. Warum hatte er sich von dem alten Saftsack nur um den Finger wickeln lassen? Banel hatte es auch mit Hilfe der Rauschmittel nicht verstanden, aber er hatte gewusst, unter deutlichem Handlungsdruck und Zugzwang zu stehen. Um seinem Bruder eine würdige Nachgeburt zu sein, hatte er sich sturztrunken und benebelt für eine Arbeit an jemanden gewandt, der beinahe genau schlimm war, wie Eugen-Paul. So war Trajan ins Spiel gekommen. Kleine Schwuchtel. Banel meinte das nicht böswillig, denn trotz aller Unterschiede liebte er seinen Cousin sehr. Derartige Beleidigungen waren schlicht die Wahrheit. Und die Wahrheit war meistens eben hässlich wie die Nacht.
Alle anderen waren nicht im Anwesen auffindbar gewesen, oder aber gefangen von matriarchalen Klauen und Frisierutensilien. Mit der - zu dieser Zeit noch gefüllten - Flasche Rum, hatte Banel seinen jüngeren Cousin dabei erwischt, wie er Helenas Schwanenkostüm anprobiert hatte. Zumindest hatte dessen Abendgarderobe aus Samt und Brokat auch nicht maskuliner ausgesehen.
„Gib'... gib' mir irgendwas aus dem beknackten Pfandhaus zu tun“, hatte Banel das Gespräch eingeleitet und war im Folgenden auch nicht mehr von seiner Insistenz abgerückt. Trajan hatte Ausflüchte gesucht, den Zustand seines Cousins natürlich bemerkt und an dessen gesunden Menschenverstand appelliert. Die Worte hätten nicht auf noch taubere Ohren stoßen können.
„Banel, weder führe ich die notwendigen Geschäftsunterlagen mit mir, noch wäre es in deinem Interesse und im Sinne deines Wohlergehens, akut jedwede Arbeit zu verrichten.“
„Ja ja, am Arsch.“
Trajan umschrieb seine persönliche Sorge eloquent, untermalte sie durch sein schneidiges Auftreten und jene stete Latenz der Süffisanz in seinem Lächeln, mit welchen er die Kunden im Meridian über den Tisch zog. Doch Banel wusste genau, dass nicht die persönliche und familiäre Sorge Anlass dieser Worte war, sondern Trajans Befürchtung, sein Cousin würde ihm in diesem Zustand irgendein Geschäft versauen. Trajan wusste das natürlich auch. Doch der ältere Cousin ließ nicht locker.
„Verdammt Tutu... Gib' mir einfach was zu tun, dann bin ich weg. Und so... so kommt auch niemand auf die Idee, dir noch ~Gewalt anzutun~ oder... was ähnliches.“ Irgendwann schien es dem nüchternen Iorga dann schlechterdings zu blöd geworden zu sein, sodass er Banel in einen sehr einfachen Auftrag einweihte. Die liebevolle Ermahnung, respektive die liebevolle Einschüchterung eines Kunden, der mit der Rückzahlung seiner Geldanleihe im Verzug war. Für den gleichsam betrunkenen wie benebelten Iorga, dessen Flasche zu diesem Zeitpunkt bereits leer war, klang diese Mission zufriedenstellend. Instinktiv stellte er gar die ein oder andere Frage hilfreicher Natur.
„Sag' mal Tutu... dieser Kerl... womit muss man da rechnen. Hat der sowas wie 'nen Privatwächter, oder... is' der Mitglied in irgend so 'ner Gossengruppe?“ „Eigenartigerweise...“, Trajan machte ein engelsgleiches Gesicht, welches vor Hohn überquoll und vollführte in überzogener Theatralik ein Schulterzucken „...habe ich den Kunden ~das~ ausnahmsweise nicht gefragt, als wir über finanzielle Sicherheiten und Rückzahlungsmodalitäten sprachen.“
„Fick. Dich.“ Wie ein vernünftiger Erwachsener, hatte Banel seinem Cousin den Mittelfinger demonstriert und sich hernach aufgemacht.
Nun war Banel hier. Alles nur, weil Vito im Keller nicht aufgeräumt und Trajan ihn mit diesem wichtigen Auftrag bedrängt hatte. Beiläufig und mit einem sehr geringschätzenden Blick, nahm Banel das Brückensymbol auf dem Beutel war, bevor er diesen durchsuchte. Das Ergebnis konnte seine Laune nicht heben. „Leva ist doch auch echt zu blöd zum kacken!“ Das aufgeregte Echo erfüllte die Gosse und schien dennoch niemanden im Straßenschmutz aufzuscheuchen. Brot, Wasser, einige Leinentücher und gebrauchtes Schuhwerk waren im Beutel enthalten. Wo war der verdammte Fusel? Was für eine angebliche Bürgerhilfsorganisation verteilte bitteschön keinen Alkohol in ihren Rationen?! Wie sollten sich die armen Teufel denn dann gepflegt in die Nebel saufen? Oder hatte der gierige Alte, der auf Almosen abgewiesen war, an welchen sich Banel nicht beteiligte, etwa alles ganz alleine gesoffen?! Wie egoistisch und gierig konnte denn eine einzelne Person sein, den guten Stoff nur für sich alleine zu beanspruchen?! Mit einem wütenden Grunzen warf der Iorga die Ration auf irgendeines der Dächer.
Sein Ziel fand Banel trotz seines Zustands überraschend schnell. Ein Haus am Rande des Salma. Nicht unbedingt die beste Gegend jenes Viertels und daher auch nicht überlaufen von Seraphen, Leibgarden und sonstigen Idioten, welche den Iorga bei der Arbeit stören könnten. Glücklicherweise war er noch geistesgegenwärtig genug, sich verhüllend zu maskieren. Auf die einfache Idee, jedoch einfach bei dem Schuldner anzuklopfen und einige Zeilen Klartext zu reden, kam Banel hingegen überhaupt nicht. Wenn es darum ging, dass sich Narcis bei seiner Arbeit für Eugen-Paul besser fühlte – deswegen machte sein Bruder diesen ganzen Scheiß heute ja mit – dann konnte man ruhig über das Ziel hinausschießen. Und überhaupt; bei dem Pleitegeier einzusteigen und ihm eine „persönlichere Betreuung“ zukommen zu lassen, wie es Trajan in anderen Situationen formuliere, erschien dem Trunkenen in diesem Moment als die beste Entscheidung, die je in Tyria gefällt worden war.
Seinen gläsernen Begleiter ohne Innenleben noch immer in der Rechten haltend, besah Banel die Außenfassade des Hauses, welches eher eine Mietskaserne war, suchte nach Klettermöglichkeiten und Möglichkeiten zum Einbruch. Durch die weiterhin bunten Muster, die sein Sichtfeld so schön ausschmückten, fühlte sich Banel kurzzeitig in ein schönes Märchen versetzt, in welcher er als Held – oder so etwas ähnliches – den Schatz aus dem Schloss stibitzte, ohne den bescheuerten Prinzen zu retten. Eine absurde Vorstellung. Banel wusste, dass er keine Romanfigur war. Und selbst wenn, so war er überzeugt, dass sein Erzähler nicht den geringsten Anlass dazu hätte, ihm schlechtes widerfahren zu lassen.
Mit der Flasche unter dem Arm, welche in diesem besonders schlechten Märchen zweifelsohne als treuer Begleiter des Helden verdient hätte, machte er sich schließlich an den Aufstieg. An manchen Stellen stieß er sich den Kopf, handelte sich durch mangelnde Umsicht Schürfwunden ein, aber war durch den Gehalt an Alkohol und Rauschmitteln in seinem Blut nunmehr unempfindlich gegen den Schmerz geworden. Vielleicht war Vitos halbes Hirn also auch mal zu etwas gut gewesen. Mit einem Keuchen, dass für eine nächtliche Aktion dieser Art eigentlich zu laut war, erklomm er den Sims eines halboffenen Fensters. Er machte sich noch über die Idioten lustig, welche in der Jahreszeit des Kolosses ihre Behausungen nicht sicher abschlossen, als er sich irgendwo beim Einstieg mit seiner Hose verhedderte und eine ansehnliche Bruchlandung auf dem Gesicht hinlegte.
„Schwa....heiße!“ Das missglückte Fluchwort war kaum lauter als ein Schlangenzischeln. Hatte der Sturz doch den bunten Musterformationen noch einige Sterne hinzugefügt, die nun um Banel herumkreisten und ihm dämliche Geschichten erzählen wollten. Ärgerlicher war jedoch der Verlust der Flasche, die zwar nicht in Scherben ging, aber bei dem ganzen Manöver unter ein größeres Möbelstück rollte. Murrend kämpfte er sich auf die Beine und stellte trotz der vorherrschenden Dunkelheit fest, dass es sich hier um irgendeinen kleinen Schlafraum handeln musste. Die Flasche war unter dem Bett verschwunden und hätte ihm eigentlich vollkommen egal sein können. Doch einen guten Kartoffelschnaps ließ man nicht links liegen. Banel beugte sich zunächst hinab und befühlte die Stelle unter dem Bett erfolglos, begann wieder leise zu fluchen und tauchte schließlich vollends unter das Mobiliar. Dort verhedderte er sich erneut, stieß sich den Kopf am Holzgebälk und ließ das ganze Bett nebst seiner Nerven durch in einem erstickten Wutanfall erbeben.
„SCHEIßE!“
Leise war das nun nicht mehr. Obendrein erwiesen sich sämtliche Mühen als vergebens. Das verdammte Ding war einfach nicht zu finden. Banel hörte Stimmen. So dauerte es noch eine geraume Zeit, bis er merkte, dass da nicht erneut jene wundervollen Farbmuster mit ihren Fistelstimmen auf ihn einredeten, sondern dass diese zu den Bewohnern jener Kaserne gehören mussten. Noch immer war das Hosenbein gefangen und der Iorga lag mit nicht unwesentlichen Verrenkungen unter dem Bett, in dessen Randleiste er sich kurzzeitig vor Wut verbissen hatte. Hatte ihn der Pleitegeier etwa gehört? Verdammt. Eine erfolgreiche Einschüchterung begann man nicht liegend wie ein nasser Sack unter dem Bett. Banel atmete einmal tief ein und hielt sich in seiner verdrehten Position ruhig, als sich die Tür öffnete. Die Stimmen waren verstummt, selbst die Farbmuster hielten freundlicherweise ihr vorlautes Mundwerk und einige Momente der Stille legten sich über den ganzen Raum. Banel verengte die Augen, gewann in diesem Moment an Konzentration und zog instinktiv einen Dolch hervor, an welchen er noch gelangen konnte. Dann wartete er ab und zählte die Herzschläge, soweit es ihm möglich war. Nach der sechs hörte er auf und verließ sich auf sein Gehör. Hatte der Pleitegeier nur nachgesehen, ob dieses Zimmer durch den Lärm von Ratten heimgesucht wurde?
Dann traf ihn der Schlag. Nicht übermäßig wuchtig, doch im Affekt fühlte sich der Iorga mindestens ebenso überwältigt wie der Bettler von vorhin. Jemand war unmittelbar auf das Bett gesprungen und war – glücklicherweise mit einer halbwegs federnden Matte – genau auf Banels ohnehin schon beanspruchtem Gesichts gelandet. Ihm riss der kümmerliche Rest von dem, was er als Geduldsfaden bezeichnete, knurrte wie ein Gebirgswolf auf und stach zu. Die Dunkelheit klarte sich nicht auf, doch in dieser vernahm Banel nun Schreie.
Zwar verzog sich seine Mimik augenblicklich zu einer Grimasse der Schadenfreude und Genugtuung, diesem verfluchten Schuldner hier in völlig überzogener Manier jedweden Aufwand heimzuzahlen. Während er das Messer mit Mühe einmal drehte und sein manisches Lachen im Takt mit den Schmerzensschreien anstimmte, bemerkte er mit einiger Verzögerung, dass sich die Laute seines Opfers... seltsam anhörten. In einer sehr hohen, gar schrillen und halb erstickte Intonation schlugen sie sich im Raum nieder und rissen mit größter Wahrscheinlichkeit auch die Nachbarn aus den Betten. Es schien wahrhaftig als habe jener Dolchstoß den Pleitegeier entmannt und ihm binnen Sekunden eine weibische Stimme vermacht. War das überhaupt so einfach? Im impulsiven Rausch des Alkohols sinnierte der Iorga tatsächlich kurze Zeit über diese durchaus interessante Frage.
Doch er stockte, als das Geschrei abrupt verstarb. Jedwedes hebeln und nachstechen mit dem Dolch löste keine Reaktion mehr aus. Im Gegenzug bahnte sich eine andere Stimme jenseits der Tür an und kam schnell näher. Aus seiner verengten, halb eingerollten Position, wuchtete sich Banel fluchend unter dem Bett hervor, wobei er dieses beinahe auf die Seite warf. Sein Hosenbein hatte er nicht mehr freibekommen und so riss es knieabwärts beinahe ab. Kaum mehr als wenige Augenblicke blieben ihm, doch machte er im Halbdunkel noch deutlich die Silhouette einer nunmehr röchelnden alten Frau aus, deren Unterleib von einem rasch anwachsenden Blutflecken geziert wurde. Trajan. Diese elende Penner. Von alten Damen war nie die Rede gewesen, denn angeblich lebte dieser Schuldner doch alleine hier! Banel blieb keine Zeit, sich aufkeimenden Gewalt- und stetig schwelenden Trunkenheitsphantasien hinzugeben. Instinktiv zog er seine Pistole und zielte auf Tür.
„Auf den Boden, sonst...“
Er unterbrach sich selbst. Besser gesagt, die Pistole tat es. Denn als die Tür stürmisch geöffnet wurde, ließ er instinktiv den Abzugfinger zurückfahren und eine Kugel bahnte sich den Weg durch die Brust seines überraschten Opfers. Banel spürte, wie sein Gesicht und mutmaßlich auch seine Kleidung in einem geistlosen Moment mit frischem Blut besprenkelt wurden. Kurzzeitig dachte er, ein kleiner Schauer des warmen Wassers habe ihn erfasst, dann sah er, wie die hineingestürmte Person vollkommen lautlos gegen den Wand kipptr und von dieser langsam hinabglitt. Das war nicht passiert. Banel lud seine Pistole nie, nutzte sie lediglich als den mahnenden Trumpf eines unberechenbaren Irren, der andauernd manisch lachte. Es konnte also nicht passiert sein.
Langsam und bestenfalls halbbewusst, drehte Banel das Mordinstrument in seiner Hand, führte es nah an die Augen und verlor sich augenblicklich in einem Gefühlsbad aus Schockstarre und grenzenloser Wut. ~Das~ hier war nämlich nicht seine Pistole. Er erkannte die Handfeuerwaffe in seiner Hand nicht wieder. Vito. Dieser verfluchte... Banel ließ den Arm sinken, das Ergebnis seines Mordaktes betrachtend. Es war ebenfalls nicht der Schuldner. Vor ihm lag eine Frau mittleren Alters. Eine hässliche, flachbrüstige und somit vollkommen unweibliche Frau, wie Banels kennerischer Blick sogleich feststellte. Doch das machte den Mord nicht besser. Erfreulicher vielleicht, aber in dieser Situation dennoch absolut unbrauchbar. Und dieser verdammte Vito war an allem Schuld! Banel hielt die Knarre von Dato, Benita oder einem anderen dieser inzüchtigen Sippschaft in den Händen. Vito hatte neulich sämtliche Handfeuerwaffen einer Pflege unterzogen und dann einfach nicht mehr darauf geachtet, wessen Mordinstrument denn nun zu wem gehörte. Banel hatte ebenfalls nicht darauf geachtet. Aber das hatte er auch nicht gemusst, denn es war die verdammte Pflicht dieses hirntoten Kochs gewesen!
Es war zuviel. Viel zu viel. Die ganze Misere dieses Abends, Vitos Versagen, Trajans wohl absichtliche Falschinformation über den Wohnort des Schuldners, Narcis' bescheuerter Plan und letzten Endes fand Banel nicht einmal seine verfluchte Flasche wieder! Wie schlimm konnte denn ein einziger Abend verdammt noch mal werden? Er brauchte eine Antwort, doch in dieser Situation war es ihm unmöglich, eine zu finden. Also steckte er desillusioniert und beinahe mechanisch die Pistole wieder weg, bevor er sich langsam umdrehte. Erneut bildete die alte Frau im Bett, das Zentrum seiner Aufmerksamkeit und Banel sammelte alle Sachlichkeit, zu welcher er in diesem Vollrausch noch fähig war, um seine Frage möglichst adäquat zu formulieren.
„WAS SOLL DENN DIESE GANZE VERDAMMTE SCHEIßE NOCH EINS?!“
Überraschenderweise erhielt er keine Antwort. Zumindest keine, welche über ein panisches Ächzen hinausging, welche von dem nahenden Verlust des Bewusstseins kündete. Rasend vor Zorn beugte sich der Iorga über die Alte, ergriff sie bei den Schultern und schüttelte sie heftig durch, bevor er ihre Visage nahe an sein maskiertes Antlitz brachte, um die Frage zu wiederholen. Diese fiel endgültig in Ohnmacht und ließ Banel hoffnungslos mit all jenen Rätseln zurück. Das durfte nicht wahr sein. Das durfte einfach alles nicht wahr sein. Zu seinem Glück schlugen die altbewährten Instinkte nach einem Moment der völligen Verzweiflung ein. Banel wusste, dass er schleunigst hier verschwinden musste. Als er sich eiligst auf den Rückweg über das Fenster machen wollte, fiel sein Blick auf das gegenüber liegende Wohnhaus. Es brauchte einen weiteren Moment der kostbaren Zeit, als der Iorga den Wald trotz all der Bäume endlich erkannte.
Er hatte sich in der Adresse geirrt.
So eine verdammte Scheiße. Warum nur passierte so etwas immer ihm? Nahe am Rande einer neuerlicher Verzweiflung, machte er sich an den Abstieg, welche er durch einen zweiten Sturz auf sein Gesicht wenig galant abkürzen konnte.
Schließlich nahm er die Beine in die Hand und lief einfach irgendwohin. Von den Seraphen oder sonstigen Schnüfflern war noch nichts zu sehen, doch wog sich Banel nicht falscher Sicherheit, sondern rannte. Mehrmals stolperte er gar fatal, oder lief einmal direkt gegen eine Hauswand, doch gab er sich beharrlich und rannte weiter, bis er irgendwo in einer Ecke des Westlichen angekommen war. Jedoch nicht an irgendeinem Ort. Nach einem finalen Stolpern, von welchem sich auch der zäheste Hund nicht mehr aufrichten konnte, fand er sich am Rand eines Brunnens wieder. Warum endete es eigentlich immer auf diese Weise? Immerhin... So wusste Banel wenigstens, wo er ungefähr war.
Seine letzten Gedanken an diesem Abend galten wieder Narcis und jener Frage, die den brüderlichen Geist den schlimmsten Torturen aussetzte. Warum ließ er sich nur mit Eugen-Paul ein? „Wenigstens...“, Banels alkoholisierter Verstand driftete vom Gedanken an seinen Bruder zu einem bestimmten Körperteil desselben ab, was sogar im Delirium peinlich war. Allerdings wusste er auch, dass Narcis heute auf dem Herbstmaskenball mit den Damen schäkern konnte, „...geht es Klein-Banel gut.“
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