Wendepunkte
Es war, rückblickend betrachtet, nur ein winziger Augenblick gewesen, der ihre Welt zum Einsturz brachte. Ein Moment, so alltäglich und selbstverständlich, dass sie ihm keine größere Bedeutung beigemessen hatte. Nach dem Gespräch mit ihren Eltern, aus dem ihr Bruder wütend geflohen war, hatte sie Jacob draußen vor dem Haus eingeholt und gemeinsam waren sie zu ihrem Geheimversteck gegangen, einer kleinen, verborgenen Lichtung im Wald. Dort hatten sie sich ins weiche Gras auf den Rücken gelegt, in den nachmittäglichen, blauen Himmel geblickt und eine ganze Weile geschwiegen. Ihr Bruder hatte irgendwann erst seinem Zorn über ihre Eltern Luft gemacht und dann seine Sorgen mit ihr geteilt. Sie hatte wie immer nach seiner Hand gegriffen und ihm aufmerksam zugehört. Schließlich hatte er seine Fragen gestellt, über ihre Eltern, wer sie waren, warum sie sie weggegeben hatten, warum Johann und Margret dazu nichts genaueres sagen wollten...sie hatten ihre Gedanken und Gefühle geteilt, dort im Gras, und es war nicht anders wie unzählige Male zuvor gewesen. Mit Jacob an ihrer Seite war ihre Welt vollständig, aber sie wusste, dass es ihren Bruder drängte, mehr über seine Herkunft zu erfahren. Die Unterschiede zu ihren Geschwistern, die sie selbst als Laune der Natur und als Gegebenheit akzeptierte, schienen ihren Bruder mehr zu bewegen als sie. Wo ihre Schwestern leise waren, waren sie laut, wo ihr Bruder zurückhaltend und sorgfältig war, waren sie chaotisch und nachlässig. 'Rothaarige Teufel' schimpfte ihre Mutter gerne mit einem Lachen, und es stimmte. Keinen Schabernack, keinen Unsinn, keine Mutprobe ließen sie aus und vor allem machten sie sich ihre eigenen Regeln. Das war schon immer so gewesen. Wo andere Kindern folgsam gegessen hatten, was die Mutter ihnen kochte, hatten sie solange protestiert, bis sie ihren Willen bekamen. Hausaufgaben machten sie grundsätzlich nur wenn sie dazu Lust hatten und auch höfliche Konventionen befolgten sie ausschließlich, wenn es ihnen gerade nützte oder in den Kram passte. Aber all das spielte für Joana keine Rolle. Sie war eben so wie sie war, mit ihren Ecken und Kanten, und hatte diese Tatsache schon früh akzeptiert, ohne nach den Ursachen forschen zu wollen. Ihrem Bruder erging es aber offenbar anders, und so richtete sie sich auf der kleinen Waldlichtung schließlich auf, beugte sich halb über Jacob der noch mit dem Rücken im Gras lag und tauschte einen langen Blick mit seinen grünen Augen. "Wenn du willst, suchen wir nach ihnen." sagte sie, weil sie die schreckliche Zerrissenheit ihres Zwillings nicht aushalten konnte. Und entschied damit ihr Schicksal.
Der Raum, in dem sie sich wiedergefunden hatte, war nicht mehr als eine winzige, rechteckige Kammer. In einer Ecke lag die alte, schmutzige Matratze auf der sie saß und in der anderen stand der Eimer für die Notdurft, an den sie nur mit einer Grimasse denken konnte. Die Wände bestanden aus soliden, alten Holzplanken, zwischen die kein Blatt mehr gepasst hätte. Die Türe hatte auf dieser Seite keine Türklinke und das einzige Licht, das hinein fiel, kam von einem rechteckigen Guckloch, das auf Kopfhöhte in der Tür eingelassen war. Die Scharniere, die sie im Dunkeln ertastet hatte, schienen neueren Datums zu sein und waren sogar geölt. Außer ihrem Atem oder dem Klopfen ihres Herzens konnte sie keine anderen Geräusche wahrnehmen und der Gestank aus dem Eimer in der Ecke vereiltete jeden Versuch, mit der Nase genaueres heraus zu finden. Immerhin konnte sie sich aufrichten, wenn sie allerdings die Arme über den Kopf hob und nach oben streckte, stieß sie schon an eine ebenso solide Decke wie die Wände es waren. Vorhin hatte sie gefühlt eine halbe Ewigkeit Radau gemacht, gegen die Tür getreten, geschlagen und sich die Lunge aus dem Hals geschrieben aber nichts war passiert. Entweder hatte man konsequent ihren Lärm ignoriert oder von diesem war nichts nach draußen gedrungen. Beides Vorstellungen, die ihr missfielen. Sie hatte schon überlegt, wie lange sie wohl schon in diesem Loch festsaß, aber war zu keinem genauen Ergebnis gekommen. Die letzte, brauchbare Erinnerung bestand in einem Einkaufsbummel in der Stadt, den sie für die alte Emma hatte erledigen wollen. Sie war danach noch in eine Taverne gegangen und von dort irgendwann spät mit ihre Einkäufen aufgebrochen - danach rissen ihre Erinnerungen ab. Der Gedanke an ihre Tiere, von denen sie nicht wusste wie es um sie stand, machte sie rasend und Joana musste sich mit aller Macht davon abhalten, erneut gegen die Türe zu hämmern. Ihre Verletzungen begannen langsam abzuklingen, aber gerade ihr Arm und ihre Rippen schränkten sie noch gut in der Bewegungsfreiheit ein. Essen gab es durch das Guckloch in der Türe, da auf der inneren Seite ein kleines Brett angebracht war, auf dem man einen Teller abstellen konnte. Da sie noch nicht tot war, wollte man offenbar, dass sie noch eine Weile lebte, sonst würde man sie nicht füttern. Und sonst hätte man sie auch nicht verarztet. Also blieben eigentlich nur zwei Möglichkeiten: entweder, jemand hielt sie fest, um von einem anderen etwas zu erpressen - oder ihr drohte ein schlimmeres Schicksal als überfallen und verprügelt zu werden. Seltsam distanziert betrachtete Joana diese zwei Möglichkeiten in ihren Gedanken. Sie hatte die denkbar schlechtesten Karten - aber war dennoch fest entschlossen, dass Beste aus ihrem Blatt zu machen. Derart eingeschränkt in ihren Möglichkeiten, blieb ihr nur eines was sie tun konnte: Nachdenken, warum sie in diesem Loch gelandet war. Glaubte sie auch sonst an Zufälle, in diesem einen Punkt war sie sich sicher: ein Zufall war das hier nicht. Also ging sie in Gedanken die letzten Monate und Jahre durch, wen sie wann getroffen, was sie wo getan hatte. Und unweigerlich kam sie bei der mittlerweile bestimmt zugewucherten Lichtung an, auf der sie vor so vielen Jahren diese eine Entscheidung getroffen hatte. Wie hätte sie damals auch ahnen können, was sie bedeutete - und das sie ihr niemals wieder würde entkommen können, so sehr sie es auch versuchte.