Hannah starrte auf das noch leere Blatt Papier vor sich, eine Schreibfeder in der Hand.
Es war wichtig, diesen Brief zu schreiben. Ja, sie wusste, das sie diesen Brief einfach schreiben musste – Fürchtete sie doch, das es anderenfalls zu verheerenden Folgen für ihr Umfeld und ihre Freunde kommen könnte. Und doch zögerte sie: Welche Worte waren in dieser Situation die rechten? Welche Formulierungen sollte sie nutzen, um anzusprechen, was so bedeutungsvoll war? Was -genau- wollte sie eigentlich ausdrücken?
Die junge Frau verzog ein wenig den Mund und kräuselte die Nase, als sie die ersten Anzeichen von Kopfschmerz spürte. Langsam schloss sie die Augen und ließ die letzten Tage, vor allem aber den Abend noch einmal Revue passieren. Eine gefühlte kleine Ewigkeit verging, bis sie ihre Gedanken so weit gesammelt hatte, das sie sich in der Lage fühlte, das reine Weiß mit ihnen zu füllen.
Ein tiefer Atmenzug, ein letztes, kleines Zögern – und dann ging alles plötzlich ganz einfach und wie von selbst von der Hand:
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Zeitung Der Volksheld
Aktion Das Volksherz
Verehrte Damen und Herren,
mit Erstaunen und Verwunderung las ich vor nicht allzu langer Zeit euren an mich adressierten Brief. Bis zu diesem Zeitpunkt habe ich von dieser Aktion nichts gewusst, und natürlich habe ich mich für solcherlei auch nicht persönlich gemeldet.
Das Ansinnen, das dahinter steht, ist sicherlich ehrenvoll, allerdings dürften die Zeiten, in denen sich Menschen auf diese Weise treffen und verlieben, bereits seit einigen Jahrzehnten vorbei sein. Männer und Frauen treffen sich heutzutage in Tavernen und Kneipen, auf Festen und Bällen oder auch während Veranstaltungen, die die Interessen der Leute bedienen. In Einzelfällen und entsprechenden Kreisen mögen auch noch von den Familien initiierte Treffen praktiziert werden... Aber das Treffen eines völlig Unbekannten in der gerade vorherrschenden, winterlichen Kälte mag schon seit Jahren niemand Liebe suchenden von Verstand mehr hoffnungsvoll und aufgeregt hinterm Ofen hervorlocken. - Wobei es hier sicherlich auch Ausnahmen von der Regel geben mag.Wie ihr lesen könnt halte ich nicht viel von dieser Aktion, und so dürfte es nicht überraschen, das mein erster Gedanke war, zu dem genannten Zeitpunkt am vorgeschlagenen Treffpunkt nicht aufzutauchen. Doch das wäre wohl ein Verhalten, das weit entfernt ist von Anstand und Moral und zudem jegliches Mitgefühl und jegliche Rücksicht auf die Mitmenschen vermissen lässt.
Nach reiflicher Überlegung habe ich mich also doch dazu entschlossen, zu dem gewiesenen Termin am benannten Ort zu erscheinen. Nicht, weil ich einen Partner für mich suche, sondern um den Herren nicht einfach in der Kälte stehen zu lassen. Vielleicht, so waren meine Überlegungen, hätte ich nach einem gemeinsamen Gespräch bei einem schmackhaften Tee sogar bei seiner Suche behilflich sein können, indem ich mich in meinem Bekanntenkreis umschaue nach eventuell möglichen Liebesinteressen.Doch so weit ist es gar nicht gekommen, die Herrschaften!
Ich war um genau 20:02 Uhr vor Ort und habe 22 Minuten lang, nämlich bis 20:24 Uhr, in der Kälte und Dunkelheit auf jemanden gewartet, der es weder für nötig gehalten hat zu erscheinen noch das Treffen zumindest im Vorfeld abzusagen. Ich fühle mich betrogen, erniedrigt und ausgelacht für mein wohlwollendes Ansinnen dem mir unbekannten gegenüber!Ich hoffe inständig, das dieser Herr umgehend aus eurer „Kartei“ genommen und gesperrt wird, auf das ein solch niederträchtiges und anstandsloses Verhalten nicht vielleicht einer hoffnungsvollen und liebesuchenden Dame das Herz bricht!
Außerdem möchte ich dringendst und nachdrücklich empfehlen, die eingereichten Bewerbungen zu prüfen, bevor hier Treffen organisiert werden. Wer weiß, wie viele verirrte Spaßvögel hier Leute anmelden, die eigentlich gar kein Interesse an dieser Aktion haben?!In Hoffnung auf entsprechende, zügig folgende Maßnahmen verbleibe ich
mit freundlichem Gruß,Hannah Yarim,
bei euch „Stille Ginster“
Nachdem sie geschrieben und geschrieben, erst ein Blatt, dann auch ein zweites gefüllt hatte, lehnte sie sich ein wenig zufriedener gegen die Stuhllehne und seufzte auf. Und während sie den Brief ordentlich in einen Umschlag schob hoffte sie für den Herren „breit und doof grinsend“, das sie nie erfahren würde, wer hinter diesem Pseudonym steckte...
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