"Habt Ihr 'n paar Kupfer für mich, edle Dame?" Der abgerissene Straßenjunge mit den zerlumpten Kleidern versuchte sein Glück bei jedem, der an ihm voorüber ging, aber besonders zu bevorzugen schien er Frauen mittleren Alters, bei denen man davon ausgehen konnte, dass sie eigene Kinder hatten. Manche dieser Matronen waren ausgesprochen kaltherzig, aber die meisten ließen sich eingedenk ihrer eigenen Kinderschar erweichen, einem bettelnden Kind ein paar Almosen zu spenden. Yaree beobachtete den kleinen Jungen schon eine ganze Weile, von einem Stoffstand getarnt, an dem die Ware bei weitem nicht so interessant war, wie es ihr langes Verweilen vermuten ließ.
Der Junge war geschickt, belohnte jedes Geschenk mit einem von Herzen kommenden Lächeln und einem Segenswort für den jeweiligen Spender. Sicher würde er heute noch so manche Münze in sein Versteck bringen können - Kinder wie dieser Junge würden es schaffen, auf den Straßen zu überleben. Gerade als sie auf ihn zugehen wollte, um ihm auch etwas zu geben, war er schon wieder in der Menge verschwunden - ein Seraphenpaar auf Streife war am Ende der Straße erschienen, und vor solchen musste man immer eine gewisse Vorsicht wahren. Sie lächelte kurz und enttäuschte den Händler vom Stoffstand, der sie schon erwartungsvoll angeblickt hatte, dadurch, dass sie sich abwandte und ihren Weg fortsetzte.
Auch wenn sie an diesem Vormittag lieber ausgeschlafen hätte, war sie doch wieder aus ihrer Kammer in die Stadt aufgebrochen. Derzeit liefen ihre Geschäfte sehr erfolgversprechend, und sie musste einige der Münzen, die sie bisher verdient hatte, in die Pflege ihrer Schönheit investieren. Nicht umsonst hatte sie in der letzten Zeit einige verdeckte, einige offene Komplimente erhalten. Ihre Kunden bestätigten ihr, dass auch ihr gepflegtes Aussehen ein Grund für ein Engagement war, und solange sie noch jung genug war, um Kunden damit anzusprechen, so lange musste sie es zu nutzen wissen. Ihre Mentorin hatte immer gesagt, dass sie jeden Vorteil nutzen sollte, der ihr gegeben war, weil Vorteile allzu schnell verloren gehen konnten.
Jugendliches Aussehen währte vielleicht zehn, vielleicht fünfzehn Sommer, danach musste eine Gesellschafterin sicher genug im Geschäft sein, um dieses Argument nicht mehr zu brauchen. So schritt sie die kleine Seitenstraße im Ossa-Viertel entlang, die zu ihrem Stammcoiffeur führte. Er war ein Asura und benutzte immer ausgesprochen seltsame Apparaturen, um ihr Haar in die leichten Wellen zu legen, die sie bevorzugte, aber er war freundlich und preiswert zugleich, sodass sie sich einstmals auf dieses Wagnis eingelassen und es nie bereit hatte.
Zwei weitere Kundinnen saßen bereits auf den Barbierstühlen des kleinen Ladens und wurden von einer Menschenfrau und einer weiblichen Asura bedient, während der Ladeninhaber wie immer wieselflink auf Yaree zukam. Begeistert von einer neuen Erfindung, die er vor einigen Tagen getätigt hatte, sprechend, führte er sie zum dritten und letzten vorhandenen Stuhl, in den sie sich bequem sinken ließ. Es war wunderbar, sich den sanften Düften des Ladens ergeben zu können, die Gedanken schweifen zu lassen, während sich kundige Hände um ihr Haar bemühten. Der Asura brauchte zwar ein kleines, hydraulisches Stehpodest, um an sie heranzureichen, aber seine Hände wussten, was sie tun mussten.
Während er ihr die erschreckenden Einzelheiten seiner neuen Erfindung - irgend etwas, das sie verdächtig an einen Kampfgolem mit scharfen Scherenfortsätzen an den äußeren Extremitäten erinnerte - erläuterte und sie ab und an ein interessiert klingendes 'Aha' einwarf - dutzende Teestunden mit ältlichen Damen der Gesellschaft gaben hierfür eine hervorragende Übung ab - verlor sich die Gesellschafterin in die vielfältigen Erinnerungen an die letzten Tage.
Die Woche hatte mit einem angenehmen Abend begonnen - der junge Baronet von Brunnmark hatte ihre Dienste wieder in Anspruch genommen und seine Führung durch die besonderen Orte von Götterfels fortgesetzt. Dass er sich in der Stadt nicht besonders gut auskannte, hatte für Yaree den Vorteil, dass sie ihn mit einem hohen Maß an Abwechslung konfrontierten konnte, das ihm zu gefallen schien. Überhaupt besaß er wenige typische Adelseigenschaften, wie man sie in Götterfels in überreichlichem Maße über die Jahre hinweg kultiviert hatte. Gerade was Arroganz, Selbstüberschätzung und Egozentrik angingen, konnten dem ansässigen götterfelser Adel nur wenige das Wasser reichen. Umso angenehmer waren die Unterhaltungen mit dem weltoffenen Baronet, dessen erfrischend klare Sicht auf die Verhältnisse ihn zu einem sehr vielfältigen Gesprächspartner machten.
Er hatte an dem Kriegszug nach Fort Salma teilgenommen und war verwundet worden - was auch dafür sprach, dass er nicht zu jenen zählte, die sich im Kriegsfall vornehm aus allen ansatzweise blutigen Augenblicken heraushielt. Dass die Schlachten offensichtlich nicht besonders gut organisiert worden waren, ließ bei Yaree ein dumpfes, unangenehmes Gefühl zurück. Die Zentauren hatten sich so weit vorgewagt, dass sie zu einer echten Gefahr geworden waren - dabei Soldatenleben vergeudet zu sehen, war kein sehr angenehmer Gedanke. Auch ein Kommandant, der lieber das Leben von Lady Flammenfels in Gefahr gebracht hatte, anstelle einige seiner Geschosse zu opfern, erschien ihr mehr als fraglich - glücklicherweise hatte auch diese den Kampfeinsatz einigermaßen unverletzt überlebt.
Die auf seine Kriegsschilderungen folgenden Erzählungen aus seiner Heimat Brunnmark sprachen hingegen von einem einfachen, aber zufriedenen Leben auf dem Land, bei dem vielleicht die Abwechslung nicht so groß war wie in der Stadt, aber das Leben an sich weniger hektisch und an die Meinungen anderer angepasst verlief. An diesem Abend hatte sie ihn wieder überraschen können - nicht jeder Ort entsprach dem äusseren Aussehen, und ihn die angebotenen Annehmlichkeiten genießen zu sehen, hatte auch Yaree gefallen.
Er war einer der wenigen Menschen, die sie bisher kennengelernt hatte, welche sich vollkommen einem Moment hingeben konnten, und sie hatte für eine ganze Zeitlang vergessen, dass die gemeinsam verbrachten Stunden auf einer geschäftlichen Vereinbarung beruhten. Dass es einen weiteren Abend geben würde, dessen war sie sich sicher, und sie freute sich darauf, nicht zuletzt, weil er einfach ein sehr angenehmer Mensch war, mit dem sie sicherlich auch abseits ihrer Tätigkeit gerne Zeit verbracht hätte. Andererseits wäre die Gelegenheit, mit einem Adeligen ins Gespräch zu kommen und ihn unbefangen treffen zu können, sicherlich sehr viel geringer gewesen. Manchmal erwies sich der Zufall eben als ein sehr freundlicher Gefährte ...
Auch die zweite interessante Begegnung dieser Woche beruhte auf einem reinen Zufall. Yaree hatte sich in den 'Gebrochenen Flaschenhals' begeben, um zu sehen, ob sie Athes, Laranell und die anderen dort treffen würde, hatte aber kein Glück - nur Kor stand an jenem Abendmit einer hübschen Blondine an der Theke, welche sich redlich bemühte, ihn für sich zu interessieren. Während sie ihren Saft getrunken und dem Gespräch eher gelangweilt gelauscht hatte, war schließlich doch Athes erschienen, der sie freundlich begrüßte, aber schon nach wenigen getauschten Worten wieder aufgebrochen war, weil ihn dringendere Geschäfte riefen. Wie er sich bewegt hatte, ließ sie vermuten, dass er verletzt sein musste, doch hatte er sich dazu nichts entlocken lassen. Irgend etwas musste passiert sein, aber für den Moment hatte sie ihre Neugierde bezähmen müssen. Vielleicht würde sie in den nächsten Tagen mehr dazu erfahren, wirklich gut hatte er nicht ausgesehen, eher erschöpft.
Wieder eines Gesprächspartners ledig, hatte sie sich einem ebenfalls alleine anwesenden Herrn neben sich zugewandt, der sich als 'Malcolm' vorstellte und erst kürzlich einen Laden für Tabakwaren im Ossa-Viertel eröffnet hatte. Das Gespräch mit ihm war angenehm gewesen, vor allem hatte er nicht die lästige Angewohnheit vieler Händler offenbart, zu jedem Zeitpunkt auf einen möglichen Verkauf zurückkommen zu wollen, sondern sich bereitwillig mehreren Themen nacheinander zugewandt. Dass sie ihn auf die Idee gebracht hatte, in seinem Laden auch Räucherwerk für weibliche Kunden zu verkaufen, honorierte er mit einer Einladung zu einem Kirschlikör, und schließlich war sie neugierig genug gewesen, um ihm zu seinem Ladenlokal zu folgen, welches sich direkt neben der 'Wunderlampe' befand.
Schon an der Tür hatten sie die Vielfältigkeit und Intensität der Gerüche nahezu erschlagen, und im Inneren des Ladens hatte es sich als fast unmöglich erwiesen, irgendeinen Geruch aus dieser wahren Menge an Nuancen gesondert herauszufinden. Besonders fasziniert hatten sie die handgeschnitzten Pfeifen, die Malcolm in einer gesonderten Vitrine anbot - es gab welche im Stil der Nornhandwerker, welche die Totemtiere der Norn zeigten, aber wirklich angetan hatte es Yaree eine Pfeife, die zur Ehre Lyssas hergestellt worden war und einen perfekt geformten Frauenkörper mit Goldeinlegearbeiten zeigte. Bei ihrer Neugierde gepackt, hatte Yaree schließlich auch Schnupftabak mit Orangenaroma probiert - eine Erfahrung, die ihre Geruchsempfindung für eine sehr lange Zeit mit totalem Orangengeruch überlagert hatte.
Dann hatte ihr Malcolm eine besondere Freude gemacht und ihr ein Entwurfsmodell der Lyssa-Pfeife geschenkt - wobei sie dann doch von ihrem Grundsatz abgewichen war, nicht zu rauchen. Mit besonderem Tabak gestopft war es wirklich ein interessanter Genuss gewesen, den sie sich an ihrem nächsten freien Tag erneut gönnen würde - und Malcolms Laden konnte sich ihrer Empfehlungen sicher sein. Es war eine kleine Welt, die man darin betrat, geführt von einem einfühlsamen, interessanten Menschen mit Sinn für Details. Ganz sicher würde sie diesen Laden wieder aufsuchen, das hatte sie sich vorgenommen.
Die letzte abwechslungsreiche Begegnung dieser Woche lag erst einen Abend zurück - während der Asura nach dem Schneiden der Haarspitzen und einer Wäsche ihrer schwarzen Locken mit duftendem Schaumöl zu einer ausgesprochen entspannenden Kopfhautmassage übergegangen war, musste Yaree ein Schaudern unterdrücken, welches nicht davon rührte, dass die Massage angenehm war. Lord Starfall hatte sie dieses Mal durch eines der Asura-Portale, welche sie für gewöhnlich mied wie ein Stalljunge den Badezuber, nach Löwenstein geführt, um sie dort zu einem Hahnenkampf am Strand zu bringen. Umringt von einer blutgierigen, wettenden Menge hatten die beiden die Kontrahenten beobachten können und schließlich eine private Wette abgeschlossen, bei der sie das starke Gefühl nicht losgeworden war, dass der Graf viel lieber eine private Geste denn Münzen als Wetteinsatz gehabt hätte, provozierend genug waren seine Worte jedenfalls gewesen.
Dass ihr gewählter Hahn den Kampf schließlich gewonnen hatte, war für ihn kaum erfreulich gewesen. Die sich daraus entwickelnde Prügelei zwischen dem Besitzer des getöteten Tiers und dem des Siegers, welche zu einer Massenschlägerei geworden war, hatte ihr jedoch eine Seite an ihm offenbart, die sie künftig auf der Hut vor ihm bleiben lassen würde - seine Augen hatten geleuchtet, als Blut geflossen war, er schien sich auf eine stille, sadistische Art an der Gewalt erfreut zu haben, verbarg diese Regungen jedoch auch geschickt wieder, als sie vor den Prügelnden geflohen waren. Sie hatte schon vernommen, dass er der nekromantischen Kunst zuneigen sollte, doch als er es ihr an diesem Abend bestätigt hatte, war es ihr schwergefallen, ihren eigenen Abscheu davor gut zu verstecken.
Wieder hatte er sie in einer privaten Sache um ihren Rat gebeten, weil er, wie er später angefügt hatte, ihre kreative Sichtweise der Dinge zu schätzen wusste - doch war sie sich sicher, dass ihn vor allem das Katz-und-Maus-Spiel reizte, das sie unterschwellig führten. Ihr war nicht entgangen, dass er immer wieder versucht hatte, sie zu berühren, und jedes Mal war sie ihm so harmlos wie möglich ausgewichen. Warum sie sich für ihn nicht so recht erwärmen konnte, konnte sie nur der gesamten Erscheinung zuführen, die er bot - dass ein Bankier geschäftstüchtig sein musste, verstand sich von selbst, doch erschien er ihr, je näher sie ihn kennenlernte, zudem als ausgesprochen skrupellos und auf den eigenen Vorteil bedacht.
Frauen mit weniger zu verlieren mochten sich seinen Avancen und seiner Stellung ergeben, doch sie hatte gelernt, Vorsicht walten zu lassen und versuchte, jedem Fallstrick auszuweichen, den er ihr auslegte. Wie lange dies gut gehen würde, konnte sie nicht sagen - einen Mann wie ihn verprellte man nicht ungestraft. Noch schien dieser Tanz auf dem Tauseil zu gelingen, doch sie würde ihn vorsichtig tanzen müssen und sich zu gegebener Zeit ein Sicherheitsnetz suchen, in welches sie springen konnte, wenn es nötig sein würde.
Als der Asura mit einem seiner obskuren Haartrocknungsapparate herbeiwankte und ihr damit die heiße Luft auf das rabenschwarze Haar blies, blickte sie in den Spiegel vor sich und sah ein entschlossenes, gefasstes Gesicht. Was auch immer in den nächsten Tagen geschehen würde, sie würde dem zu begegnen wissen - schließlich hatte sie sich nicht umsonst so hart empor gearbeitet. Vielleicht sollte sie an diesem Tag noch einen Besuch bei einem guten Freund einschieben, dessen juristischer Rat ihr auch in der Vergangenheit eine Hilfe gewesen war ...