Der Schreibtisch (I)


Ein Baronet in Hemdsärmeln war auf Hainwacht kein ungewöhnlicher Anblick.
Adam Beaufort stand auf dem Standpunkt, dass es genügte, sich für die Öffentlichkeit korrekt zu kleiden. Hier aber, im heimatlichen Hort der Familie war es nichts Ungewöhnliches, den Baronet nur in Hemd und Hosen, ja, oft sogar ohne Weste herumlaufen zu sehen. Auch wenn seine Frau ihn liebevoll spottete oder seine Mutter Adam "ihren kleinen Wilden" nannte, egal, wie alt oder groß er wurde: Der Baronet war es so zufrieden. Seine kräftige Statur war immer schon ein Alptraum für jeden Schneider gewesen, umgekehrt jedes noch so angemessene Jackett eine Plage für den designierten Träger. Wann immer Adam durfte, wie zum Beispiel hier zuhause, ließ er diese lästigen Dinger aus Wolle und Tweed in den Händen des Kammerdieners und zog in hellem Leinen seiner Wege.
Heute war sein Hemd nicht einmal besonders sauber. Gerade noch vor einer Halbstunde hatte Adam seine speiende, kleine Tochter an der Brust gehalten und jene Überreste nur notdürftig weggewischt. Käme jetzt Besuch, es wäre bestimmt Zeit für Herzinfarkte gewesen.
Den älteste Beaufort allerdings schien das nicht zu kümmern. Da war ein Liefervertrag frisch mit dem Morgenkurier eingetroffen, die Börsenberichte von gestern - denn schneller waren die Gazetten aus Götterfels und Löwenstein eben nicht auf der Hainwacht verfügbar - harrten sorgfältiger Durchforstung. Energetisch, als ginge es zum Holz machen in den Wald, betrat er sein Arbeitszimmer und...stutzte.
Auf seinem Platz, dem alten Lederstuhl hinter dem Schreibtisch, saß unerwartet Alexander, drittgeborener Beaufort und ganz sicher falsch auf dem Sitz des Familienoberhauptes.
Doch Adam sah hinter dem monströsen Schreibtisch des gemeinsamen Vaters nicht den erwachsenen Mann, nicht den profilierten Doktor und ganz bestimmt nicht den etwas nervösen Alex, der mit einem bestimmten Anliegen auf dem Herzen angereist war. Der die Wartezeit auf das Familienoberhaupt damit verbracht hatte, die Worte, die er sich die Reise über bereits zurecht gelegt hatte, noch einmal auf ihre Tauglichkeit zu überprüfen. Den dort auf der falschen Seite des Schreibtisches ein unsichtbares Gewicht auf seine Schultern drückte, das er im gegenüberliegenden Stuhl noch nie zu spüren bekam.
Nein, das alles sah Adam Beaufort nicht. Stattdessen sah er einen kleinen Jungen, sieben oder acht, mit viel zu großen Ohren und dem dringenden Bedürfnis, von seinen großen Brüdern bejubelt zu werden, wenn er es nur schaffte, die Tinte in Vaters Federkiel gegen Johannisbeersaft auszutauschen.
Oh, sie hatten Ärger bekommen, sie alle drei. Andrew, weil er, kreativ wie er nun einmal veranlagt war, die absurde Idee dazu geliefert hatte. Alexander, weil er sich Flausen einreden ließ, um zu gefallen. Den meisten Ärger aber bekam Adam, der als Ältester in der Verantwortung stand, Vernunft walten zu lassen und statt dem ständigen Rädelsführer ein gutes Beispiel zu geben. Er hatte schon als Kind jene energische Wildheit an sich, die seine Umgebung dazu anspornte, mit ihm mithalten zu wollen. Eine Eigenschaft, die vor allem seine Brüder mitunter zu Höchstleistungen antrieb, sowohl im Guten - wie auch im Schlechten. Die drei kleinen Wilden hatten die Hainwacht stets auf Trab gehalten, bis das Leben sie trennte und schliff.
Adam blinzelte und lächelte so warm, dass es ihm die Jahre vom Gesicht wischte, die er ohnehin noch gar nicht auf dem Buckel hatte. "Ich hoffe sehr, dass du die Johannis-Tinten-Affäre jetzt nicht bei mir versuchst. Du weißt, dass ich immer noch in der Lage bin, dich über das Knie zu legen."
Alexander hatte sich beim Eintreten seines Bruders rasch vom Stuhl erhoben und stramm daneben Aufstellung bezogen, ein bisschen so, als erwarte er gleich Schelte. Ihm fiel erst jetzt auf, wie sehr Adam ihrem Vater, dem Baron Mortimer, ähnelte. Vielleicht am meisten von ihnen allen. "Was würde deine Frau zu so unreifem Verhalten wohl sagen?" Ein verhaltenes Lächeln brach sich die Bahn und er trat um den Tisch herum, um seinen Bruder angemessen mit einer Umarmung zu begrüßen.
Dieser lachte auf. "Bravo - und Zugabe." brummte Adam in die kräftige Umarmung. Philippa Beaufort war vermutlich die Letzte, die sich über solcherlei Bubenstreich echauffiert hätte. Die selbe wilde Ader, die nur Jahre der Verantwortung in Adam hatten zähmen können, existierte nämlich auch in Lady Beaufort - und ihr Ehemann tat nur wenig, um ihr diese zu nehmen. Im Gegenteil.
Der Baronet löste sich aus der Umarmung und hielt den Jüngeren für einen Moment auf Armlänge Abstand an den Schultern um ihn zu bemustern. Eine kurze, aufmerksame Suche über Alexanders Züge, ob sich schon wieder etwas Neues an ihm getan hatte, dann wies er auf den Sessel vor dem Schreibtisch. "Ich habe gar nicht damit gerechnet, dass du zu Averys Geburtstag eigens aus der Stadt kommst." Aber Adam freute sich sichtlich darüber.
Ein Geburtstag. Alexanders schlechtes Gewissen biss heftig zu, denn natürlich hatte er nicht daran gedacht. Wer sollte auch bei all den Geschwistern, Nichten, Neffen, Cousinen und Cousins den Überblick behalten. "Eigentlich...bin ich nicht deswegen hier.", musste er also zerknirscht gestehen und seiner gerechten Empörung, die ihn hergetragen hatte, war längst der Wind aus den Segeln genommen worden.
"Ich habe mit Ghabriel gesprochen."
"Ach." Adam ließ sich in den Lederstuhl auf der anderen Tischseite fallen. Die Notwendigkeit, dem Ton etwas Unverfängliches zu geben, sah der Baronet nicht. Dafür war er zu geradeheraus gestrickt, vor allem seinen Verwandten gegenüber.
"Was also kann ich für dich tun?"
"Meinen Dank annehmen, dafür, dass du diesen Weg gegangen bist. Wärest du direkt auf mich zugekommen, hätte ich abgelehnt. Und ich danke dir vor allem dafür, dass du Ghabriel eine Chance einräumst. Ich weiß, dass du es als Risiko betrachten musst." Alexander hielt den Blickkontakt aufrecht, auch wenn ihm vor diesem Schreibtisch wie immer sehr danach war, die eigenen Finger zu betrachten. Dabei hatte er diesmal keinen Saft in Adams Tinte geschüttet.
Der Baronet atmete durch und widerstand dem Drang, die Unterarme auf das altgediente, dennoch blankpolierte Beaufort-Holz des Schreibtisches zu setzen und die Fingerkuppen aneinanderzulegen. Die Geste seines Vaters, die er in den letzten Jahren immer mehr für sich selbst übernommen hatte. Sie evozierte Strenge und Autorität und beides schien ihm gerade nicht angebracht. Dass Adams "Handel" mit Ghabriel Reaves Alexander nicht gefiel, war klar, aber einkalkuliert. Allerdings hatte der Baronet mit wesentlich mehr Ärger gerechnet, spätestens dann, wenn sein Bruder davon erfuhr. So lehnte der Ältere sich ins Leder zurück, legte die Hände locker verschränkt auf seinem Bauch zusammen. Den Kopf ein wenig zwischen die Schultern "lümmelte" der große Mann im Grunde gerade unangemessen für seinen Platz.
"Ja." gab Adam unumwunden zu. Einem Fremden sowohl solches Angebot als auch bis zu einem gewissen Grad Vertrauen entgegenzubringen, war in der Tat ein enormes Risiko. Geschäftlich - und privat.
"Aber es ist mein Risiko." Eines, das ihm geringer erschien als sich mit Victor Iorga einzulassen.
Aber vor allem eines, das er lieber auf sich nahm, als Alexander nach allem, was war, noch aufzubürden.
"Du wirst es nicht bereuen, Adam."
Es waren keine leeren Worte, die Alexander da sprach, denn die Praxis erfolgreich zu machen war sein Ziel und das Ghabriel Reaves gute Arbeit leisten würde, davon war er felsenfest überzeugt. So weit glaubte der Doktor, seinen Freund bereits zu kennen.
Etwas anderes allerdings brannte ihm nun, da sie das besprochen hatten auf der Seele, nur wusste er nicht recht, wie er es vor seinem großen Bruder ansprechen konnte. Große Brüder, ganz besonders die seinen, konnten nämlich manchmal eine regelrechte Pest sein.
"Wie...", begann Alexander äußerst vorsichtig. "...gefiel er dir?"

Kommentare 20

  • Haha, wie Hainwacht mich erst in den Hain versetzt hat und plötzlich alle Blumen weg waren...xD


    In der Familie fangen viele mit A an, ja?


    Und so im Sessel lümmeln wenn fast keiner guckt, das war ja richtig gangsta.

    • Sagen wir so, die alten Beauforts waren nicht die kreativsten Eltern unter der Sechsen Sonne, ne? :D

    • Sie haben halt jedes Mal vorne im Alphabet angefangen und sich schnell entschieden. :0

    • Haha, ja!
      Es ist jedenfalls ungefähr gleich kreativ wie bei A anzufangen und sich bis G durchzuvermehren, gelt, @Alessa Di Saverio? #
      :D

    • Wenn man da bisschen alterniert, kann man ja zwischen Aund Z wechseln und sich dann irgendwann bei M oder N in der Mitte treffen. o/

  • Das fand ich gut!
    Glaub ja, du solltest wieder regelmäßiger schreiben.

    • Das kann ich so nur unterschreiben.

    • Dankesehr. Glaub ich ja auch. :3 Ich muss nur immer gegen den Schweinehund anrennen, weißte?

    • Kenn ich nur zu gut. Geht mir (irgendwie bisschen ironisch) beim Schreiben auch so. Anderseits seh ich dann am Zeichnen auch, dass man schon irgendwie besser wird, wenn man Arbeit reinsteckt. Und das fühlt sich dann doch ganz gut an.

    • Jaaa. Ich bin halt ein arger Schweinehundmensch (EINE CHIMÄRE!!) und die Disziplin, Dinge regelmäßig zu machen, bringe ich unglaublich ungern auf. In so ziemlich jedem Bereich, schrecklich.
      Aber hauptsache, motiviert sein. :thumbup:

    • Da finde ich mich auch drin wieder. XD
      Lass Dir deswegen gesagt sein, dass ich es für wünschenswert hielte, wenn du denn mehr schriebest! ;)

  • Ich kenn sie ja alle nicht, aber ich habs gern gelesen.
    Mein Highlight: "Die Johannis-Tinten-Affäre"
    :D

    • "Agent der Krone, Band 63: Bromley und die Johannis-Tinten-Affäre"
      Gihihihi, danke! :*

  • Es ist... extrem komisch, vom eigenen Charakter zu lesen. Oder expliziter: von Gedanken, die andere zum eigenen Charakter haben oder sich machen. Ich habe beim Lesen die Schultern hochgezogen wie der Siebenjährige mit den Segelohren, irgendwie erwartend, es irgendwo verkackt zu haben und gleich negativ bewertet zu werden.
    Interessante Erfahrung. 8)
    Man merkt zwischendrin den Sichtwechsel zu einer mehr Alex-lastigen Seite, der mich persönlich ein wenig rausgebracht hat, weil ich ihn einfach nicht erwartet habe. Der Stimmungsdichte und der Atmosphäre, die einen direkt auf dieses Anwesen und in dieses Zimmer gezogen hat, tat das keinen Abbruch. Sehr gut geschrieben, mit sehr sympathisch eingefangenen Charakteren. Ich freue mich auf das Zusammenspiel.

    • Ja, das kann ich gut nachvollziehen. Beides. :)


      Es ist, wie man unschwer erkennt, die Wandlung eines RPs zu einer Geschichte. Es war nicht einfach, beide Perspektiven und Stile so zu bearbeiten, dass sie ihre jeweilige Integrität bewahren, dabei aber doch zusammengehörig wirken. Ich glaube, dass mir das auch nicht so gut gelungen ist, wie ich es gerne hätte. Aber der Versuch war spannend, herausfordernd und hat mir Freude gemacht. Und mir gezeigt, dass es -wirklich- nicht einfach ist, aus Play eine Story zu filtern. Hut ab vor allen, die das machen.

    • Ich fand es auch sehr schwer bei den wenigen Versuchen, an die ich mich bisher gewagt habe. Dankenswerter Weise vertrauen mir einige Spieler so sehr, dass ich ihre Charaktere einfach verwursten darf, auch ohne dass es ein Spiel als Vorlage dahinter gab. Unschwer zu erkennen, von wem ich spreche.


      Anyway, ich fand eigentlich, dass dir der Spagat gut gelungen ist, mit Ausnahme dieses einen, doch recht offensichtlichen Wechsels. Es ist allerdings meiner Ansicht nach sogar eine Bereicherung für das Kapitel, dass mit den unterschiedlichen Brüdern auch noch immer leicht unterschiedliche Stile einhergehen. Wie bei einem Hörbuch, wo der Vorleser sich so an die Charaktere anpasst, dass man sie anhand seiner Sprechweise und Stimmlage bereits voneinander unterscheiden kann. Mir gefiel das.

    • Mei. Danke. :)

  • Ich freu mich so, dass du an Adam Freude hast <3

    • Es ist mir eine arge Ehre, dass du ihn mir anvertraust. <3