Lyssas Panoptîkum

  • Im Lyssaschrein, diversen Bibliotheken sowie bei einigen Zeitungsboten und -händlern, kann einem folgendes, ordentlich hergestelltes Heft aus Büttenpapier in die Hände fallen oder gedrückt werden.

    Lyssas Panoptîkum

    Per disciplinam meam lux videbis.

    Vorwort
    Dieses Werk stellt den Grundstein der Glaubenslehre des Panoptîkums dar. Weder es, noch die Bewegung selbst, erheben Anspruch auf Vollständigkeit oder endgültige Richtigkeit. Gleichwohl bekennt sich jedes Mitglied des Panoptîkums zu der hierin enthaltenen Auslegung - bis zu dem Zeitpunkt, da uns Geschichte - oder die Sechs selbst - zweifelsfrei eines Besseren belehren.

    - Panoptîkum, 22. Zephyr 1328 n.E. -

    Ganzheitlichkeit
    Auch wenn Lyssa - wie jede der anderen Gottheiten - für eine bestimmte Domäne verantwortlich gezeichnet wird, lässt sich weder ihr Wesen, noch ihre Lehre in solch enge, zweidimensionale Grenzen fassen. Beide transzendieren allzu simplifizierte Vorstellungen und erstrecken sich gleichermaßen in den für uns nicht wahrnehmbaren sowie den für uns wahrnehmbaren Teil unseres Lebens. Alles was wir sehen und erkennen, was wir spüren und begreifen können, ist direkt oder indirekt von Lyssa beeinflusst. Dabei werden von Kultur zur Kultur unterschiedliche Aspekte der Göttin in den Vordergrund gestellt. Möglichst all dem Rechnung zu tragen und Gläubigen zu helfen eine ganzheitliche Vorstellung von Lyssa und ihren Lehren zu bekommen, soll die Aufgabe dieses Werkes sein.

    Das, was allem zugrunde liegt ...
    Jedwede Existenz, ob metaphysischen, physischen oder psychischen Ursprungs, verdankt sein 'Sein' dem jeweiligen Gegenpart. So sieht schon das 'Sein' selbst seine Existenz dem Umstand geschuldet, dass da ein 'Nicht-Sein' ist. 'Sein' und 'Nicht-Sein' - Existenz und Nicht-Existenz - gebären einander gegenseitig und verweisen auf das jeweils andere. Sie bedingen einander, sind zwei Seiten einer Medaille, die untrennbaren Teile eines Ganzen. Ohne das eine, würde das andere keinerlei Bedeutung besitzen.

    Dies nennt man Dualität und sie lässt sich in beliebig tiefen Ebenen des Lebens wiederfinden. Ohne Hitze, wüssten wir nicht was Kälte ist. Ohne ein Innen, hätten wir keine Vorstellung von einem Außen. Ohne Leere, wäre Fülle ohne Wert. Ohne einen Bösewicht, gäbe es keinen Helden - ohne Leid, keine Freude und ohne Licht keinen Schatten. Man sollte sich allerdings hüten vor dem Gedanken, dass Dualität der Anfang und das Ende von allem ist. Sie stellt lediglich ein Charakteristikum dar, welches allem zugrunde liegt.

    Auch kommen die jeweiligen Paare in keinen unveränderlichen Größen vor. Wie Ebbe und Flut, können sie anwachsen oder abnehmen. So folgt zum Beispiel auf eine Hochzeit des Krieges, stets die des Friedens. Gewinnen wir an Sättigung, verlieren wir an Hunger. Nimmt Liebe ab, schafft sie potenziell Raum für Hass. Es ist daher evident, dass eine Vermeidung von Extrema nur möglich ist, wenn sich die jeweiligen Paarungen die Waage halten. Ob das in allen Fällen und zu allen Zeiten gewollt ist, ist hingegen eine gänzlich andere Frage.

    Lyssa
    Lyss und Ilya; zwei Wesen, eine Gottheit. Untrennbar miteinander im Tanz verwoben, symbolisieren sie die fleischgewordene Dualität - Lyssa. Wann immer wir unseren Blick auf sie richten, sehen wir nicht nur eine Entität, sondern auch ein kosmisches Gesetz. Ein kosmisches Gesetz, greifbar gemacht für unsere limitierten sterblichen Sinne. Die Worte Malchors, die noch heute die Statuen der Göttin zieren, entspringen eben dieser Limitiertheit. Ihre Schönheit ist so flüchtig, weil es uns letztlich an Fassungsvermögen mangelt, die Tragweite ihres Seins und ihres Wirkens vollends zu verstehen. Zum greifen nahe und doch stets einen Schritt zu fern, scheint sie uns - tut sich doch schon die nächste unbekannte und verschnörkelte Sphäre auf, wann immer wir glauben sie und ihre Lehren endlich durchschaut zu haben. Schon allein deswegen kann das vorliegender Werk niemals als vollständig gelten. Nichtsdestoweniger, kann es versuchen Einblicke zu verschaffen.

    Schönheit und Chaos
    Schönheit an sich ist keine leicht zu erfassende Sache. Sie liegt im Auge des Betrachters und ist daher keine Eigenschaft, sondern ein Urteil - ein Urteil des Geistes, vielmehr der Gefühle. Zwar können wir uns, bei der Betrachtung eines Gesichts etwa, bei Eigenschaften, wie zum Beispiel Symmetrie, darauf einigen, dass sie eine Person ansehnlich machen - wenn der Anblick aber nicht unseren Geist und unsere Seele zu erquicken vermag, werden wir kaum davon sprechen, dass eben diese Person schön anzusehen ist. Könnten wir es hingegen, bedeutete das einen Zustand der in uns herrscht. Ein solcher Zustand nämlich, der angeblich Jünglinge, beim Anblick des Abbilde Lyssas, sich selbst vergessen ließ und zwar bis zu dem Punkt, an dem sie verdursteten.

    Wie Lyssa den Menschen in Wren gelehrt hat, übersteigt Schönheit reine Äußerlichkeiten. Sie maß in diesem Fall wahre Schönheit nicht an dem, was unmittelbar zu sehen ist, sondern an dem, was dahinter steht - an Taten und Handlungen. Wir haben es also mit einem tieferen Konzept von Schönheit zu tun - eines das sich auch auf komplexe und abstrakte Dinge oder Zusammenhänge erstreckt. Abstraktheit, Komplexität, Taten, Handlungen und Zusammenhänge; das wohl vielschichtigste Gebilde, was all diese und noch mehr Punkte aufweist, ist das Chaos. So nimmt es nicht wunder, dass Lyssa die Herrin desselben genannt wird.

    Um das zu verstehen, muss zunächst klar sein, was Chaos eigentlich ist. Oft wird Chaos mit Unordnung gleichgesetzt. Ein elementarer Fehler. Chaos ist latente Ordnung. Etwas erscheint uns chaotisch, wenn uns Informationen dazu fehlen. Das Studierzimmer eines Gelehrten kann für uns zuweilen das reinste Chaos aufweisen, was nichts weiter bedeutet als dass wir als Betrachter nicht darum wissen, was dieser oder jener Bücher- oder Blätterstapel beinhaltet und wie es dazu kam, dass er ausgerechnet dort angehäuft wurde. Sein Erschaffer aber, weiß ganz genau warum alles so ist, wie es ist. Er greift in einen der Stapel und zieht das gesuchte Werk heraus, ohne groß darüber nachdenken zu müssen. Für ihn herrscht kein Chaos, sondern Ordnung - seine Ordnung - Ordnung die gewachsen ist, Ordnung die Geschichte hat. Er legte dieses Buch vielleicht genau dort hin, weil er einmal bemerkte, dass er es immer und immer wieder braucht und es sich dort in guter Griffreichweite zu seinem Arbeitsplatz befindet. Der Betrachter aber weiß das nicht, daher versteht er es auch nicht - bis zu dem Zeitpunkt da man es ihm erklärt.

    Es ist solch Kausalität, solch Ursache, die jeder Wirkung, jedem Auskommen vorausgeht. Kennen wir den Weg den etwas genommen hat, verstehen wir auch, was sich vor unserem Auge abspielt. Unmittelbar eröffnet sich uns ein neuer Horizont, da wir die komplexen Vorgänge die zum Hier und Jetzt geführt haben sahen. Dies ist das alltägliche Kunstwerk Lyssas. Sie beeinflusst unser aller Leben, ohne dass wir es bemerken - ist nicht selten Ursache der Wirkung. Wir nehmen das für gewöhnlich als Glück oder Unglück wahr - doch wie schon erwähnt steckt dahinter weit mehr als positiver oder negativer Zufall.

    Manchmal erleben wir etwas, was uns unbegreiflich ist und uns vielleicht an festen Werten zweifeln lässt. Hätten wir jedoch genügend Informationen, könnten wir das Bild mit Abstand betrachten, würden wir auch verstehen, warum gerade uns diese Dinge passieren mussten. Manches ist dabei für uns nur schwer zu verkraften, weil wir dazu neigen dem Schrecken des Moments nachzuhängen. Was aber, wenn beispielsweise der Schurke, der uns gerade mit dem Messer bedroht und uns um unser Gold gebracht hat, dafür verantwortlich ist, dass wir auf die nächste Seraphenwache eilen und dort unsere eine wahre Liebe finden? Was, wenn wir diese Liebe niemals gefunden hätte, wenn uns nicht genau diese eine schlimme Sache, genau in diesem einen bestimmten Moment, widerfahren wäre? Mehr noch. Was wenn ein dringend benötigter Held nicht zum Helden heranwachsen konnte, weil er niemals Entbehrungen am eigenen Leib erfahren hat - Entbehrungen, die ihn zu einem wichtigen Umdenken veranlasst hätten?

    All dem wohnt Dualität inne, ist aber nicht zwangsläufig als nur gut oder nur schlecht zu werten. Nichts was geschieht, geschieht umsonst. Etwas Schlechtes kann zu etwas Gutem führen. Wenn man einmal erkennt, oder vielmehr erlebt, wie alles durch dieses komplexe Geflecht zusammenkommt, wird es schwer fallen die Genialität und Schönheit des Chaos zu verneinen.

    Wasser, Illusionen und Masken
    Es ist nicht verwunderlich, dass sich Lyssa, nach Abaddons Fall, dem Element Wasser angenommen hat. Es vermag Schönheit auf ganz natürliche Weise zu reflektieren und verkörpert ein chaotisches System. Lassen wir einen Tropfen Wasser auf unseren Handrücken fallen, so ist der Weg den er von dort aus nimmt offenbar völlig zufällig. Tatsächlich aber könnten wir ihn exakt bestimmen, wenn wir nur genügend Informationen zu allen Einflussfaktoren - wie beispielsweise Winkel der Hand, Hautbeschaffenheit und Windrichtung - hätten. Gleiches gilt für Wasserfälle, Wellenbewegungen oder den Verlauf von Flüssen und Bächen. Wasser kann als eine Art Kunstwerk oder gar selbst als Künstler der Natur betrachtet werden. Es ist anpassungsfähig, kreativ, geduldig und früher oder später findet es seinen Weg durch alles hindurch - heimlich oder voller Energie - Tugenden, die Lyssa zu schätzen weiß.

    Nicht zuletzt zeigt sich das in der Tatsache, dass sie sowohl Künstler als auch Mesmer unter ihr Patronat stellte. Beide Gruppen kommen ohne eine Anzahl dieser Charaktereigenschaften nicht aus oder zumindest nicht sehr weit. Beide erschaffen zuweilen Schönheit, umgeben sich mit selbiger und beide sind mitunter für Illusionen verantwortlich.

    Wenn Menschen von Illusionen sprechen, dann meinen sie meist "etwas, was nicht wirklich da ist". Eine Fata Morgana vermittelt uns den Eindruck, dass wir am Horizont Wasser finden, tatsächlich ist dort aber keines. Heißt das nun, dass das da vorn, was wir sehen, nicht wirklich da ist? Nein. Es heißt nur, dass das was wir glauben was dort ist, nicht da ist. Dort ist kein Wasser. Die Fata Morgana wird dadurch aber nicht zu etwas bloß Eingebildetem. Sie ist ein wirklich existierendes Phänomen, eine Spiegelung des Lichts an verschieden warmen Luftschichten. Den erschöpften Dürstenden, der sich unter anderen Umständen zum sterben in den Sand hätte fallen lassen, hat sie allerdings dazu gebracht, noch einige hundert Meter weiter zu laufen. Etwas was ohne sie niemals möglich gewesen wäre. Eine sehr reale Auswirkung. Allein die Aussicht auf etwas, die Hoffnung, hat in diesem Menschen ungeahnte Kräfte freigesetzt. Das ist was Illusionen vermögen und was letztlich auch Kunst vermag. Und so verwundert es nicht, dass schon so manch seelische Wunde durch schöne Werke aus unterschiedlichen Federn geheilt werden konnten. Natürlich ist aus dualistischer Sicht auch das genaue Gegenteil möglich. Worte und Bilder können Wunden reißen, ebenso wie die Illusionen eines Mesmers.

    Das ist keineswegs etwas, was uns nur in der Kunst begegnet. Es ist vielmehr etwas Alltägliches. Unbewusst erschaffen wir Illusionen von uns, können heilend oder verletzend, inspirierend oder demotivierend wirken - je nach Stand, Beziehung, Laune, Absicht oder Einstellung. Dem Freund gegenüber, geben wir uns anders als dem Kollegen, dem Bettler anders als den Adligen, unseren Feinden anders als unseren Verbündeten und doch verbleiben wir immer ein und dieselbe Person. Wir können so sein, wir können Dinge erreichen, weil wir uns verschiedener Masken bedienen. Eine Vielzahl von diesen tragen wir den Tag hindurch. Wir sind eine Spezies von Maskenträgern und Lyssa erinnert uns daran durch Symbolik. Es ist nichts wofür wir uns schämen müssten, sondern vielmehr ein Umstand, den es zu akzeptieren gilt. Es ist nicht inhärent schlecht. Eine höfliche Lüge zum Beispiel, kann durchaus einen handfesten Streit verhindern. Der Mensch funktioniert nicht unter den Bedingungen permanenter, nackter Unverblümtheit. Er würde sich in einem Zustand ständigen Konfliktes oder bitterkalter Distanziertheit und Ignoranz wiederfinden.

    Nur wenn wir diesen Aspekt verinnerlicht haben und aktiv auf uns selbst, auf unsere und die Masken der anderen achten, können wir ethisch sinnvolle, Dualität beachtende, Schlüsse ziehen und nach diesen vernünftig entscheiden und handeln. Nur wenn wir begreifen, dass all diese Masken einen bestimmten Zweck erfüllen, der uns nicht unbedingt zum Schaden gereicht und dass hinter all diesen Masken mehr steht, haben wir überhaupt eine Chance, die Personen um uns herum wirklich kennenzulernen.

    Schlusswort
    Wir können das, was uns Lyssa mitteilen möchte, nur dann annähernd verstehen, wenn wir all ihre Aspekte beachten und die Einzelteile zu einem ganzen Bild zusammenfügen. Tun wir das nicht, laufen wir verstärkt Gefahr uns zu verirren. Dieser Weg mag beschwerlicher sein als andere, schult den Geist aber wie kein zweiter. Nach allem ist es dieses Labyrinth Lyssas, mit dem sie uns auf die Probe stellt. Jene die sich ihres Geistes auf Basis ihrer Lehren bedienen, wird sie dereinst auch mit ihren Gaben segnen. Jene die das nicht vermögen, wird sie stets verwirren ...

    Konstruktive Kritik: Der manipulative Versuch durch psychologische Taschenspielertricks seinem Gegenüber die eigene Ansicht überzuhelfen.

    3 Mal editiert, zuletzt von Natsu (9. April 2015 um 19:22)

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