Vollidiot

Das gleichmäßige Atmen ihres schlafenden Mannes drang beständig an ihre Ohren, als sie die rötlichen Gardinen sanft beiseite zog und durch das geputzte Glas an den schwarzen Nachthimmel sah. Dunkle Wolkenschleier verhüllten den bleichen Mond und ließen ihn nur in blasser Schwäche durch den dichten Nebel brechen. Seufzend lehnte sie sich an den Fensterrahmen und verschränkte die Arme vor der Brust. Sie konnte bei Vollmond nicht schlafen. Ihre kastanienbraunen Augen sahen zurück zum Bett, wo ihr Gatte erschöpft schnaufte, als er sich auf die andere Seite wälzte. Mehrere Gedanken durchzogen ihren müden Verstand und formten schließlich eine Idee, die sie dazu bewegte, die vor einigen Stunden gelöschte Kerze zu nehmen. Auf dem Gang würde sie sie entzünden und die Nacht nutzen, um noch Einiges an Schreibarbeit zu bewältigen. Wäre ihr Mann wach gewesen, hätte es ihm wohl missfallen. Aber er war es nicht und ihre Unvernunft hatte längst den Willen geboren, die Zeit nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Ihre nackten Füße tappten über den warmen Holzboden und sie bemühte sich, die Schlafzimmertür leise zu öffnen- und hinter sich zu schließen. Ihr Partner schnarchte einmal laut, regte sich aber nicht. Eilige Schritte führten sie durch den langen Flur, der dank des fahlen Mondlichtes, welches durch ein kleines Fenster fiel, nur spärlich beleuchtet war. Sie verfluchte das Knarzen der hölzernen Arbeitszimmertür, nachdem sie eintrat und erschrak sich plötzlich, während sie die glimmende Kerze in den Halter pflanzte: Ein seltsames Geräusch drang von draußen an ihre Ohren. Unruhig griff sie nach der dicken Jacke, die über dem Stuhl an ihrem Eichenholztisch hang, um sie sich über das weiße Nachthemd zu streifen. Anspannung in ihrem Blick, kaum, dass sie die Vorhänge fortnahm und hinunter zur gepflasterten Straße sah. Sie konnte selbst von ihrer erhöhten Position aus erkennen, wer genau dort unter ihrem Fenster stand.
„Joleeeeene“, lallte die tiefe Stimme eines bekannten Sturzbesoffenen zu ihr hinauf, der ihren Namen völlig grotesk verbal missbrauchte.
Angestrengt rieb sie sich über die Nasenwurzel, ehe ihre geschickten Finger hastig das Fenster öffneten und sie herabzischte: „Ratrey! Verdammt! Seid Ihr schon wieder betrunken? Ich fasse es nicht!“
Sie konnte anhand der Silhouette des riesenhaften Mannes erkennen, dass er den Kopf in den Nacken legte, um sie anzustarren. Sie glaubte sogar das eisige Augenblau erkennen zu können und für einen Moment fröstelte sie, trotz der schwülen Nachtluft.
„Joleeeene, lass mich zu dir rein!“, verlangte der Störende unter ihrem Arbeitszimmer, ohne auf sie einzugehen. Vielleicht hatte er ihr nicht einmal zugehört.
Sie schloss das Fenster, schüttelte ärgerlich den Kopf, zog die Jacke zu und verließ hastig den Ort des Geschehens, um die Treppe hinunterzuschleichen. So absurd es auch war, würde sie nicht vor ihm stehen und mit ihm sprechen, würde er kein einziges Wort verstehen. Und das, obwohl man ihm nachsagte, gute Ohren zu haben. Sie ließ den Wohnungsschlüssel klimpernd in ihre Tasche gleiten, stieß die Tür auf und trat seufzend auf die Straße hinaus.
„Ratrey – hier“, befahl sie streng, wie bei einem Hund und zeigte mit dem Finger neben sich.
Artig wandte der benebelte Koloss ihr das hässliche Antlitz zu, als er auf sie zu torkelte und sich anschließend mit der schwieligen Hand an der Hauswand abstützen musste, um nicht umzufallen – so sehr musste sich alles in seinem Kopf drehen.
„Was – im Namen der sechs Götter – habt Ihr hier verloren? Und wie viel habt Ihr bitte gesoffen?“, sie konnte den charakteristischen Geruch von Alkohol sofort riechen und war der festen Überzeugung, dass jemand aus zehn Metern Entfernung Gleiches noch getan hätte.
Unwohlsein stieg in ihr hoch und sie zog die Jacke enger um ihre Schultern, während ihre wachsamen Augen sich konzentriert umsahen. Sie schenkte dem Mann, welcher sich weder vernünftig artikulieren- noch anständig geradeaus gehen konnte, wenig Beachtung. Selbst, als dieser sprach, nicht: „Jolene, du bist so schön wie… wie… noch’n Bier…“
Sie schnippte ihm ungeduldig mit den Fingern gegen die Stirn, immerhin wollte sie nicht, dass er an Ort und Stelle einschlief: „Pscht – Sprecht leiser. Wenn Ihr meinen Mann oder mein Kind aufweckt sorge ich dafür, dass Ihr nie wieder ein Bier trinken wollt.“
Und obwohl ihr die gesamte Situation missfiel, steigerte sie sich nicht hinein und wahrte problemlos ihre Fassung, auch wenn sie sich kritische Bemerkungen in Anbetracht der Absurdität nicht verkneifen konnte und wollte. Der rothaarige Trinker hob den Blick seiner müden Augen und sein Gesichtsausdruck verriet ihr bereits offenkundig, dass ihn die Erwähnung ihrer Familie kränkte.
„Aber ‘ch bin extra für dich hergekommen“, nuschelte er hilflos und doch eine Spur leiser, „außerdem…“
Sie unterbrach ihn resigniert, um seinen Satz zu vollenden: „Außerdem könnt Ihr nicht schlafen. Ich weiß.“
„Also kann ich zu dir?“, ohne auf eine Antwort zu warten, schob er sich an ihr vorbei, ehe sie seinen Hemdärmel griff und aufhielt.
„Nein. Ihr geht jetzt nach Hause. Los.“
Sie stieß ihn unsanft von der Hauswand fort. Normalerweise wusste sie, dass sie den zweimetergroßen Soldaten nicht hin- und her schubsen konnte, wie sie wollte, aber er hatte augenscheinlich jede funktionierende Zelle seines Gehirnes, und das waren nicht viele, betäubt – und seinen Gleichgewichtssinn obendrein. Beinahe machte es den Eindruck, als fiele er gleich zu Boden, doch der Besoffene hielt sich wacker und blinzelte sie fragend an: „Was machst du? Jolene, ich will bei dir schlafen.“
„Ratrey“, ächzte sie und hustete ihr bezauberndes Raucherhusten, was er so mochte, in ihre Hand, „ich diskutiere nicht mit Euch in diesem Zustand. Ich erwarte in den nächsten Tagen jedoch eine ausführliche Erklärung der Umstände, ansonsten Gnade Euch Grenth.“
Er würgte einmal, erbrach sich jedoch glücklicherweise nicht. Die Frau gab sich geschlagen – jedenfalls in einer Angelegenheit – und schritt auf den Kerl zu, um ihre Hand beruhigend auf seine Schulter zu legen. Normalerweise wies er vehement jeden von sich und sie wusste, dass er Gleiches bei ihr getan hätte, wäre er nicht dermaßen voll gewesen: „Nun gut, ein Kompromiss: Ich begleite Euch bis zu Eurer Wohnung zurück, wo Ihr auch schlafen werdet, ja?“
Erfreulicherweise lebte der Riese nicht allzu weit entfernt und erfreulicherweise konnte sie sich ausreichend zur Wehr setzen, sollte es jemand wagen, zwei Gardisten zu dieser Stunde auf offener Straße anzugreifen - auch wenn einer der Gardisten ein Nachthemd trug und der andere so schlimm roch wie er aussah.
Der Rotschopf murrte und sie wusste, dass ihm die Idee nicht gefiel. Deswegen reckte sie sachte das Kinn und räusperte sich nur lautstark, als wollte sie ihn an etwas erinnern.
„Einverstanden“, presste er aus dem zähneknirschenden Maul hervor und sie bemerkte mühelos die blaue Ader an seiner weißen Stirn, welche leicht hervortrat.
Er stolperte ein paar Schritte nach vorn und drehte sich dann doch zu ihr um, um auf sie zu warten, denn er hatte den Weg zu seinem Heim vergessen. Sie schmunzelte – bedingt durch die Müdigkeit, die ihren Verstand ebenso begann zu benebeln.
„Nun gut, beeilen wir uns. Ich möchte meine Familie nur ungern allein lassen“, sprach sie und ging an ihm vorbei, mit einem Seitenblick dennoch darauf achtend, dass er bei seinem Herumgetorkel nicht stürzte. Die flirrenden Fackelschalen an den Hauswänden wiesen ihnen den Weg.
„Jolene, ich muss dir was sagen“, brabbelte der Besoffene neben ihr, als die Schritte der beiden merkwürdigen Gestalten über den Stein der schmalen Gasse hallten.
„Nichts, was momentan Euren Mund verlässt, hat irgendwelchen tiefgründigen Wert, Ratrey“, schnaubte sie, „Ihr produziert verbale Kotze.“
„Du kannst mich auch Owen nennen.“
„Ratrey“, zischte sie mit Nachdruck und schnippte erneut gegen seine Stirn.
Mit einem entrückten Lächeln betrachtete der entstellte Mann die Frau an seiner Seite. Es interessierte ihn nicht, unter welchen Umständen sie durch Löwenstein schritten, es genügte ihm, dass sie es in dem Moment taten. Seinen Blick bemerkend spähte sie zu ihm hinüber und schüttelte entschieden das Haupt: „Wo ich Euch gerade so sehe… Lasst Euer Haar lieber kurz.“
Sie wusste, wie er mit langen Haaren- und wie er mit Glatze ausgesehen hatte. Der Mittelweg war für den notorischen Säufer definitiv der beste. Nachdenklich brummend griff er sich mit den kräftigen Fingern durch das rote Haar.
„Das letzte Mal, dass Ihr so betrunken wart, hatte man Euch versucht in Schweinescheiße zu ertränken... Und Ihr… seid wieder so dämlich“, raunte sie und schob die Hände in die Jackentaschen, seine Dummheit nicht begreifen könnend, „lernt Ihr nicht aus Fehlern?“
„Für dich würde ich immer in Scheiße ertrinken.“
„Seid einfach still“, sie bereute es überhaupt mit der Thematik angefangen zu haben.
Eine Weile lang schwiegen die beiden Spaziergänger sich an und lauschten den Geräuschen der Nacht, dem Rauschen der nahen Wellen, dem aufgeregten Fiepen der Ratten und dem Knarzen des morschen Holzes. Salzige Seeluft ließ selbst in den grauen Lungen der zwei Raucher für wenige Momente ein befreiendes Gefühl zurück, ehe Jolene erneut leise und brüchig in ihre Hand hustete.
„Ich muss dir was sagen“, wiederholte der Trunkene leiernd.
Sie ließ die Hand sinken und blickte zu ihm hoch. Ihre großen, schönen Augen mit dem analysierenden und wissenden Charakter starrten ihn direkt an. Das kurze, braune Haar wurde von dem Wind sanft bewegt, während sie die vollen, warmen Lippen öffnete und mit der gewohnten Strenge, die er irgendwie mochte, sprach: „Was wollt Ihr?“
Sie kreuzte ungeduldig die gebräunten Arme vor der Brust und als es ihm plötzlich die Sprache verschlug, forderte sie ihn weiter auf: „Ihr seid fünfundzwanzig Jahre alt – man könnte meinen, Ihr wüsstet mittlerweile, wie Fragen und Antworten funktioniert. Sprecht endlich oder lasst es bleiben.“
„Ich… Du...“, seine Lider wurden schwerer und schwerer und seine Zunge fühlte sich so taub an, bis er vollkommen schwieg.
Es verstrich eine Ewigkeit und kein Wort verließ seine staubtrockene Kehle, die ihm förmlich brannte.
„Morgen erhalte ich einen detaillierten Bericht von Euch. Und jetzt solltet Ihr Euch definitiv schlafen legen“, sie löste die Verschränkung und deutete mit der linken Hand an ihm vorbei zu der Tür, die tatsächlich zu seiner Wohnung führte.
Er hatte nicht einmal bemerkt, dass sie bereits angekommen waren.
„Verstanden“, nickte er betroffen und bemerkte schmerzlich, dass der Alkohol langsam seine Wirkung verlor.
„Gute Nacht.“
Die Frau blickte ihn noch einmal eindringlich an, dann wandte sie sich ab, als keine Antwort erfolgte und bald schon verhallten ihre Schritte, die sie zurück zu Mann und Kind führten, in der Gasse, welche dunkler schien als zuvor. Kraftlos ließ sich der Zurückgebliebene auf dem Stein der Treppe nieder und bettete erschöpft das Gesicht auf den eigenen Händen.
„Vollidiot.“

Kommentare 10

  • Voll goldig unbeholfen knuffig traurig.....
    Ich mag die Beschreibung der nächtlichen Stadluft auf die Raucherlungen. Wobei das ruhig hätte früher sein können, hatte so weit in der Geschichte schon ein Bild im Kopf..ach und allgemein ein früherer Tipp, dass das in Löwenstein spielt, Möwengekreisch oder so. xD *auf hohem niwo mäkel*

    • Ich bin froh, wenn diese Wirkungen bei dir erfolgreich erzeugt werden konnten! *grins* Und ich nehme die berechtigte Kritik ebenso dankend für's nächste Mal zur Kenntnis!

  • Das ich deine Art der Erzählung mag, weißt du ja. Owen ist für mich ein Überraschungsei. Verpackung, Schokolade (wenn auch nicht immer süß) und ein Kern voller Überraschungen. Nach all den Jahren freu ich mich einfach immernoch diebisch über Texte von Owen.
    Bitte mehr!

    • Du bist süß, danke dir für den lieben Kommentar. Es freut mich zu lesen, dass du dich freust! <3 Und den Vergleich empfinde ich doch selbst als ziemlich passend. *schmunzel und drück*

  • Ahje...Owen...

  • Und jetzt habe ich das Lied

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    im Kopf! ;)

  • Sehr schöne Geschichte. Liest sich sehr interessant und macht vor allem neugierig auf die Hintergründe dazu *g*