Knapp.
Es war so unglaublich knapp gewesen, dem zu entkommen was unten in der Schlucht noch immer lauerte. Seine rechte Seite schmerzte, auch wenn das Harz bereits das Schlimmste zu vermeiden schien. Immerhin würde er nicht noch mehr seiner Rinde verlieren. Glyzavo zog sich mit letzter Kraft den Felsvorsprung hinauf. Fasern rieben auf, als er sich mit dem Bauch über die scharfe Felskante schob und dort einfach direkt liegen blieb.
Den Kopf seitlich gedreht blickten die nachtschwarzen Augen ins Leere. Er war nun schon einige Wochen hier, gar schon etwas über einen Monat und noch immer fühlte er sich nicht besser. Er hatte gehofft das es erträglicher werden würde, das die Zeit Wunden heilt. Immerhin sagte man das doch so. Doch die Zeit machte es nur schlimmer. Die Zeit die er hier verbrachte, brachte nur hervor das die Lautlosen ein Leben führten welches er mit jedem Atemzug mehr beneidete. Auch wenn die Sylvari nach dem Abbild der Menschen gebaut wurden, waren es doch einzig die Lautlosen, welche ihnen am ähnlichsten waren. Denn sie fühlten nur sich selbst. Sie fühlten nicht die Mutter, die Erinnerungen und schon gar nicht die Empathie der Geschwister, welche ihm solche Schmerzen bereitete. Allein die Erinnerung an die Gefühle der Geschwister bereitete ihm Atemnot.
Auf den Rücken gedreht strichen die Finger der rechten Hand über die eigene Flanke hinweg. Vier tiefe Risse in der Nähe der Rippengebilde. Um ein Haar hätte das Vieh ihn komplett aufgeschlitzt und in kleine Mundgerechte Teile zerteilt. Bei den trockenen Wurzeln der Mutter – was wollte dieses Ding nur von ihm? Soweit es dem Hüter bekannt war, gab es keine bekannten Fressfeinde und doch schien der Speichelfluss schlagartig zuzunehmen, wenn das Ding den ehemals so Roten nur witterte. Die erste Begegnung war schon keine freundliche gewesen. Am liebsten hätte man den Hüter wohl direkt dort schon geköpft – jedenfalls nahm er es an, war es jedoch die borkige Wulzt auf der rechten Gesichtshälfte die nun daran erinnerte das er fast sein Augenlicht eingebüßt hätte. Tastend strichen die Finger über die wulztigen Stellen hinweg, erfühlten neue Erhebungen und raue Stellen an denen sich der Heilungsprozess extrem langsam in Gang setzte.
Der Himmel klarte auf und ließ etwas Sonnenlicht an den Ort der momentan sein Zuhause war. Nur zu dieser Uhrzeit war es der Sonne möglich den Ort zu erhellen und das auch nur wenn keine Wolkendecke es verhinderte. Heute hatte der Hüter Glück. Langsam, kraftlos, wie ein zerbrochener Ast im Wind schaukelte er ein wenig auf der Stelle, eh er wenig gen Seite rutschte, in den Sonnenfleck hinein. Warm war es. So angenehm warm. Genießend schloss er die Augen und fühlte wie die Lebensgeister durch seine Fasern krochen. Ein paar Mal hatte er versucht nach oben zu klettern und doch war es immer der Absturz, der ihn nach so einem Versuch erwartete. Zu wenig Nahrung, zu wenig Sonne einfach inzwischen zu wenig Kraft um komplett nach oben zu krackseln. Doch wenn er es schaffte hier liegen zu bleiben und einfach immer weiter mit dem Sonnenfleck mitzurutschen, könnte er vielleicht einen neuen Versuch wagen. Doch schnell wurde die Hoffnung zu Nichte gemacht. Keine halbe Stunde später schoben sich dicke Wolken vor die Energiequelle und ließen nur noch trübes Licht hindurch. Für einen Kletterversuch reichte die Kraft sicherlich nicht aus. Ein neuer Absturz würde ihn auch nur wieder hinab bringen, womöglich ganz tief sogar, zu dem Vieh das nur darauf wartete den Hüter doch noch zu zerteilen. Immerhin fiel er nun nicht mehr so sehr auf. Seine rote Rindenhaut schälte sich in dünnen Blättchen ab. Wie die Rinde einer Birke konnte er, meist ausgelöst aus Langeweile, vereinzelt Stellen abziehen. Immer heller wurde er. Nur an den Wachstumsknoten und den kräftigeren Wuchsstellen blieb die rote Farbe erhalten. Sein Körper passte sich immer mehr dem neuen Ort an und auch seiner Empfindung. Dem Gefühl einfach zu verschwinden, zu verblassen und irgendwann vergessen zu werden. Auch wenn Träume ihn erreichten, auch wenn in ihm Geschwister auftauchten und von Dingen erzählten die womöglich wahr waren so waren es doch nur Träume die seine Erinnerung ihm schenkte um nicht gänzlich den Verstand zu verlieren.
Einsamkeit war ein Geschenk und doch war sie auch eine große Bürde. Wie lange würde er hier überhaupt überleben? Wusste er von einem Sylvari der verhungert war? Essen tat gut, aber verhungern, war dies überhaupt möglich? Würd er am Ende vertrocknen wie eine Wüstenpflanze bis man ihn fand und dann in die Sonne stellte? Ein bitteres Lächeln legte sich auf die spröden Fasern seiner Lippen. Sogar hier blätterte die rote Faserhaut vor sich hin. Mit den Fingern dran zupfend wanderten die nachtschwarzen Augen erneut hinauf, zu dem kleinen Fleck der die Sonne hindurch gelassen hatte. In der Schlucht grollte das Wesen vor sich hin, das ganz knapp den Hüter verfehlt hatte. Ohne Blattwerk und Sonne war er womöglich wirklich essbar – doch ein sehr karger und trockener Snack.