„Lasst mich euch noch eine Saga erzählen, ehe ich aufbreche.“ Es waren Worte, die der alte Wanderer voller Freude und Stolz aussprach. Er war bekannt, für seine Geschichten, Legenden und Sagen aus den gesamten Zittergipfeln. Es hieß sogar, dass er mehr gesehen hatte, als manch anderer vielleicht verkraften könnte.
Die Jäger und Jägerinnen drängten sich gespannt näher an die lodernden Flammen des Feuers. Fast sofort herrschte Stille im Lager, das spärlich doch ausreichend eingerichtet war. Zelte und Fellstätten, alles was man auf einer Rast, die nur eine Nacht andauert, braucht. Aufmerksam lagen Augen und Ohren bei dem Alten, der seinen geschmückten Stab in den Händen drehte.
„Sagt, habt ihr schon die Saga des Geisterkindes gehört?“ begann Sjurd und schaute in die Runde um das wärmende Feuer.
„Ach, alter Mann! Sind doch nur Geschichten, du glaubst doch nich, dass da was Wahres dran is?“
Die weißen, buschigen Brauen Sjurd's hoben sich etwas an und er schaute zu dem Norn, der ihn äußerst skeptisch ansah. Leise lachte er und räusperte sich, ehe seine Worte kräftiger aus der Kehle kamen, als man es einem solch alten und gebrechlichen Kerl zumuten würde.
„Überzeuge dich selbst. Lausche und sag mir danach, ob etwas Wahres dran ist oder nicht.
Es müsste nun sechzehn Winter her sein, dass mir die Saga zu Ohren kam. Ich selbst zu der Zeit noch in der Blüte meiner Jugend, müsst ihr wissen!“ Er lachte leise und einige der Anwesenden schmunzelten oder lachten ebenfalls. Doch mehr verhalten, denn zu sehr hing die Spannung in den Norn. Wie oft bekam man schon auf der Jagd, mitten im Nirgendwo, die Gelegenheit eine Erzählung von Sjurd dem Wanderer zu hören?!
„Lornars Pass. Wunderschöne Gegend. Es war in einer Nacht wie dieser, als ein kleines Mädchen – kaum einige Monde alt – Mutter und Vater verlor. Gevatter Rabe holte sie zu sich und stellte das Kind schon viel zu früh vor eine Herausforderung. Einsam und verlassen lag es in einem Fell im Schnee. Schrie und weinte nach seinen Eltern, die so nah und doch so fern von ihrem Kind waren.“
Sjurd seufzte tief und stellte seinen Wanderstab auf die blanke Erde, die unter ihnen lag. Vorsichtig zog er mit dem Holz Linien auf den Boden, bis eine Rune eben diesen zierte.
„Hoffen und beten. So sagen viele. Kämpfen für ein Leben, für Stolz und Ehre. Doch was, wenn das Leben unwillig ist. Was, wenn es enden will, weil es keine Kraft hat? Was, wenn es Hilfe braucht, weil es die Aufgabe allein nicht bewältigen kann?“
Er richtete seinen Blick von der Rune auf und schaute in die Gesichter der Norn. Allesamt hatten sie sicher schon einmal an sich gezweifelt. Hatten ihr Tun hinterfragt und die Hoffnung verloren – zumindest ein wenig.
„Man sagt, das Kind habe überlebt. Die Geister haben es beschützt und Tiere der Wildnis zu ihm geleitet. Aufgezogen von Wölfen. Gelebt unter Bären. Mit Raben die Gipfel erkundet und von den Schneeleoparden die perfekte Tarnung erlernt. Und schließlich... den Segen von Mutter Eule erhalten.“
„Was?! Du redest wirres Zeug, alter Mann!“
„Mutter Eule hat sich geopfert, damit wir leben können. Das weißt du, wie wir es wissen. Sie ist tot!“
Unruhe herrschte plötzlich am Feuer. Doch der Alte schüttelte nur den Kopf. Mit dem Stab zog er drei senkrechte Striche durch die Rune hindurch und senkte den Blick auf diese.
„Wisst ihr, was diese Rune bedeutet?!“ Er knurrte ihnen die Worte schier entgegen. Barsch war seine Stimme, als wären Beleidigungen ausgesprochen worden. Schließlich schaute er wieder auf und fest funkelte er sie alle an, mit einem eisernen Blick aus hellgrünen Augen.
„Hoffnung. Es ist ein Zeichen der Eule. Und auch, wenn sie sich opferte. Auch, wenn wir nichts mehr von ihr hören und die Geister nur in größter Not zu uns sprechen... Solange wir glauben und hoffen – solange lebt Mutter Eule weiter. Ihr könnt es glauben, oder nicht. Doch woran denkst du, wenn dir die Hoffnung fehlt?!“
Mit knackenden Knochen stemmte er sich auf seinen Stab und erhob sich langsam. Eine Antwort wartete er nicht ab. Seine Rechte zog ein altes, verschlungenes Zeichen in die Luft vor seiner Brust, ehe sich die Hand flach auf die Herzensstelle legte. Er senkte das Haupt in einer respektvollen Geste und nur wenige taten es ihm gleich. Zweifel waren da. Deutlich zu spüren. Zweifel ob seiner Worte, doch vielleicht wusste Sjurd es. Denn mit einem Handwink wandte er sich ab und tat einige Schritte vom Feuer fort, ehe er sich nochmals umdrehte und zu den Jägern und Jägerinnen schaute. Fest durchdrang seine Stimme die Luft.
„Haar, so schwarz wie das Gefieder eines Raben wurde weiß wie Schnee. Zeichnungen auf dem Grund, die für manche keinen Sinn ergeben möchten, haben einen Solchen aus einem anderen Blickwinkel. Und wirre Worte – eine gespaltene Zunge, will man meinen – spendet doch Trost und Hoffnung, weil ein Blick so viel mehr helfen kann als ein paar aneinander gereihte Worte.“
Er drehte sich wieder herum und stemmte den Stab auf den Boden. Mit schweren Schritten ging der alte Wanderer aus der Behausung hinaus in die Kälte zurück.
„Die Geister der Wildnis wachen über euch. Die Gegenwärtigen, die Vergessenen und die Verlorenen.“