Zwei Stimmen und noch eine

Die ganze, sich vor mir ausbreitende Szenerie fühlte sich falsch an. Die Stadt, für die wir gekämpft hatten, lag in Trümmern vor mir, die Leichen ihrer Bewohner, Belagerer und Befreier säumten die Straßen und Teile des explodierten Schiffs brannten noch immer und färbten den Nachthimmel rot. Das schlimmste aber waren die Gerüche, vor denen es einfach kein Entkommen gab. Der eiserne Geruch des Bluts der Gefallenen, die beißenden Reste des Miasmas, die einsetzende Verwesung der Leichen und der überall präsente Gestank nach bitterem Ruß erst ließen die Bilder real werden. Wir hatten gewonnen und doch hatten wir verloren. So etwas hatte es im Traum nicht gegeben. Gut, es hatte viele Dinge im Traum nicht gegeben, die es hier gab, aber das hier war einfach... falsch. So viel Schmerz, Leid, Tod und Verzweiflung, doch nach dem Sieg über Scarlet war kein neuer Morgen gekommen. Das Licht des Tages hatte die Schrecken nicht fort gewaschen, stattdessen hatte es sie deutlicher, sichtbarer, krasser gemacht. War das der Albtraum?


"Du brauchst diesen Schmerz nicht zu ertragen", sagte meine innere Stimme. "Du brauchst nur los zu lassen."


Ich klang sehr weise und väterlich in meinen Ohren. Aber warum hatte ich mir das gesagt? Und was meinte ich bloß mit "loslassen"? Je länger ich darüber nachdachte, desto mehr verstärkte sich mein Misstrauen. Meine innere Stimme, die über das Gesagte reflektierte klang irgendwie sehr anders als die Stimme, die zu mir gesprochen hatte. Meine Gedanken begannen zu rasen. Wer war in meinen Kopf eingedrungen? Ein Mesmer? Ein Mitglied von Scarlets Allianz? Warum ich?


"Mach dir keine Gedanken", erklang es in mir. "Lass einfach los und dich erwartet ein Leben frei von Sorge."


Die Stimme klang so liebevoll und beruhigend und alles in mir wollte sich ihr hingeben - doch warum wuchs mein Misstrauen anstatt sich zu legen?


Im Verlauf der nächsten Monate hörte ich die Stimme öfter. Zusätzlich zum väterlichen Beschützer sprach sie als grausamer Herrscher, als weiser Ratgeber und als vorsichtiger Bittsteller zu mir. Mal befahl sie mir, mein Gegenüber zu töten, ein anderes Mal warnte sie mich vor dem Verrat meiner Geschwister und riet mir, ihnen zuvor zu kommen. Dann wieder bat sie mich um einen harmlosen Gefallen. Würde ich nur einen speziellen Samen, den ich an einer dornigen Ranke fand, im Haus eines Menschen pflanzen, würde mich reicher Lohn erwarten. Ich lernte sie von meiner eigenen inneren Stimme zu unterscheiden und ihren Worten keine Beachtung zu schenken. An den Tagen aber an denen der Albtraum seine Finger nach mir ausstreckte, um den in jener Nacht gepflanzten Samen zum Keimen zu bringen, da klangen die Worte so süß und verführerisch, dass ich wirklich versucht war, aufzugeben.


Zu allem Überdruss gelang es mir in all dieser Zeit nicht, auch nur einen Hinweis darauf zu finden, wer da in meinen Verstand eingedrungen war. Und obwohl ich an mich hielt und mich den Einflüsterungen verweigerte, unterschätzte ich ihren Einfluss - ein Fehler, der mich beinahe meinen Verstand kostete. Ich konzentrierte mich so sehr auf die Stimme, dass ich nicht einmal bemerkte, wie sich meine Weltsicht mit der Zeit wandelte. Es begann mit wenigen Fremden ohne eigenen Zugang zum Traum, die mir unerklärlich bedrohlich erschienen. Zu dieser Zeit freute ich mich über meine ausgeprägte Intuition und ging der Gefahr dankbar aus dem Weg. Doch bevor es mir bewusst wurde, hatte ich mich vom Großteil der Bewohner des wieder besiedelten Löwensteins zurückgezogen und fristete mein Dasein in den Kanälen, die ich nur noch verließ, um Nahrung zu stehlen. Als mich endlich jemand fand, fiel es mir äußerst schwer, seine wahre Gestalt unter der verzerrten Wahrnehmung auszumachen. Auf den ersten Blick wirkte der Mann wie ein Monster, eine verrottende Leiche, deren Knochen an vielen Stellen unter ihrem Fleisch und ihrer Kleidung hervor lugten, mit rasselnden Ketten behangen und eine helle Fackel schwenkend.


"Wer hat dich denn hier runter verpflanzt, kleine Blume?", fragte er mit unverhohlener Häme in der Stimme.


Mit all meiner Kraft zwang ich mich, ruhig zu bleiben. Häme machte bei diesen Worten keinen Sinn, sie konnte also gar nicht echt sein. "Ich mich selbst. Ich möchte lieber allein sein. Es geht mir nicht gut."


"Es geht mir nicht gut", äffte er mich glucksend nach. "Natürlich nicht! Du verpasst ja den ganzen Spaß! Die Feier! Die Festlichkeiten!"


Ich wich einen Schritt vor ihm zurück. Welche seiner Worte hatte er wirklich gesagt? War der Mann überhaupt echt? "Für mich gibt es nichts zu feiern."


Der Mann spannte sich an und ich konnte die Feindseligkeit in seiner Haltung erkennen. "Pah! So wichtig können deine Probleme gar nicht sein!"


"Ich verliere den Verstand!", spie ich ihm wütend entgegen. "Jemand ist in meinem Kopf und versucht mich dazu zu zwingen, böse Dinge zu tun!"


"Na, und?", antwortete er und ich konnte das Vergnügen in seiner Stimme ausmachen. "Du könntest schlimmeres verlieren. Und böse ist nur eine Frage der Perspektive."


"Aber ich will diese Perspektive nicht! Und doch weiß ich, dass mir nicht viel Zeit bleibt. Bald schon wird die Stimme siegen." Ich muss ein armseligen Bild abgegeben haben, denn er trat auf mich zu und legte beschwichtigend einen Arm um mich. Es kostete all meine Überwindung, mich nicht aus seinem widerlichen Griff zu winden, doch mir war klar, dass er es gut meinte und alles andere Teil des Streichs war, den meine Augen mir spielten.


"Dann such dir doch einfach eine andere Perspektive. Eine andere Stimme. Einen anderen Herrn. Probier die hier!" Mit sanftem Druck neigte er meinen Kopf zur Seite, dann schob er mich mit dem noch immer um meine Taille gelegten Arm zum vergitterten Kanalausgang und deutete zur Stadt. Wo hielt er die Fackel, die uns noch immer beleuchtete? Ein weiterer Trick der Stimme? Bevor ich weiter darüber nachdenken konnte, richtete der Fremde wieder das Wort an mich. "Was siehst du?"


Nach langen, bedrückenden Wochen schlich sich endlich wieder ein leichtes Lächeln auf meine Lippen. "Löwenstein."


"Uuuund?", fragte er langgezogen und mit einem erwartungsvollen Unterton.


Das Lächeln wuchs. "Die Stadt lacht."


Abrupt ließ er mich los. "Sehr gut! Und jetzt komm hier raus! Am kaputten Löwenbrunnen beginnt gleich das lustige Spiel 'der verrückte König sagt'. Und der verrückte König sagt: Spiel 'der verrückte König sagt'! Häää-hehehe-ahahaaa!"


Mit einem meckernden Lachen wandte er sich ab und ließ mich in der Dunkelheit der Kanalisation zurück. Ich konnte und wollte gar nicht verhindern, dass meine Lippen sich zu einem vergnügten Grinsen öffneten. Zu lange hatte ich nicht mehr gelacht und obendrein war der Witz wirklich nicht schlecht!

"That which can be asserted without evidence can also be dismissed without evidence." - Christopher Hitchens