Morgen

Gras raschelt unter den weichen Ledersohlen ihrer Stiefel, bleibt plattgedrückt hinter ihr zurück. Sie bewegt sich langsam, bedächtig, so als wolle sie die Ruhe dieses Ortes auf keinen Fall stören.
Ihre dunklen Mandelaugen erfassen mir ehrfürchtigem Blick die Baumriesen um sie herum, die Art wie das honigfarbene Licht zwischen den Zweigen herabfließt und die sich sachte im Wind wiegenden Gräser und Farne küsst.
Eine eigentümliche Stille, eine Art in sich geschlossener Frieden geht von der Lichtung aus und gibt ihr etwas erhabenes, unberührbares. Und dennoch ist sie, die dunkelhaarige junge Frau hier, mit ihren Blicken die Schleier der Intimität zwischen uralten Bäumen zerreißend, und mit ihren Stiefeln die Spuren ihrer Gegenwart in den Boden pressend.
Sie kommt sich vor wie ein Eindringling, als dürfe sie gar nicht hier sein. Trotzdem, sie kann nicht anders, die unberührte Schönheit zieht sie an, der Friede lockt sie zu sich. Ihre tiefen Atemzüge hinterlassen kleine goldene Wolken, die sich bald mit dem dünnen Morgennebel vermengen und eins mit ihm werden. Der Gedanke, dass etwas von ihr Teil dieses Ortes wird, zaubert ein Lächeln auf ihre Lippen.

Nun, in der Mitte der Lichtung, vor einem flachen, moosbewachsenen Stein halten ihre Schritte an. Ein breiter Lichtstrahl erhellt den Felsbrocken und hüllt nun auch sie ein, wobei er auf ihrem waldgrünen Mantel ein angenehmes Schimmern hervorruft. Behutsam setzt die junge Frau ihren Rucksack ab und lässt sich im Schneidersitz auf dem Stein nieder. Mit gerade aufgerichtetem Rücken und lose auf den Knien ruhenden Händen beginnt sie, die Essenz ihrer Umgebung in sich aufzunehmen.


Das wärmende Sonnenlicht, das rötliche Reflektionen in ihre Haaren zum Vorschein bringt. Die satten Farben der Moose, Gräser, Farne und Blumen. Die unübersehbare Macht und Standhaftigkeit der alten Baumriesen. Der im Auflösen begriffene Morgennebel, ein Spiel aus golddurchwirkter Luft.
Ihr Atem. Langsam, fließend betritt die Luft ihre Lungen. Sie ist kühl, erfrischend und trägt die Gerüche des erwachenden Waldes in sich. Nachdem sie einige Herzschläge in ihr verweilt ist, wird die Luft wieder frei gelassen, dem Nebel entgegengeschickt.
Eine Bewegung am Rande ihres Blickfeldes zieht die Aufmerksamkeit der Dunkelhaarigen auf sich. Aus dem undurchdringlichen Grün des Waldes kommen einige Lichtpunkte herangeschossen, durcheinander wirbelnd und vor Energie sprühend.
Funkenschwärmer, die im Halbdunkel des Waldes wie eigene kleine Sonnen wirken, baden und tanzen nun im Licht ihrer großen Schwester.
Beobachtet von einem violetten Augenpaar schwirren die kleinen Wesen in irrwitzigen Kurven umher, jagen sich zwischen den Zweigen hindurch oder lassen sich von der leichten Morgenbrise tragen.
Eines von ihnen schwebt vor dem Gesicht der jungen Frau herum, die fasziniert den im Sonnenlicht nur noch schwach leuchtenden Körper betrachtet.
Als sie jedoch einen Finger nach dem Käfer ausstrecken will, huscht dieser binnen eines Wimpernschlages zu seinen Artgenossen zurück. Einige wirbelnde Bewegungen später ist der Schwarm kleiner Sonnen wieder im Wald verschwunden, die Frau allein inmitten der Lichtung zurücklassend.


Sie lässt den Arm sinken und lehnt ihren Kopf zurück, so dass Sie das Stückchen blauen Himmels sehen kann, das die Baumriesen hier freigeben. Einige tiefe Atemzüge lang genießt sie das Gefühl, sich inmitten der Weite des Waldes und unterhalb eines endlosen Himmels zu wissen, ehe Sie sich schließlich daran macht, sich zu erheben.
Mit geschultertem Rucksack und im Takt ihrer Schritte schwingenden Haarspitzen schreitet sie dem Halbdunkel des Waldes entgegen, die Füße genau in ihre zuvor ins Gras gepressten Spuren setzend. Am Rande der Lichtung dreht sie sich noch einmal um, ein letztes Mal die stille Schönheit in sich aufnehmend.
Aus einer Eingebung heraus hebt sie zaghaft die Hand, als würde sie jemandem zuwinken, ehe die Reisende ihren Weg fortsetzt, um mit den Schatten des Waldes zu verschmelzen.