Draußen fiel der Regen steil aufs Pflaster, wenn er nicht vorher vom Wind zerzaust wurde. Der Tag hatte noch einmal einen kalten Einschnitt in den sich regenden Frühling getrieben, aber im alten Iorgahaus, in dem Helena als Kind mit ihren Eltern und Brüdern gelebt hatte, spürte man davon wenig. Sie saß zusammen mit anderen, Bediensteten und Freunden, in einem fast leergeräumten Zimmer, das gerade als Kistenlager fungierte, und ließ eine Flasche mit etwas, das Vitos Bruder Adeodato als Bananenrum bezeichnete, immer wieder an sich vorbei kreisen.
Eine große Holzkiste diente ihr als Stuhl, die Kante einer etwas kleineren als Ablage für ihre Füße.
Mit schnellen, vergrübelten Augen sah sie zwischen den Gesichtern hin und her, aber wie der Rum ging auch das Gespräch an ihr vorbei.
„...und dass ein hässlicher Hurensohn wie du sowas behauptet wundert mich nicht. Komisch eigentlich, dass du noch nicht verreckt bist. Wärst du nicht mein Bruder, ich hätt dich schon erschlagen!“ Vito ersoff sein kurzes Lachen in einem übertriebenen Schluck und Adeodato, dessen Erzählung dieser Art mit einer Beleidigung quittiert wurde, störte sich an den rüden Worten überhaupt nicht. Er lächelte und entblößte unter seinem dunklen Gesicht weiße Zähne.
„Hast du ihn gerade Hurensohn genannt?“, fragte einer der Arbeiter, ein hagerer junger Mann mit Hasenscharte und Ellenbogen, die so spitz waren, dass Vito immer, wenn es ihm wieder auffiel, von einem innerlichen Drang angehalten war, mit der Handfläche dagegen zu drücken. „Ich dachte ihr seid Brüder.“
„Ja na und?“
„Ah. Verstehe. Halbbrüder, hm.“
„Nein, wie kommst du darauf?“
Schweigen herrschte, und das Lachen, das sich dem anschloss, ein Konzert aus Unsicherheit und derber Freude, riss Helena aus ihren Gedanken.
„Tin hat gesagt, versuchen reicht nicht“, richtete sie an die Runde, die bis auf eine weitere Person aus Männern bestand. Unter ihnen saß noch ein Mädchen mit verheddertem Haar, das Straßendienste für die Iorgas ausführte.
„Fängst du wieder damit an?“ Einer der Männer stach mit seiner ordentlichen Erscheinung, seinen gewitzten Grübchen und der Schlauheit in den Augen aus der Masse. Es war Vendetta, der wiederum neben den anderen so klein erschien, dass man geneigt war, ihn zu übersehen (wenn es denn daran lag). „Dafür, dass du alle Segel gestrichen hast, hängst du ziemlich in der Luft.“
„Versteh ich nicht“, murmelte Vito und gab den Rum nicht weiter, wie man es von ihm erwartete.
Der Bursche mit den spitzen Ellenbogen neben ihm kratzte sich Schorf vom Hinterkopf.
„Wenn man eine Sache aufgibt, oder einen Kurs wechselt will ich mal sagen, dann sticht man nicht plötzlich scharf in eine andere Richtung. Man muss erst wenden. Und das ist nicht immer so leicht. Es ist auch nicht jedes Schiff gleich gebaut. Manche sind nur kleine Schaluppen, andere...“
„Vito, er schweift schon wieder ab! Gib ihm den Rum!“ Adeodatos Kinn zuckte hoch und er lächelte wieder. Zusammen mit seinen aschfahlen Augen verschönerte dieser Ausdruck seine Züge.
„...danke. Dieser Bananenrum ist nicht übel, nicht übel. Ich hab mal von einem Kokosrum gehört, den es in Löwenstein geben soll. Ich war da nie, glaubt man's? Nicht echt oder, aber ich war nie in Löwenstein..“
„Ich hab ihm den Rum gegeben, aber er hört trotzdem nicht auf“, warf Vito, indem er die Hände ratlos hob, ein.
„Schorschi, es geht nicht um dich.“ Auf Helenas Erinnerung hob der hagere Bursche einer seiner Hände, die lang und knochig war wie das Bein einer Spinne, und fuhr sich durchs Haar. Es war rötlich und wuchs in dicken Büscheln hin wo es wollte.
„Ja richtig. Ich wollt nur sagen, in der Seefahrt ist es auch so, dass-...“
Er fing sich einen Schlag auf den Hinterkopf.
„Hör auf uns über die Seefahrt zu belehren“, raunte Vito leidenschaftslos und nahm ihm den Rum wieder ab. „Du warst nie in Löwenstein.“
„Also was ist jetzt mit diesem Tim?“ Es war keine höfliche Runde, in der Helena saß, aber einer von ihnen zumindest, der heruntergekommen gekleidete Adeodato mit dem Bartschatten und den verkommenen Eindrücken, die in seinem Lächeln hingen, benahm sich wie ein Ehrenmann.
„Er heißt Tin. Nusskopf.“ Nicht, dass Helena seine Aufmerksamkeit mit offener Wertschätzung vergolten hätte. Sie war zu beschäftigt damit, sich selbst und ihre Belange in den Mittelpunkt zu rücken und wie eine Bettlerprinzessin das Kinn von ihrem staubigen Kragen abzurecken, an dem noch Sägespäne und trockene Blätter klebten. „Und er hat mich auf den Gedanken gebracht, dass ich zwar gesagt hab, ich fang von vorn an, aber eigentlich – warum rede ich überhaupt mit euch darüber?“
„Weil wir besoffen sind!“, brabbelte einer rein, der bislang noch überhaupt nichts gesagt hatte. Er saß neben dem Mädchen mit dem verhedderten Haar und sah fast genauso aus wie sie.
„Egal – ich hab alles beendet. Aber seither nicht wieder angefangen. Und dieses Lauern und Warten muss vorbei gehen.“
Die meisten verstanden ohne Frage kein Wort von dem, was Helena sagte, sie begriffen zumindest nicht, worüber sie redete, aber keiner hielt es für notwendig nachzufragen, im Gegenteil, aus vielen Richtungen nickten die Köpfe und Adeodato griff nach der Flasche.
„Ich weiß wie das ist, wenn man auf was wartet, das nie eintritt“, begann der Hagere. Seine Augen verloren sich zuerst zu dem Mädchen mit dem dunklen Haar und glitten dann, einer unsichtbaren Linie folgend, an die Decke. „Ich war siebzehn als...“ Vito grinste verhalten, nachdem er ihn auf den Hinterkopf geschlagen hatte.
„Ich kann nur irgendwie nicht anfangen. So komplett neu.“
„Du brauchst einen Aufhänger“, segnete Vendetta Rubinstein diese Worte ab wie eine Binsenweisheit, über die schon zu oft und viel zu lange gesprochen wurde, die aber an Gültigkeit nie verlor.
„Ja. Genau. Einen Aufhänger. Irgendwas, das mir den Weg zurück abschneidet.“
„Wie wär's mit einer Schere!“Alle sahen zu Vito. Das erst brachte ihn dazu, die Stirn zu runzeln und er meinte wohl, er müsse sich verteidigen. „Sinnbildlich, meine ich.“
„Obwohl man mir nachsagt, dass ich großes Talent dafür habe, Frauen bestimmte Dinge vergessen zu lassen...“
„Ja, Dato, ihre Manieren, wenn sie dir einen Tritt in deine Eier geben!“, erbrach das dunkelhaarige Mädchen ihre Worte über die Füße des Libanez, der diese daraufhin, obwohl nichts tatsächlich Sichtbares aus ihrem Mund troff, sofort an den Leib zog.
„...glaube ich, dass ich in dieser Angelegenheit und mit Hinblick auf deine Herkunft nicht der Richtige für diese Angelegenheit bin“, fuhr er fort als wäre nichts gewesen.
Helenas Ausdruck milderte sich unter der grüblerischen Stimmung, in der sie schon eine geraume Zeit lang ihre Gedanken umher driften ließ, dabei entging ihr selbst, dass sie den Nagel ihres Daumens bereits bis zum Anschlag abgekaut hatte. Als sie sich auf die Kuppe biss, zog sie den Daumen vor die Augen und starrte verständnislos auf den Dreck unter den kümmerlichen Resten seines Nagels, bis sich ihre Miene plötzlich auf den Schlag erhellte.
„Ich hab's.“
„Hm?“
„Ich werde heiraten!“
….
„Helena ich bitte dich! Wo willst du denn-? Würdest du mal aufhören vor mir davon zu rennen?“
Der junge Mann hatte Mühe, der Frau zu folgen, und das, obwohl seine Beine länger waren als ihre. Aber wenn jemand mit solcher Entschlossenheit schritt, der es zwar an einem klaren Ziel, nicht aber an Engagement fehlte, war Eilfertigkeit nötig, um mit der raumdurchdringenden, forschen Dahingehensweise mithalten zu können, die Helena vorlegte wie einen kapriziösen Takt.
„Ich kann nicht“, rief sie über die Schulter zurück und wurde auf ihrem Weg durch den Nachtmittag in Ossa nicht einen Deut langsamer.
„Das ist doch wieder nur so eine neue blöde Idee von dir, die ins Nichts führt! Wen denn?“
„Ich weiß noch nicht.“ Jetzt hielt sie an, drehte sich herum und starrte dem Mann ins Gesicht. Aus Überrumpelung blieb er stehen und starrte zurück. „Einen, der mich nicht verlässt.“
„Dich nicht verlässt.“ Der Mann murmelte, zischte leise in seiner ersterbenden Belustigung. „Das ist eine leichte Masche. Die Leute erst von dir zu stoßen und dann zu behaupten, sie hätten dich verlassen.“
„Ach Hermes, was weißt du denn schon? Hör auf, mir nachzurennen. Du nervst.“ Und damit, abgelenkt vom Enthusiasmus einer neuen Bestimmung, nahm sie ihren packenden Marsch wieder auf.
„Ich springe hier nur für Leon ein!“
„Leon würde das wollen.“
„Ja, aber nicht irgendwen!“
„Irgendwen!“
„Ja, richtig. Du verstehst mich schon. Bleib stehen.“
Er war der schnellste Mensch, den er kannte. Kein Wunder, dass er sie einholte und am Arm festhalten konnte. Sie scherte noch ein Stück aus und wurde dann zurück gerissen.
„Nicht irgendwen, keine Sorge. Ich bereue schon, dass ich dir von meiner guten Idee erzählt habe.“
„Von deiner guten Idee. Ganz prima. Das ist es doch. Das gedankliche Possenstück eines Kindes. In einem Monat entscheidest du dich um und dann?“
„Ich werde diese Entscheidung wohl fundiert treffen. Momentan gibt es sowieso niemanden. Alle die in Frage kämen haben sich von mir abgewandt.“
Hermes sah durch Helenas überzeugtes Gesicht, seine Augen prallten an der Tatkraft darin ab. Er murmelte etwas in sich hinein.
„Alle die in...wie viele kämen denn in Frage!?“
„Das geht dich gar nichts an. Kannst du mich los lassen? Ich habe Dinge zu erledigen.“
„Ich werde das nicht für mich behalten.“
„Gut so. Dann pass aber auf, dass du es den Richtigen erzählst. Ich möchte keinen Hofstaat von Idioten um mich herum haben.“
Der Bote seufzte, als er gewahrte, dass es unmöglich war, er konnte sagen was er wollte und man würde ihn doch nicht verstehen. Womit er es zu tun hatte war die schlimmste, die unüberlegteste und voreiligste Form von Verbohrtheit, und das Besorgniserregende, das ihn selbst in Zweifel darüber geraten ließ, ob sein Einschreiten richtig war oder nicht, war dass diese Familie, der Helena angehörte, in vielen Situationen mit eben dieser Untugend bereits so unglaublich gut gefahren war.
„Das ist eine Farce“, sprach er also in seiner gesamten höflichen Nüchternheit und ließ von ihr ab. „Du wirst dich sowieso wieder umentscheiden und abermals beweisen, welcher Kindskopf auf deinen vermeintlichen Hoheitsschultern sitzt.“
„Oh ja, du Poet. Und weißt du was du bist? Ein Bote. Bote überbringen Nachrichten. Sie reden nicht irgendwelches eigene komische Zeug. Tschüss.“
Er runzelte die Stirn. Einen Moment später ruckte er mit dem Kopf, um zu verarbeiten, was auch immer Seltsames ihm gerade widerfahren war. Er sah Helena im begeisterten Stechschritt um die Ecke verschwinden.
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