Konn war einiges gewohnt. Glänzende Hologramme, schwebende Würfel, Maschinen mit eigenem Bewusstsein. Bürger Rata Sums sind nicht so einfach zu beeindrucken. Trotzdem klackten jetzt die Krallen an seinen Fingern nervös aneinander. Das große Sandsteingebäude mit den Säulen davor, überall sah man kleine und größere Beschädigungen, wo der Zahn der Zeit Stücke aus dem Stein geknabbert hatte...
Aus irgendeinem Grund zögerte er, sein neues Heim zu betreten. Er wusste nicht einmal, warum er zögerte. Selbst wenn dieses Gebäude bis zum Dach mit Büchern und Schriftrollen gefüllt wäre, es wäre nur ein Bruchteil dessen, was er früher als erster Holoarchivar des Arkanen Rates zu verwalten gehabt hatte.
Erster Holoarchivar, wie großartig das klang. Dabei gab es viele Erste Archivare. Ein Posten für alle, die keinen guten Abschluss hin bekommen haben, aber auch nicht nervig genug waren, um zu den Friedensstiftern zu gehen. Er hatte alle analogen Pläne, Skizzen, Anträge und Formulare zu transholographieren und zu speichern. So konnten sie in der großen Zerebral-Einheit von Rata Sum oder im Ratapedia veröffentlicht, oder vom Arkanen Rat weggeschlossen werden. Warum niemand die Schönheit der analogen Datenträger erkannte, was ein ewiges Rätsel für Konn.
Langsam wurde ihm klar, was ihn an diesem Gebäude so bezauberte. Eine große Halle, ganz der Schönheit des Buches, der Schriftrolle, des analogen geschriebenen Wortes gewidmet. Die Luft angefüllt mit dem Duft von altem Pergament und Leder, frischer Tinte, durchsetzt mit dem Geruch von Kerzenwachs und Lampenöl.
Konn schluckte, sein Mund war trocken. Mit einem tiefen Atemzug atmete er nicht nur die warme Wüstenluft ein, sondern auch den nötigen Mut für den nächsten Schritt. Er hob den rechen Fuß und setzte ihn auf die erste Sufe des Portikus.
Ein vorsichtiger Schritt. Der nächste ist bereits etwas selbstsicherer. Es ist niemand da, weit und breit. Ein leichter Wind kommt auf und lässt die roten Flaggen der Statuen auf dem Plateau knattern und die Flammenschalen fauchen. Konns feine Ohren hören die Vögel über ihm, wie sie in der Thermik kreisen, und er hört das Geknarze der Stricke, die die lange Hängebrücke rüber zum Tempel bilden. Irgendwoerklingt das Lachen einer Hyäne. Und vor ihm ist es still. Die Stille der Bibliothek kommt ihm geradezu entgegen, so wie der Duft der Bücher, der ihn so anlockt.
Er geht hinein und die Stille legt sich um ihn, wie ein Mantel. Die Geräusche von draußen bleiben hinter ihm zurück. Geräusche haben in dieser Halle der Gelehrsamkeit keine Macht. Doch nach ein paar Augenblicken sieht er seinen Irrtum ein. Die Bibliothek dieses Ortes hat ihre ganz eigene Geräuschkulisse. Das Plätschern von Wasser des Luftbefeuchters, ein welkes Farnblatt, dass an der Steinwand kratzt, denn es geht ein schwacher aber steter Luftzug durch das Gebäude. Die Messingketten der elonischen Lampen quietschen kaum hörbar und dann und wann ächzt ein Regalbrett unter der Last der Bücher.
Der Vorraum ist noch recht unspektakulär. Er enthält nicht viel, bis auf die Treppe nach oben, die sich auf halber Höhe teilt und so einen Absatz bildet vor dem ersten Bücherregal. Die Treppen führen rechts und links weiter zu den Galerien mit den Fachbüchern, hauptsächlich zu Golemantie, Thanatologie und Elementarwissenschaft. Unten, unter den Zugängen zu den Galerien führen Durchgänge in den Hauptraum der Bibliothek.
Konn geht weiter durch den Durchgang zu seiner Rechten und sieht zum ersten mal die deckenhohen Regale voller Bücher. In der Tat, von der Menge her kein Vergleich zu den Datenmassen des Ratapedia Netzwerkes, von der Brisanz kein Vergleich zu den Verschlusssachen des Arkanen Rates, aber so viel schöner, so viel wunderbarer als alles Wissen Rata Sums zusammen!
Vorsichtig legt Konn die Hand auf die ersten Buchrücken. Während er ehrfurchtsvoll an dem Regal entlang schreitet, streicht er mit der Hand über die Buchrücken. Gelegentlich erzeugen seine Krallen kratzende Geräusche auf dem steinharten, alten Leder. Jedesmal wenn das passiert, schreckt er aus seinem traumwandlerischen Zustand auf und versucht, seine Finger möglichst nach außen zu biegen, um keines der Bücher zu verletzen.
Am zweiten Regal bleibt er plötzlich stehen. Ein roter, schmaler Buchrücken mit silbernen asurischen Schriftzeichen ist ihm aufgefallen. Nicht nur, weil das Buch falsch einsortiert war, deswegen natürlich auch, aber vor allem, weil er dieses Buch aus seiner Kindheit kannte. Mit spitzen Fingern zog er das dünne Buch aus dem Regal. Obwohl die Bindung mit strapazierfähiger asurischer Hexagonalfolie geschützt war, befanden sich Flecken auf dem Buch und die Kanten des Rückens oben und unten waren angestoßen und vom häufigen Öffnen ganz faltig.
"Agent Kratzi's erste Abenteuer" flüsterte Konn leise, um die fast schon sakrale Stille dieses Ortes nicht zu stören. Jedes asurische Kind kannte dieses Buch, aber nur in der Holo-Ausgabe. Unter den Kindern kursierte das Gerücht, dass im gedruckten Original geheime Agenten-Tipps verborgen sind, die man in der Holo-Ausgabe gelöscht hatte. Vorsichtig blätterte er auf Seite 34, seiner persönlichen Lieblingsseite, auf der der Superagent zum erstenmal zu sich selbst den ikonischen Satz sagte, der in jedem der 500 Abenteuer von Agent Kratzi vorkam: "Agent Kratzi, Schleichmodus aktivieren!"
Konn musste bei diesen Kindheitserinnerungen grinsen. Auch weil ihm in den Sinn kam, wie irrwitzig gering die Wahrscheinlichkeit war, dass er, der es nur zum ersten Holoarchivar gebracht hatte, in einer alten Bergfestung zwischen Maguuma Einöde und Dschungel auf dieses verschollene Kinderbuch traf. Konn schüttelte gedankenverloren den Kopf und besann sich, dass das Buch falsch einsortiert war. Er ließ seinen Blick über die Regale schweifen, und ihm wurde klar, warum ihm Aerana diesen Job angeboten hatte. Konvolute, dachte er, völlig inkoherente alphanumerische Lexikalisierung!
Da er zwar ein großer Asura war, aber eben nur ein Asura, reichte er nur an die unteren zwei Buchreihen heran. Er würde mit Aerana über eine technische Lösung sprechen müssen.
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