Misstrauen

„Was hälst du von den neuen Rekruten?“


Eine männliche Stimme stört die rhythmischen Klänge der aufeinandertreffenden Schwerter unten auf dem Übungsplatz. Naunet steht an das Geländer des Treppenaufgangs zum Eingang des Anwesens gelehnt und dreht den Kopf mit Verzögerung zur Quelle dieser Stimme.


„Leander. Ahai, du auch hier?“


Der Mann mit den schulterlangen Haaren im Farbton dunklen Honigs stößt amüsiert Luft durch die Nase aus und gesellt sich zur Elonierin ans Geländer. Nun haben beide ihre Blicke auf das Geschehen unter ihnen gerichtet. In etwa 10 Metern Entfernung finden Übungskämpfe statt. Dicke, alte Matten liegen auf dem Hofboden aus und die Trainierenden, hauptsächlich menschliche Frauen und Männer, gehen ihren Übungen nach. Paare werfen sich gegenseitig auf die Matten, welche als Antwort auf das Aufprallen staubige Wolken freilassen. Eine weitere Gruppe weiter links übt Duell-Hiebe mit Schwertern, von einer Lehrperson vorgeführt.


„Weißt du, das gleiche könnte ich dich fragen. Du bist nicht mehr viel hier“, erwidert Leander schließlich nach ein paar ruhigen Augenblicken.


Hier, das ist das Anwesen des Mannes, dem sie die Tumulte der letzten Jahre zu verdanken hat. Gepflegte Hecken säumen die Mauern des Hauses, welche auf dieser Seite nur von eben diesem Treppenaufgang mit den zwei großen Statuen unterbrochen werden, wo die beiden gerade stehen. Hier könnte es immer Tag sein, oder aber auch immer Nacht. Doch alles ist darauf ausgelegt ein realistisches Abbild von Tages- und Nacht-, sowie der Jahreszeiten zu simulieren. Zu Beginn hegte Naunet eine gewisse Faszination für diese Illusion, doch inzwischen findet sie es befremdlich.


„Mein Zimmer hier ist neu vergeben. Mein Stuhl an der Tafel nicht mehr frei. Ich wüsste nicht, was ich hier den ganzen Tag machen sollte.“


„Niemand spricht von ganzen Tagen, Naunet. Aber du könntest deine magischen Übungen mit den Rekruten wieder aufnehmen, wie vor…“


Ein gefaltetes Stück Papier in Naunets Hand schnellt hoch und unterbricht Leander.

„Weißt du was das hier ist?“, fragt sie unwirsch und wendet den Blick vom Hof ab, um dem Mann direkt in die Augen zu sehen.


Dieser lenkt seinerseits seinen Blick um und auf das Papier. Es hebt sich einseitig eine Braue und er spricht sichtlich verwundert: „Ich… ahm, ich denke das wirst du mir gleich wohl sagen, ja?“


In aller Seelenruhe nickt Naunet und faltet das Papier auseinander. Es scheint sich um einen Brief zu halten.


„Das habe ich gestern bei mir vor Tonteich in meinem Briefkasten gefunden. Sonst erwarte ich eigentlich keine Post, aber sieh an…“ Sie kippt das Papier ein wenig, sodass als Wasserzeichen der Kopf eines Rabens zum Vorschein kommt.

„Ich dachte mir schon: Oh, schön meine Familie schreibt mir. Hah, aber nein. Es wird besser.“


Leanders Blick wandelt sich von Verwunderung zu einer Spur Irritation. Er kann die Ironie in ihren Worten, in ihrem Tonfall hören.


„Ich lese es dir vor, wie wäre das?“ Naunets Räuspern unterbricht sämtliche Antwortversuche und Vermutungen oder Gedanken, die Leander gerade fassen mag.


„Sehr geehrte Frau Al Anzeera, hiermit möchten wir Sie darüber informieren, dass in Kürze ein Prozess eines Misstrauensvotums gegen Sie in unseren Reihen in Kraft treten wird. Wir berufen uns auf dieses Recht auf Basis von fundierten Vermutungen, Sie würden die Interessen des Hauses nicht mehr vollumfänglich repräsentieren und vertreten. Wir haben Recht zur Annahme, dass die Vergabe Ihrer Position an Sie zu Unrecht erfolgte und mit sofortiger Wirkung rückgängig gemacht werden muss… Bla, bla, bla… Sie schreiben, dass sie dieses Votum in den Regeln des Hauses begründen können, was sie mir sonst noch alles schönes an den Kopf werfen und dann… Hochachtungsvoll, drei dicke, fette, schwarze Kreuze.“


Nur die Klänge des Übungsplatzes füllen in den kommenden Momenten die Atmosphäre, welche in jedem Moment zu explodieren droht. Naunet ist nach außen hin ruhig. Nicht einmal beim Vorlesen hat sie sich erlaubt laut zu werden, oder ihre Stimme zittern zu lassen. Diese Emotionen sind in ihrem Inneren verwahrt und brodeln nun langsam aber sicher an die Oberfläche.


Leanders Augen hatten sich allerdings schon bereits nach den ersten paar Zeilen geradezu ertappt geschlossen und er atmet langsam aus.


„Naunet… bitte lass uns darüber reden. Ich wollte es dir…“, beginnt er gerade zu erklären.


„Du wolltest WAS?“, faucht Naunet ihm allerdings direkt entgegen. „Was zum Grenth, Leander! Was soll die Scheiße? Sag mir, dass es ein schlechter Scherz ist. Eine Mutprobe unter Rekruten, irgendwas!“


Der Stein des Geländers tut gute Dienste den Wut der Elonierin in Schach zu halten. Ihre Finger pressen sich fest dagegen, bis die Fingerspitzen an Farbe verlieren. Wutentbrannt schlägt sie ihm den Brief mit der flachen Hand gegen die Brust, sodass Leander einen halben Schritt zurück weicht. Jedoch presst dieser nur seine Lippen aufeinander und überfliegt nochmals den Text des Briefes.


„Es… es ist kein Scherz Naunet. Leider. Ich wünschte genauso wie du es wäre einer“, ist seine kurze und doch schmerzhafte Antwort.


„Ein gottverdammtes Misstrauensvotum? Wann sind wir das verschissene krytanische Ministerium geworden, dass es SOWAS bei uns gibt?!“ Erneut machen Naunets Hände Kontakt mit der Brust des Mannes. Mit deutlich mehr Kraft schubst sie ihn provozierend einen weiteren Schritt nach hinten. Er wirkt ruhig auf sie, zu ruhig.


„Naunet. Naunet! Beruhige dich!“, kommen die Worte beschwichtigend aus seinem Mund. Doch sie bewirken nur das Gegenteil in ihr. Das Feuer ist entfacht und brennt in sekundenschnelle durch allen Verstand hindurch.


„Nach allem was ich für die Familie getan hab? Nach den Vorwürfen, meinem Verlust, meinem Schmerz, meiner Angst?! DAS ist der Dank? Und dann trauen sich diese Hurensöhne nicht einmal ihre Namen darunter zu schreiben?“


„Naunet, ich versichere dir, ich habe damit nichts zu tun. Ich… ich habe Gerüchte gehört, dass vielleicht… Aber woher sollte ich denn wissen, dass man das wirklich durchziehen würde?“


Wilde Wut blitzt in Naunets Augen auf und ihr Mund verzieht sich zu einem grotesken Lächeln.

„Oh sicher doch!“, spottet sie mit einem Lachen. „Du bist ja nur für sie alle hier verantwortlich. Du bildest sie ja nur aus! Du hast schon damals am Anfang weggeschaut, als die „Gerüchte“ um mich aufkamen. Als gesagt wurde ich wäre eure Hure! DU hast nichts getan meinen Ruf unter diesem Dach zu schützen.“


Unbequem fest drückt sich Naunets rechter Zeigefinger mittig auf Leanders Brustbein. „Ich bin deine verdammte Schwägerin, Leander. Ich habe deinen Bruder geheiratet, ich habe ihn als meinen Mann beerdigt. Meine Kinder nennen dich Onkel“, zischt sie scharf. „Und wenn sie das auch weiterhin tun sollen, dann… Mögen dir die Götter beistehen, finde mir diese Bastarde, die diesen Brief geschrieben haben. Ich dulde dieses Untergraben meiner Autorität nicht. Du lebst mit ihnen unter einem Dach, du sorgst für Essen auf ihrem Tisch! Zieh nicht deinen Schwanz ein, sondern benutze deine scheiß Stellung und bring mir die Verräter, Leander.“


Zwar sind ihre Worte immer noch laut und deutlich, doch für den letzten Teil greift sie seitlich unter einem scharfen Lufteinziehen von Leander in dessen Haare und zieht ihn die letzten Zentimeter zu sich hinunter. Ihre Lippen sind unweit seines Ohrs, als sie ihre nächsten Worte spricht: „Auf ihren Knien will ich sie vor mir.“


„Wenn sie schlau sind, dann überlegen sie sich ihr Vorhaben nochmal ganz genau. Und wenn nicht…“ Naunet zuckt mit den Schultern und entlässt Leander wieder.


Wie als wäre nichts gewesen, dreht sie sich wieder dem Übungsplatz zu.

Leander allerdings starrt Naunet weiterhin an, als hätte er einen Geist gesehen. Seine Lippen trennen sich für erste Worte, die er aber nie ausspricht. Stattdessen schüttelt er geradezu angewidert seinen Kopf.


„Was ist aus dir geworden, Naunet?“


„Eine sehr einfache Frage. Was ihr aus mir gemacht habt, Leander.“

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