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Vorsichtshalber Spoiler. Keine Gewalt, aber Missverständlichkeit.
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Auf dem hellbraunen Holzbrett in der Küche, neben Schüsseln und Schalen, lag der trockene Körper eines Säuglings. Halb Knorpel, halb Mensch, wackelte er leise auf und ab, wenn Helena ihn versehentlich mit der Fingerspitze anstieß. Den Mund hatte er zum Schrei aufgerissen. Er schrie aber nicht, als sie das Messer an seine Stirn setzte und ihn in Stücke schnitt. Es war auch im Haus ganz still, wenn man vom Schaben der Aufräumarbeiten absah, das aus dem Keller nach oben drang. Der Keller. Er war fertig geworden. Aber da waren noch andere Dinge, die aufgeräumt werden mussten. Dinge, die man nicht in ein paar Kisten ordnen und in einen Schrank schieben konnte. Nicht, dass sie es nicht versucht hätte. Sie kamen jedoch immer wieder daraus hervor. Es war kennzeichnend für Helena, dass sie versuchte, all die potenziellen Schwachmacher weit von sich zu weisen. Sie hatte einen großen Vorrat davon; anders als andere Menschen, war sie sich sehr wohl bewusst, dass sie, zusammengenommen, mehr Schwächen als Stärken hatte und dass es nur darauf ankam, wie man das eine oder das andere in der jeweiligen Situation positionierte. Dass es überhaupt von Anfang an nur darauf ankam, nach welchen Maßstäben – moralisch oder pragmatisch – man ging, um zu entscheiden, was Stärke war und was Schwäche. Sie kam in ihrer gängigen Bewertung nicht mit den gesellschaftlichen Ansichten überein. Sie fand ohnehin vieles unsinnig, was in der Gesellschaft als Gang und Gäbe, als guter Ton, als normal betrachtet wurde. Hatte man einmal einen Blick auf eine jener alltäglichen Absurditäten geworfen, die ihre einzige Daseinsberechtigung daraus zogen, Gewohnheit zu sein, war es schwer, das Absurde in Zukunft zu übersehen. Der Alltag hatte seine Absurditäten überall. Es war ein billiges Theater, schlechte Schreiber waren da am Werk. Und wenn es nun galt, in dieser Posse nicht aufzufallen? Konnte man es sich da erlauben, hoch über allem zu stehen und bessere Dinge zu sagen oder zu tun als der Rest. Innerlich wohl ein wenig, doch äußerlich?
Sie liebte es, wenn sie in den Blicken Fremder diesen Glanz sah. Dieses Quäntchen Andersartigkeit, das kleine bisschen Darüberhinaus, durch das sie sofort eine wortlose Verbindung einging, einen schweigenden Pakt, mehr zu verstehen als der Rest. Oftmals eine einseitige Verbindung, da der andere nicht verstand, dass sie ebenfalls tiefer in die Facetten der Welt blickte. Sie baute diese Scharade selbst auf, pflegte sie und goss sie mit ihrem Verhalten. Sie besaß allerdings nicht die Lässigkeit, es dann gut zu ertragen, wenn ihr Vorhaben aufging.
„Sich immer zu empören ist Schwäche“, hatte Vendetta ihr eines Abends gesagt, als sie blass vor Ärger über irgendeine Sache mit einem Gegenstand nach ihm geworfen hatte. Auf seinem Gesicht war dabei dieses Lächeln gewesen, das Grübchen in seine Wangen bohrte und ihn wie einen Freund aussehen ließ, wo er sich eigentlich nur am Leid anderer ergötzte. „Empörungskultur ist eine Sache der Untertanen.“
Sie musste ihm in gewisser Weise zustimmen, auch wenn sie es nur im Stillen für sich selbst getan und das Gespräch damit beendet hatte, ihn hinauszuwerfen. Hier hatte wieder eine ihrer Schwächen gegriffen, nämlich, dass sie ihre Wut nicht im Griff hatte, die aber auch eine Stärke sein konnte, insofern nämlich, dass sie ihre Zeit nicht mit Spöttern vergeudete, wenn sie ihr nichts Neues mehr zu sagen hatten. Empörungskultur war eine Sache der Untertanen. Aber sich über nichts zu empören, über alles und jeden erhaben zu sein und sich kein bisschen beeindruckt zu zeigen, war eine Sache der Narren. Viele sprangen von links nach rechts, waren unangreifbar, dann, wer-bist-du-was-willst-du, waren sie erbittert und fuchsteufelswild vor gerechter Empörung. Helena musste einsehen, dass nicht einmal sie selbst immer davor gefeit war. Empörung war etwas Erlerntes. Man durfte aber nicht dem aufdringlichen Reiz verfallen, zu jeder Gelegenheit zeigen zu müssen, was man im Leben alles gelernt hatte.
Bis vorhin hatte sie geglaubt, dass es Empörung gewesen war, die sie ergriffen hatte, als sie aus dem Lächelnden Meridian getreten war und plötzlich Cird gegenüber gestanden hatte.
„Engelchen“, hatte er sie gegrüßt und behauptet, er wäre wegen ihres Anblicks in die Stadt gekommen. Sie war mit ihm zum Pfandhaus gegangen und die ganze Zeit über hatte er sich zwei Schritt hinter ihr gehalten. Und die ganze Zeit über war ihr gewesen, als liefe da einer von Nicolaes Männern hinter ihr. Einer, den der Alte geschickt hatte, nachdem es ihm selbst nicht gelungen war, sie aus dem Geschäft zu vertreiben. Helenas Schwäche hatte wieder zugeschlagen. Sie war Cird konfrontativ mit ihrer Vermutung entgegen gegangen.
„Machst du dir nicht etwas zu viele Gedanken über ihn?“, hatte Cird geantwortet.
Helena griff nach der Zuckerdose. Im Keller schepperte es und jemand lachte.
Sie musste ihrer Familie erscheinen wie eine Wahnsinnige. Wahrscheinlich dachten alle, Helena wäre von Nicolae besessen.
„Du solltest deinen Groll, was Nicolae betrifft, begraben, Helena“, hatte Cird ihr geraten. Dabei hatte er sie angesehen wie ein Kind, das vorhatte, seinen Kopf wieder und wieder gegen eine Steinwand zu schlagen.
„Er stand vor einer Woche vor mir und hat mir gedroht. Wenn ich etwas begrabe, dann bestimmt nicht meinen Groll. Es wäre mir lieber, du würdest dich mir nicht in den Weg stellen.“
Sie hatte ihm ihr Kinn entgegen gehoben. Diese Geste wurde schnell mit Trotz in Verbindung gebracht, aber für Helena war es Teil ihres Ausdrucks. Es gehörte zu ihr. Es war sie. Sie würde es nicht ablegen, weil andere nicht das eine vom anderen unterscheiden konnten und beides durcheinanderwarfen.
„Mir bleibt vermutlich nicht erspart, mich dir in den Weg zu stellen“, hatte Cird beklagt. Er hatte noch etwas anderes gesagt. Dass jemand ihm letztendlich eine Kugel in den Kopf schießen würde, weil er sie nicht sterben lassen wollte. Er hatte dieses Bild vor ihrem Auge gemalt. Früher hätte sie ihm geglaubt. Jetzt kam es ihr vor wie eine Manipulation inmitten von Dreck und Rost. Der Mann war fast ein Libanez. Es war eine schmerzhafte Vorstellung, dass sie einst verlobt gewesen waren. Dass er es einst wahrscheinlich tatsächlich so gemeint hätte und nicht sich selbst oder sie belügen hätte müssen. Vor Nicolae. Vor Revan.
Sie hatte versucht, ihn aus der Sache rauszureden. Aber seine Loyalität zu Revan war spürbar wie ein Würgegriff gewesen. Sie konnte ihm nicht mehr sagen.
„Es ist doch wohl offensichtlich“, hatte sie ihm erklärt, „dass ich dir nicht vertraue. Du hast mich schon damals an Adrian verraten.“
Cird hatte den Kopf geneigt. Die ganze Zeit über hatte er an Innenseite der geschlossenen Tür gelehnt und den Abstand zu Helena nie verändert. Jetzt hatte er sich abgestoßen und war auf sie zugekommen. Er war so nahe vor ihr stehen geblieben, dass es keinen persönlichen Freiraum mehr für sie gegeben hatte. Sein Blick war auf sie herabgerichtet gewesen. Ihr Fuß hatte gezuckt. Aber sie war nicht zurückgewichen. Sie hatte die hohen Wangenknochen scharf zurückgezogen, das Kinn gehoben und den unmöglichen Versuch gemacht, von unten her auf ihn herabzublicken.
„Benötigst du noch Informationen zu mir was das Pfandhaus anbelangt? Oder ist das Thema durch?“, war alles gewesen, was er gesagt hatte.
Sie hatte daraufhin an seine Vernunft appelliert. Und vielleicht hatte er sie verstanden. Aber vielleicht war er auch nur ein Rattenfänger. Nur war Helena keine Ratte.
Sie seufzte, kandierte die zerschnittene Alraunenwurzel und mischte sie mit dem vorher schon kandierten Alant und Ingwer.
Helena hatte das Pfandhaus nur wenige Sekunden nach Cird verlassen. Ein Passant war ihm entgegengekommen, den er erst beachtet hatte, als er erkannte, wie schnurgerade ihn sein Weg auf das Pfandhaus zugeführt hatte. Als Helena den Mann dann als „Dr. Beaufort“ gegrüßt hatte, hatte sich Cird noch einmal umgewandt. Einen Moment lang hatte die Situation auf der Kippe gestanden. Helena hatte das Gespräch sofort auf Narcis gelenkt und ihn folgerichtig als Grund für des Doktors Besuch genannt. Daraufhin war Cird gegangen. Wahrscheinlich wusste Beaufort nicht und würde nie erfahren, wie knapp er an diesem Abend einer ungerechtfertigten Tracht Prügel entgangen war.
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