Alles hat seinen Preis

"Du verdammter Bastard! Du hättest sie beschützen müssen! Du hast den Segen der großen Bärin nicht verdient! Der Rabe hätte dich holen sollen und nicht sie!" Die Faust erhoben stürmte er auf den Alten zu, der auf den Leichnahm der alten, stattlichen Norn starrte. Es war ihm egal, ob er seinem Vater Respekt zu zeigen hatte. Schon lange hatte dieser ihn nicht mehr verdient. Es war ihm egal, was seine Geschwister von ihm halten würden, doch konnte er ihren Zorn und die Trauer spüren - ohne sie auch nur anzusehen. Sein eigener Zorn und die Verachtung, die er für seinen Erzeuger empfand, war über die vielen Winter mit getragen und stets ignoriert worden. Aber heute, genau jetzt, sollten sie sich entladen. Mit der vollen Kraft aus seinem Arm, in das Gesicht seines Vaters. Der alte Stig hatte es nicht verdient, am Leben zu sein. Nicht, wenn es nach seinem Jüngsten ging.
Ein Ruck ging durch seinen Arm, als er mitten im Schwung war. Der Schlag mit der Faust kam nicht an, denn eine Hand hatte sich um sein Handgelenk geschlossen und hielt es fest. Seine Schwester starrte finster und abgekämpft zu ihm hinab und schüttelte schließlich kaum merklich den Kopf. "Zügle deinen Zorn, Bruder," begann sie zu raunen und drückte mit der freien Hand seine Schulter. Doch ehe sie ein weiteres Wort verlieren konnte, riss er sich los, bebend, fast blind vor Wut und über den Verlust. Ein weiterer, verachtender Blick wurde auf den Alten geworfen, der noch immer fassungslos auf sein Weib starrte. Dann wandte sich der Jüngste ab und stürmte tief grollend aus den Überresten der Hütte.


--- Einige Zeit zuvor ---


"NORN!"
Es war ein nur allzu bekanntes Brüllen, das bis in die Hütte drang. Und sofort handelte jeder Norn. Begonnene Arbeiten wurden fallen gelassen, Krüge fielen scheppernd zu Boden und was im Ofen vor sich ging, war jetzt nicht mehr wichtig. Waffen wurden gegriffen, Schilde und Schwerter, Äxte, Hämmer und Bögen. Denn nur kurz nach dem Brüllen, bebte die Hütte, als die Jotun angriffen. Steine flogen gegen das Holz, teils gefolgt von gewaltigen Ästen, die so manchen Kerl überragten. Als die Hüttentür eingerissen wurde, war die Familie bereit zu kämpfen und ihr Heim zu verteidigen und alles was ihnen Lieb und Wichtig war. Zahlenmäßig waren ihnen die Jotun unterlegen. Doch das bedeutete nichts und das wussten alle Kämpfenden. Gemeinsam rückten die Geschwister vor, hieben mit ihren Waffen nach den Körpern der zwei Jotun, die ihnen gegenüberstanden, ebenfalls bewaffnet. Stahl klirrte aufeinander und die Kampfesschreie von Jotun und Norn vermischten sich zu einem bitteren Gesang.
Rasch verlagerte sich der Kampf auf den Platz vor der Hütte, wo die Dolyaks sonst weideten. Drei von den Fünf hatten flüchten können, doch zwei lagen in ihrem eigenen Blut, erschlagen von den Jotun. Es war fast wie immer, wenn die alten Herrscher der Zittergipfel das kleine Gehöft angriffen. Wie üblich stand der alte Stig oben auf dem Dach und brüllte Beleidigungen und Herausforderungen Richtung Berg. Als er sah, dass der Kampf auch vor der Hütte stattfand, begann er auch dort hinunter zu gröhlen. Noch nie hatte er etwas davon gehalten, Seit an Seit mit den Jotun zu leben. Und das sah man der Hütte an. Jetzt sogar noch mehr. Zerborstene Planken, die steinerne Schmiede halb eingeschlagen und der Schuppen eingerissen, als einer der Jotun einen Streich mit einer Keule tat und zwei der Kerle in diesen krachten. Doch Stig stand weiterhin oben auf dem Dach und hielt sich an seinem Stock fest, der als Krücke diente, seit ihn seine große Klappe ein Bein und einen Arm gekostet hatte. Selbst das hatte ihn nie daran gehindert, seiner Sippe so zu schaden. Viel zu spät bemerkte er die beiden anderen Jotun, die auf das Dach kamen und ihn packten. An den Schornstein wurde er gedrückt und drei, vier Mal dagegen geschlagen, bis das Gemäuer nachgab und der Norn in den Schnee geworfen wurde.
"Zu lange, dummer Norn!" riefen sie und rissen und zerrten am Schornstein, nahmen ihn Stein für Stein auseinander, bis sie auf Holz trafen und mit den blanken Fäusten und der blinden Wut auf dieses einschlugen.
Und während die Geschwister ihren eigenen Kampf schlugen, ertönte ein bitterer Schrei aus der Hütte, auf welchen sich eine Norn aus den Reihen löste und zu dieser rannte. Erschrocken starrte sie auf die einstige Hütte, deren Stützbalken nun von den Jotun bearbeitet wurden. Stück für Stück, mit bloßen Händen rissen sie das Dach ein. Noch nie hatte sie gesehen, wie die Ehemaligen etwas so rasch dem Erdboden gleich machten. Gehetzt und verzweifelt brüllte sie, als sie an der zerstörten Türe stand. Sie rief und schrie sich die Seele schier aus dem Leib, bis ihr Bruder an ihr vorbei rannte und ihre Rufe einstimmte. Das Schwert ließ er einfach fallen und wühlte sich durch die zerborstenen Holzbalken, stieg über jene hinweg und schob sie bei Seite.
Es war vielleicht das Glück aller, dass die Jotun nicht die Norn treffen wollten, sondern das zu zerstören, was sie an diesem Ort hielt. Doch als die Großen sich nach und nach zurück zogen, die Schläge nurnoch parierten und nicht mehr erwiederten, da wurde der Sippe das Ausmaß und der Preis bewusst, den sie bezahlen mussten.


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Das Gesicht in die Hände gedrückt, hockte er vor der fast restlos zerstörten Hütte. Er hörte die Stimmen, die wirr durcheinander sprachen und von Trauer und Zorn durchzogen waren. Der Preis war zu hoch gewesen, für das Respektlose Verhalten seines Erzeugers. Er war viel zu hoch. Und so reifte der Entschluss in ihm. Schnell und dennoch so überzeugt, wie schon lange nicht mehr. Einige tiefe Atemzüge tat er noch, ehe seine Füße ihn wie von selbst zurück zur Hütte trugen. Über Trümmer und zerborstene Balken. Umgekippte, zerstörte Stühle und um den Tisch herum. "Wir werden gehen," begann er unwahrscheinlich ruhig, sodass er selbst einen Moment inne hielt um sich zu vergewissern, dass er selbst sprach. "Wir werden ihren Körper verbrennen, damit sie mit Gevatter Rabe in die Nebel gehen kann. Danach werden wir in den Norden gehen, nach Hoelbrak...ohne dich." Kalt ruhte der Blick aus hellgrünen Augen auf seinem Vater, die Hände noch immer zu Fäusten geballt, doch ohne die wütende Spannung. Es war ihm, als hätte der Entschluss den ganzen Zorn aus ihm gewischt. Das Einzige, was noch davon übrig war, war dieses beklemmende Gefühl der Kälte. Einer anderen Kälte, als die draußen in Schnee und Wind. Langsam ließ er seinen Blick zu Halla wandern, der Ältesten. Sie begegnete diesem einen langen Augenblick, ehe sie erneut kaum merklich nickte. Keiner wagte es auch nur zu widersprechen. Wie ein stilles Abkommen, das sie trafen, über dem Leichnahm der eigenen Mutter. "Dein Zorn, deine Respektlosigkeit und deine Eitelkeit haben wir alle teuer bezahlen müssen. Sie ist die gutmütigste und großzügigste Norn, die jemals gelebt hat," Ilsa versagte die Stimme und leise drang ein Schluchzen hervor, worauf sie sich abwandte.


Es war ein teurer Preis, den die Sippe hatte bezahlen müssen, um vielleicht endlich den Vater zur Vernunft zu bringen und die Freiheit zu bekommen, die sie verdienten. Ein Preis, teurer als jedes Kleinod. Den Preis eines Lebens hatten sie bezahlt, denn die Mutter wanderte nun auf Rabes Wegen. Der Tag an dem sie in die Nebel ging war gekommen.
Erja Bärenmutter.

„The Norn will not change simply because the Dwarves do not understand our ways.
I'd rather be hated for who I am than loved for who I am not.“

Jora