Es heißt, dass man vor dem Tod alle wichtigen Momente sieht, alles, was einen geprägt hat, alles, was einen bis zum aktuellen Augenblick brachte, richtig?
Blitt stand in der prallen Sonne von Löwenstein. Es roch nach Salz, nach Möwendreck, nach Schweiß und nach Tod. Er schloss die Augen und lauschte. Ein Offizier der Löwenwache verlas mit lauter Stimme ein Todesurteil. Ein Henker kaute lautstark Kautabak. Schaulustige tuschelten. Neben ihm platschten die Überreste einer Möwenmahlzeit in den trockenen Dreck.
Blitt hatte sich nie häufig gefragt, wie er sein Leben wohl verbringen würde. Das war einfach nicht...asurisch. Er wusste immer, dass er an irgendetwas forschen würde, um das Wissen und den Ruhm seines Kollegs zu mehren, alles andere war nebensächlich gewesen. Doch so einfach, hatte er erkannt, war es nicht. Denn nicht alle Probleme des Lebens hatten eine wissenschaftliche Lösung anzubieten.
Er erinnerte sich an den Tag seiner Arztweihe so, als wäre es gestern gewesen. Den Eid, den er feierlich mit ein paar seiner Jahrgangskollegen damals in der Ratshalle unter den strengen Augen der alten Ratsherren geschworen hatte. Dem Leben zu dienen, dem Tod zu trotzen und das Rad der Alchemie am Laufen zu halten, egal was komme. Das Wissen zu mehren und Leiden zu lindern. Ein Eid, der ihn sein ganzen Leben lang leiten sollte.
Er hatte das Studium am Kolleg der Synergetik abgeschlossen und sich ein paar Jahre als medizinischer Gehilfe in einem Hospital in Löwenstein verdingt. In dieser Zeit lernte er auch seinen engsten Freund kennen, Doktor Hubertus Dürenwall. Dürenwall war ein Mensch, aber Blitt kam einfach nicht darum herum, seine Qualitäten anzuerkennen. Dürenwall war ein hervorragender Arzt, mit einem umfassendem Wissen über den humanoiden Körper und, wie er sich nach Eintreten des Todes veränderte. Und gerade dieses Wissen zog Blitt an. Zwar ging es ihm stets um die Erhaltung des Lebens, doch der Tod war untrennbar ein Teil davon.. Jedoch... manchmal konnte man das Leben auch nach dem Tod bewahren. Das Konzept der Revitalisierung faszinierte Blitt, und Dürenwall war derjenige, der am meisten darüber zu wissen schien. Und auch, nachdem Blitt das Hospital verließ, um in Rata Sum zu praktizieren, forschten sie weiterhin gemeinsam an dem Thema. Und darüber zerstritten sie sich fast.
Dürenwall war fest davon überzeugt, dass die „perfekte Revitalisierung“, so wie er ihr Ziel nannte, nur mit der Hilfe der Götter möglich sei. Alte ascalonische Schriften sprachen von den Sechsen geweihten Schreinen, an denen frisch verstorbene wie durch ein Wunder ins Leben zurückkehrten. Blitt hingegen hielt dies für Humbug. Die Götter waren nur ein Teil der großen Alchemie, und alles, was sie einmal getan haben sollten, müsste sich mit der entsprechenden Menge an Energie reproduzieren lassen! Dies wiederum stieß Hubertus sauer auf. Und so brachen sie den Kontakt für mehrere Monate ab.
Im Rückblick wünschte Blitt sich manchmal, dass er nicht klug gewesen wäre. Oder noch klüger. Denn er forschte weiter an seiner Theorie und schaffte es mit seinem Assistenten Drirrik, einen Apparat zu entwickeln, der ihm die benötigte Energie liefern sollte. Er sollte Magie aus der Umgebung ziehen und sie sowohl heilend als auch elektrisch in das Testobjekt, ein verstorbenes Kaninchen, leiten. Dies lief...nicht so wie geplant. Blitt erinnerte sich noch gut daran...Drirrik rief ihn an die Maschine, weil die Werte verrückt spielten...er schubste ihn weg und beugte sich über den Korpus...die kleine Flamme, die fast spielerisch aufzüngelte und dann plötzlich die gleißende Explosion. Dann eine Menge wirrer Träume, von tanzenden Kaninchen und menschlichen Göttern in Baströcken. Und schließlich, wie er ganz allein in einem Krankenstationszimmer aufwachte. Die Kollegen erklärten ihm, dass große Teile seines Gesichts remodeliert werden mussten, dass weder sein Kiefer noch seine Nase noch im Originalzustand waren. Das letzte konnte er ihnen auch ohne die Info bestätigen, irgendwer hatte die Prothese so fest verschraubt, dass er seither nicht mehr sauber sprechen konnte. Außerdem hatte er manchmal Kopfschmerzen.
Drirrik war seit der Operation verschwunden, und Jahre später erfuhr Blitt, dass sein Assistent sich auf einem Piratenschiff als Knochenrichter verdingte. Eine Verschwendung!
Blitt wurde gesund, jedenfalls so gesund, wie es den Umständen entsprechend passieren konnte. Er fand heraus, dass sein Experiment tatsächlich Erfolg gehabt hatte, denn einige Wochen nach dem Unfall wurden die Gerüchte um ein verkohltes Minimonster laut, dass Starkstromdrähte fraß und kleine Kinder biss. Es stellte sich heraus, dass Blitt trotz des Rückschlages etwas geschafft hatte, was zuvor als Unmöglich gehalten worden war: andauernde Nekromantie ohne Meister. Doch das war nie sein Ziel gewesen. Er beendete die Existenz des ehemaligen Kaninchens und entsorgte seine Pläne, sehr zum Verdruss seiner asurischen Kollegen. Sie entrüsteten sich über den drastischen Schritt, doch Blitt wusste, dass er das Richtige getan hatte. Eine Maschine, die die Toten zu Monstern erweckte, war eine mächtige Waffe. Und Blitt diente nicht dem Tod, sondern dem Leben.
Ein lautes Husten neben ihm riss ihn kurz aus seinen Gedanken. Die Sonne brannte ihm auf die rosafarbene Nase und er wischte sich darüber. Er spürte die dicken Narben und lächelte freudlos. Jenes schicksalshafte Experiment hatte nicht nur Sein Leben geformt.
Er hatte sich damals bei Hubertus entschuldigt, und jener hatte ihm verziehen. Blitt verließ Rata Sum, denn der Druck seiner Kollegen, seine Pläne über das Revitalisierungsprojekt offenzulegen, waren ihm zu viel geworden. Er und Hubertus gründeten eine eigene Praxis und mieteten einen kleinen Hof außerhalb von Löwenstein an. Sie behandelten vor allem Bauern, die sich selbst über die Füße gepflügt hatten, aber auch anderes, weit zwielichtigeres Volk. Und sie kamen in Scharen, denn es verstarben recht wenige von ihren Patienten. Blitt stellte nie Fragen. Es war nicht an ihm, zu richten, das war Arbeit der Löwengarde, oder der Friedenswächter, oder Ähnlichem. Irgendwann allerdings wurde die Patientenlast zu viel. Blitt und Hubertus mussten weitere Mediziner anheuern. Und zu der Zeit hatte er sie kennengelernt.
Sie hieß Issa Kladdix und war eine junge Dynamikerin. In einem Brief hatte sie sich beworben. Ihre Schrift war zitterig, das Papier tintenfleckig, aber ihr Abschluss war hervorragend. Also hatten sie ein Treffen ausgemacht, Blitt war nach Rata Sum gereist, hatte sich ins Trinkatorium gesetzt und gewartet. Und dann kam sie.
Die junge Frau, die in sein Leben trat, war kaum kleiner als er, und Blitt hielt sich schon für ein hochgewachsenes Exemplar seiner Art. Ihr Haar erinnerte ihn an gesponnenen Zimt, ihre Haut an Kakao mit eingerührten Sahnestreifen. Und ihre Augen... wenn man an einem warmen Frühlingstag in das klare Wasser eines Gebirgbaches blicken würde, dann könnte man sich die Farbe ihrer Augen vorstellen. Wenn Blitt sich damals selbst beobachtet hätte, hätte er eine erhöhte Atemfrequenz, einen beschleunigten Herzschlag und eine Vergrößerung der Pupillen feststellen können. Nun tat das Issa. Und sie lachte glockenhell.
Sie hatte die Stelle. Und nicht nur, weil Blitt sich Hals über Kopf verliebt hatte. Sie war auch noch begabt! Sie konnte mit Kindern aller Arten umgehen, beruhigte aufgebrachte Norn mit wenigen Worten, rührte eine Salbe gegen Ausschlag an und beobachtete eine Bakterienkultur. Gleichzeitig. Issa brachte Licht in die Praxis, und viele Patienten kamen nun zu „Vorsorge-Untersuchungen“. Eine Erfindung von Issa.
Und zu Blitt's Glück wollte sie nicht nur mit ihm arbeiten.
Es hätte alles so schön sein können. Sie hätten eine Familie gründen können, nach Rata Sum zurückkehren können...taten sie aber nie. Blitt, Issa und Hubertus blieben bei ihrer kleinen Klinik. Rund fünfzehn Jahre lang.
Das Unglück begann damit, dass immer mehr Patienten verstarben. Und zwar nicht mehr nur die hoffnungslosen Fälle. Auch Patienten, denen Blitt eigentlich gute Chancen bei der Gesundung zugetraut hätte. Oder zumindest die Chance auf eine Gesundung. Zum einen war das natürlich bedauerlich, zum anderen aber war es auch sehr praktisch. Die Verstorbenen waren wunderbare Forschungsobjekte für Hubertus und Issa, die nun wieder am alten Problem der Revitalisierung forschten. Und nebenbei kamen so auch einige frische Transplantations-Organe in die gekühlten Schränke. Zuerst dachte Blitt sich nicht viel dabei. Als Arzt hatte er genug mit Leben und Tod zu tun um zu wissen, dass sie sich stets die Waage hielten. Doch er begann zu zweifeln. Viele der Patienten verstarben eher ungewöhnlich. Ein plötzliches Fieber, ohne Infektion. Herzstillstand. Plötzliches Koma. Und es waren stets diese mehr oder minder zwielichtigen Gesellen, die mit Vorliebe Papageien und Augenklappen mit sich führten.
Entweder tobte eine Krankheit durch die Klinik, oder...den letzten Gedanken wollte Blitt gar nicht zu Ende denken. Doch dies musste er. Oder jemand spielte den Todesengel.
Er erinnerte sich, wie er eines Abends das Zimmer eines Patienten betrat, dem er tags zuvor das Bein abgenommen hatte. Hubertus stand neben dem Patienten, seine Hand auf der schweißnassen, bleichen Stirn des scheinbar gerade Versterbenden. Blitt konnte sehen, wie die Adern seines Patienten anschwollen und die Haut immer bleicher wurde. Wie Hubertus angestrengt die Augen zusammenkniff und ihn gar nicht bemerkte. Er erinnerte sich daran, wie er selbst seine Hände hob. Blitt war nie ein großartiger Magier gewesen, doch nun kanalisierte er einen nicht ganz unansehnlichen Blitz und ließ ihn auf seinen Freund los. Auf seinen ehemaligen besten Freund.
Hubertus wurde rückwärts fortgetragen von der Energie des Blitzes, doch seine schwarze Magie schien ihn vor ernsteren Verletzungen zu schützen. Der Patient selbst rührte sich nicht und sollte es augenscheinlich auch nie mehr. Blitt stand fassungslos da, starr vor Entsetzen. Die Hände waren noch immer in der Luft.
„Warum?“ fragte er nur.
Hubertus rappelte sich auf, selbst schwer atmend.
„Er ist ein Pirat, siehst du das nicht? Ein Gesetzloser, ein Mörder! Er geht mit dem Leben anderer so um als handelte es sich um Schlachtvieh! Blitt, sieh doch selbst...sein Tod ist vermutlich das Beste, was dieser Welt je passieren könnte!! Nebenan braucht ein junges Mädchen dringend seine Nieren, Blitt! Denkst du nicht, dass sie sie mehr verdient hätte als er?!“
Blitt schüttelte den Kopf. Dies ging gegen alles, was er je gelernt hatte. Dies ging gegen seinen Eid, gegen seine Prinzipien! Inwiefern machte dieser...dieser Kuhhandel ihn besser als den Piraten?!
Hubertus schien seine Gedanken zu erraten.
„Wenn du mir nicht glauben willst, frag Issa! Sie macht dies hier normalerweise! Frag sie! Sie denkt genauso wie ich!!“
„Nein...Nein...Nein!NEIN!“
Ein weiterer Blitz flog, und diesmal gab es keine Magie, die Hubertus schützte. Mit einem lauten Knall fegte er ein Regal um, und es roch nach Alkohol und verbranntem Fleisch.
Es folgten leichte, schnelle Schritte, dann Issa, die ins Zimmer kam.
„Blitt, was – Oh Alchemie!“ Sie wollte zu Hubertus stürtzen, doch Blitt griff nach ihrem Arm und hielt sie fest. Er zog sie näher an sich und zwang sich, in ihre Augen zu schauen. Ihre strahlend schönen, reinen blauen Augen.
„Ftimmt ef, waf er fagte?“ fragte er. „Bift du in daf allef hier verwickelt? FTIMMT EF?!“
Sie zitterte , und endlich lies er sie los.
„Blitt, ich bin keine Mörderin, das weißt du...“ brachte sie kläglich hervor. „Ich...Wir tun das Richtige! Wir retten Leben, Blitt! Bitte, du musst mich verstehen...“
Wortlos drehte er sich um und verließ die Klinik. Er sollte sie nie wieder betreten.
Und nun? Nun war er in Löwenstein, das erste Mal seit vielen Jahren. Er stand in einer viel zu großen Menschenmenge und beobachtete, wie die Löwengarde mehrere Gestalten mit schwarzen Säcken über den Köpfen auf den Platz führte. Er sah, wie sich eine kleine Gestalt über einen Block beugte und den Kopf niederlegte. Wie man ihr den Sack fortzog und sich gesponnener Zimt über den Block ergoss.
Es heißt, dass man vor dem Tod alle wichtigen Momente sieht, alles, was einen geprägt hat, alles, was einen bis zum aktuellen Augenblick brachte. Doch es muss nicht der eigene Tod sein.