"Nie wieder triffst du meine Entscheidungen."
Anna saß in ihrem Atelier auf einem stoffbehangenen Hocker, gelehnt an einen hohen Karton einer Schneiderpuppe und starrte an die Wand. Der Raum lag im Dunst ihres Pfeifenrauchs, es brannte kein Licht. Kopflose, halb bekleidete Silhouetten waren ihre einzige Gesellschaft. Im abgestellten Glas neben ihr seit Stunden ein Bodensatz Wein. Drüben in der Wohnküche tickte dumpf die Wanduhr ascalonischer Machart.
So mussten sich also Vater und Mutter gefühlt haben, dachte sie, das hatten sie also gesehen, während sie und Eugen-Paul unter den Dielen im Boden hockten und sich nicht zu atmen trauten. So sah er von innen aus, der Lauf einer Waffe. Wie Adrians Augen.
Das, dachte Anna, war das eigentlich Erschreckende. Das Gespräch an diesem Abend, und sie würde es niemals anders nennen, es war ein Gespräch, war viel mehr als ein Abtausch von Worten gewesen. Es war Demonstration, Konsequenz, eine Lehre. Sie hatte sich ausgemalt, wie die Schattenseiten dieser Familie aussehen würden, hatte sich an ihre Jugend und an Triskell-Kai erinnert. Sie hatte sich bisher als stabiler Block dieses Gefüges gesehen, als eine Randfigur, die keine große Rolle spielt, nicht weiter auffällt und doch hilft, wenn jemand sie braucht. Niemals aber hatte sie in Erwägung gezogen, dass diese Schattenseiten sich einmal gegen sie wenden würden.
Hatte sie versagt? Wieder zog sie an ihrer Pfeife, gefühlt das tausendste Mal. Sie wurde dieses Bild nicht los. Drei schwarze Augen, die sie anstarrten.
Adrian war ein guter Mann. Das sagte sie sich, wieder und wieder. Adya ist ein guter Mann.
Und doch hatte er abgedrückt.
"Das ist ein ascalonisches Roulette, das du mit mir spielst. Aber wie fändest du es, würde ich mit dir Roulette spielen?"
Die dicke Camilla sprang ihr auf den Schoß und grub tretelnd den Kopf in ihre Brust. Anya strich ihr routiniert und langsam durchs weiße Fell und starrte noch immer an die Wand.
Sie hatte die Waffe ja gesehen, schon beim Eintreten, wie sie neben ihm lag, zum Erblinden blankpoliert. Sein Attribut, der Revolver und das Messer. Adrian mochte seine Waffen, wie man die Verlängerungen seiner Arme mögen musste. Der Revolver hatte sich in seine Hand gefügt wie ein Auswuchs, mit dem er geboren worden war. Sie dachte an den widerspenstigen, zornigen Jungen, der bei den Familienfesten bestraft worden war, weil er mit Absicht ein Gedicht falsch aufsagte. Ein Schauer lief Anya über den Rücken. Adrian war groß geworden, längst seinen Gendarraner Jugendsorgen entwachsen. Doch das wahrhaft Erschreckende war, dass er nicht allein geblieben war; Denn mit ihm war noch etwas Anderes gewachsen, etwas Monströses und Unmenschliches, das wider jede Natur sprach, ihm aber folgte wie ein Schatten.
Sie schluckte.
Wie sein Vater.
Es gab Menschen, und bei jenen gab es Momente, da verwandelten sie sich in diese Kreaturen ohne Vernunft und ohne Liebe, getrieben von ihren messerscharfen Prinzipien und genährt von Ungehorsam, Streit und Ungerechtigkeit. Kein Wort drang dann zu diesen Kreaturen durch, ihre Erinnerungen an Zusammenhänge und alle Gesetzmäßigkeiten außer ihren eigenen erloschen und verloren alle Macht; Und wer mit ihnen dann zu tun hatte, der tat das Beste, wenn er aufgab, die Regeln dieser Kreaturen annahm, denn jeder Widerstand gegen sie war gleichbedeutend mit Selbstmord - ob im körperlichen oder gesellschaftlichen Sinne. Man nahm ihre Regeln an und so regierten die Kreaturen. So hatten sie es schon immer gemacht. So hatte es Großvater Eugen gemacht. So hat es Vater gemacht. Nicolae. Victor. So waren sie selbst aufgewachsen und wenn all das nicht passiert wäre, wäre sie jetzt niemals da, wo sie heute war.
Das ist es, dachte Anya, das ist unser Weg, und wo wir von dem Weg abweichen, riskieren wir den Niedergang der Gesamtheit. Ein Iorga ist niemals selbstsüchtig, nicht, solange es noch um die Seinen geht. Deswegen hatte Adrian Recht. Er hatte Recht damit, ihr die Gravität eines Fehlers zu zeigen, wenn dessen Folgen Schlechtes für die Familie bedeuteten. Er hatte Recht damit gehabt, auf sie zu zielen und abzudrücken.
Sie kam zu sich, als sie in der Küche stand und mit einem Hackebeil ein Stück Rinderflanke zerteilte. Bies, Milla und die anderen Katzen würden das Fleisch sicher mögen.
"Grenth Grundgütiger", sprach sie und hielt inne, das Beil in die Luft erhoben und es war das erste menschliche Geräusch, das die Stille der Nacht in diesem Haus durchschlug, "Worauf habe ich mich da eingelassen?"
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