Märchenprinzessin.
Das Thema ging Diarmai nicht mehr aus dem Sinn, seit sie das erste Mal darüber nachgedacht hatte.
Märchen, so sagte man, waren Geschichten über wundersame Geschehnisse und spannende Abenteuer, die im wahren Leben nicht passierten. Und, was vielleicht am wichtigsten war: Märchen hatten für gewöhnlich eine hintergründige Botschaft, eine Lehre für den geneigten Leser oder die geneigte Leserin. Nicht selten wurden Märchen dazu genutzt, Kindern Ideale und Moralwerte näher zu bringen, ganz spielerisch und subtil.
Aber wieso war das Märchenbuch-Ideal einer guten Frau so oft eines, das sie schwach machte und auf ein schönes Äußeres und mildes, gehorsames Gemüt beschränkte? Und wieso mussten die Männer immer rettende, kämpfende Helden sein, stark und furchtlos?
Sie dachte an alle vier Kinder, von denen sie Patin geworden war: An Rosalie und Levin, Andre und Chiara. Sie alle waren so wundervolle, einzigartige kleine Lebewesen, neugierig und freundlich und noch so unbeschwert von all den vielen Bürden des Lebens. Wollte sie ihnen tatsächlich beibringen, das sie sich so zu verhalten hatten, wie die Märchen, die sie selbst kannte, es aufzeigten? Wollte sie Rosalie, dem kleinen Wildfang, suggerieren, das ihr Charakter nicht dem einer guten Frau entsprach? Das sie – falsch war, wie sie war? Wollte sie dem so selbstlosen und friedfertigen kleinen Levin beibringen, das er mit anderen kämpfen und "hart" werden musste, um ein richtiger Mann zu sein?
Noch während all diese Gedanken und Fragen in ihrem Kopf herumwaberten war Diarmai klar: Nein. Nein, das wollte sie nicht.
Was sie wollte war ein Märchen, das Kindern sagte: Du bist gut, wie du bist. Du darfst Angst haben oder auch mutig sein, laut oder still. Du darfst dich für schöne Kleider interessieren oder auch für Schwertkunst, für technische Basteleien, Magie oder auch einfach für Käfer – Und es ist gut und richtig, egal ob du nun ein Junge oder Mädchen bist.
Vor Diarmais innerem Auge zeichnete sich eine kleine Heldin ab, mit gebräunter Haut, rundem Gesicht und rundem Bauch. Am liebsten trug sie weite Hemden, die dauernd auf einer Seite aus der Hose herausrutschten. Auf dem Kopf trug sie einen zu großen, weiten Schlapphut. Den hatte sie nämlich von ihrem lieben lieben Opi geschenkt bekommen, und er war ein besonders magischer Zauber-Wünsche-Hut! Oh! Oh, und immer, wenn die kleine Heldin sich freute, dann zog sich ein herrlich roter Schimmer über die prallen Wangen – Prinzessin Apfelbäckchen. Diarmais Prinzessin.
Die große Liese grinste spitzbübisch auf. Hei, was so eine wundervolle Prinzessin wohl alles für bunte Abenteuer erleben konnte?
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