Piratennächte I: Erinnerungen, die man am liebsten vergessen würde



Nur einige Schritte entfernt sog jemand Schleim im Hals hinauf, gurgelte einige Momente und spuckte dann lautstark aufs Pflaster. Es verging ein Atemzug, dann hörte sie ein unterdrücktes Husten und das schrill anmutende Lachen einer Frau. Irgendwer stimmte schief, dafür aber umso lauter, ein Lied über einen heimkehrenden Seemann und seine Abenteuer im Hafen an. Der Text war zotig und brachte die Männer und Frauen in der heruntergekommenen Schenke zum Lachen. Aber angesichts der Menge an diversen alkoholhaltigen Getränken, die sie an diesem Abend bereits zu sich genommen hatten, hätte auch ein biederes Liedchen aus dem Mund einer braven Jungfer noch Beifall erhalten. Auch wenn die Jungfer wahrscheinlich nicht sehr lange in diesem Zustand geblieben wäre.


Esca lauschte mit einem Ohr dem schrecklichen Gesang, aber ihre Gedanken schweiften immer wieder ab. Während die Mannschaft die Erfolge der letzten Monate auf See feierte, konnte sie sich nicht so recht freuen. Die Versuchung war groß, das Erlebte mit kräftigem Rum herunterzuspülen und zu hoffen, es niemals wieder erleben zu müssen, aber sie wusste, dass es davon nicht besser werden würde. Stattdessen löffelte sie weiter den Inhalt aus ihrer Eintopfschale und mühte sich, nicht allzu genau hinein zu blicken. In Würfel geschnitten sahen Ratten- und Dolyakfleisch nun einmal ziemlich ähnlich aus. Es schmeckte wider Erwarten recht gut, und nach dem Räucherfisch der letzten Wochen tat ihr die Abwechslung gut. Auch die Neigung des Kaschemmenkochs, die Gewürze etwas reichhaltiger zu verwenden, hob die Qualität des Eintopfs deutlich an.


Kurz schmunzelte sie zu sich. Hätten ihre Eltern sie so gesehen, in dieser von Piraten und Schmugglern aller Art frequentierten Spelunke, in der eine Hafenhure barbrüstig auf einem der Tische tanzte, um den feiernden Seeleuten noch ein paar Münzen mehr zu entlocken, sie wären entsetzt gewesen. Aber ihre Eltern hätten einen Ort wie diesen auch niemals besucht, dafür waren sie zu distinguiert, viel zu fein und zudem viel zu gut erzogen. Ein Mitglied des krytanischen Adels kannte derartige Etablissements nicht einmal, und sollte es doch zufällig einmal darüber stolpern, überliess man die Besuche derselben doch eher dem Personal. Wieder einmal ließ der Gedanke an ihre Familie sie leise schnauben. Damals - es schien eine halbe Ewigkeit her zu sein - hatte man sie aufgezogen wie einen Tanzbären.


Man hatte sie die Etikette der feinen Gesellschaft lernen lassen, wie man tanzte, einem potentiellen Heiratskandidaten schöne Augen machte, damit dieser neben einem hochrangigen Adelstitel am besten auch genug Gold mit in die Ehe bringen würde. Sie war herausgeputzt worden, gepudert, das Haar zu Locken gedreht, alles im Dienste des schönen Scheins. Und wie wichtig war die Meinung der anderen gewesen, wie sehr hatte man sich nach dem Geschwätz auf den Straßen gerichtet. Es waren so viele Erwartungen gewesen, dass sie schon mit acht Sommern das Gefühl gehabt hatte, in dieser Welt zu ersticken. An Liebe hatte es in ihrer Familie nie gemangelt, aber an Freiheit. Und der wohlmeinende entfernte Verwandte, der ihr ihren ersten Abenteuerroman geschenkt hatte, war ungewollt zum Auslöser geworden. Was die Helden in diesem Buch erlebt hatten, zeigten der jungen Esca eine andere Welt, eine andere Möglichkeit ...


Sie warf den Löffel klappernd in die nun leere Schale und lehnte sich an einen der Pfosten der Kaschemme, ließ den Blick wieder über die tobende Menge gleiten. Der erste Offizier hatte in beiden Armen eine Schönheit und schien sich nicht recht entscheiden zu können, welche er zuerst mit in seine Kajüte schleifen sollte, der Kapitän saß mit einigen anderen, ziemlich roh wirkenden Seeleuten an einem entfernter liegenden Tisch und schien über etwas zu verhandeln. Der Rest der Mannschaft trank entweder oder war bereits zum gemütlichen Teil des Abends übergegangen. Die Geschäfte der Hafenhuren liefen immer weitaus besser, wenn ein Schiff in Löwenstein einlief. Vor allem, wenn es so lange auf See gewesen war wie die 'Eiskönigin'. Auch für Esca war es ungewohnt, wieder festen Boden unter beiden Füßen zu haben. Das Schwanken fehlte irgendwie.


"He, Esca, komm doch mal 'rüber, ich hab' da auch was für Dich!" gröhlte Wulfson, ein Norn, dessen Axt auf See zu Recht gefürchtet war. Bei Enterkommandos schwang er sich meist als erster auf das andere Schiff und räumte bereits mit den ersten Schwüngen auf Deck ordentlich auf.
"Wenn's nicht ein Sack voller Goldmünzen is', rühr' ich mich nich' vom Fleck!" gab sie grinsend zurück. Schon seit er an Bord gekommen war, hatten sie sich immer wieder geneckt. Der Norn war ein guter Kamerad gewesen, und jemand, auf den sie sich immer hatte verlassen können.
"Anspruchsvoll wie immer - na dann nich'!" Die anderen an seinem Tisch lachten, dann zog der Norn eine der Schankweiber auf seinen Schoß und küsste sie herzhaft. Esca stieß sich von ihrem Stuhl ab und schob sich durch die lauten Sänger, Trinker und schwankenden Tänzer. Sie mochte die Leute von der 'Eiskönigin', aber nach einer halben Ewigkeit, in der sie mit ihnen auf engstem Raum zusammengesperrt gewesen war, lechzte sie nach Abwechslung. Auch Falrah Eisenspeer, eine recht zierliche Charr, die an Bord als Waffenmeisterin gute Dienste leistete, ging hinaus.


"Wir seh'n uns morrgen," grollte die Charr und nickte Esca leicht zu. "Hab' noch was zu tun." Das hatten sie alle, dachte Esca und nickte Falrah zu. Vielleicht ging sie auf die Suche nach einem kräftigen Charrmännchen, um sich ein bisschen zu entspannen. Zwar waren aus allen Völkern Mitglieder an Bord der 'Eiskönigin', aber Falrah hatte sich immer von den männlichen Charr ferngehalten. Letztlich war es gesünder. Je mehr Erotik an Bord knisterte, desto schneller waren diejenigen unzufrieden, die niemanden hatten. Der Käpt'n hatte es recht eindeutig gesagt: Vögeln könnt ihr an Land, an Bord wird gearbeitet. Die meisten hielten sich daran.


Sie schritt am Händlerforum vorbei und steuerte die Prachtvolle Piazza an. Der Brunnen wurde gerade repariert, die kursierenden Gerüchte über die Zerstörung hatte sie für eine gute Portion Seemannsgarn gehalten. Auch die Bewohner Löwensteins hatten ihre Seefahrerwurzeln nicht vergessen, man durfte hier nicht zuviel für bare Münze nehmen. Kurz schüttelte sie den Kopf und steuerte in Richtung Osten. Ein kleiner Spaziergang würde die trüben Gedanken vertreiben helfen, die sie nicht verlassen wollten. Seit sie das orrianische Schiff gesehen hatten, schien die Düsternis auf See allzu deutlich geworden. Nahe gerückt, fast greifbar. Allein das wabernde Entsetzen, welches das verlorene Schiff umgeben hatte, ließ sie nun erneut frösteln. Versunken in ihre Erinnerungen, achtete sie nicht darauf, dass ihr jemand folgte.