"Meine Tochter wünscht sich eine Machtdemonstration, die überflüssig gewesen wäre, hätte sie nicht ihren eigenen Willen an erste Stelle gesetzt."
Anya ließ den Apfelporridgelöffel zurück in die Schüssel fallen und las Adrians Brief nochmal und nochmal. Sie hob sich die frei gewordene Hand vor die Lippen und schließlich vors Gesicht, als ihr Blick sich endlich von den Zeilen losreißen konnte und Bestürzung zitterte in ihrer Stimme.
"Oh nein."
Einige Augenblicke saß sie so da. Dann trugen blinde Schritte sie langsam hoch ins Schlafzimmer.
"Ich werde jetzt eine Sache tun müssen, die ich bereuen werde", sagte sie zum Schrank, den sie öffnete, "Aber manchmal muss man das tun, oder? Für das große Ganze? Ja?"
Als sie am Zamonplatz ankam, öffnete Vito ihr. Er wusste Bescheid.
"Er wartet im kleinen Zimmer."
Schweigend trat Anya ein, schenkte dem Diener ein kurzes Mundwinkelzucken, nahm die schlichte Mantille ab und folgte seiner Anweisung.
"Adya", sagte sie leise, als ihre Blicke sich trafen. In ihrem lag zerschlagenes Widerstreben, ein hoffnungsloses "Warum?", das sie ihm ersparte. Er wusste, was sie davon hielt, sonst hätte er sich in seinem Brief anders ausgedrückt. Und die Gewissheit stand im Raum, entzweite sie vehement und zwang sie doch dazu, sich gefühlt die Hände zu reichen: Es musste sein.
"Sie kommen gleich", sprach das Oberhaupt, "Bist du bereit?"
Anyas Brauen zuckten bitter. Sie senkte den Blick.
"Ich werde dir nicht widersprechen."
"Ich habe es der Familie schon mehrmals gesagt, Anya", sagte er und trat einige Schritte auf und ab, "Wir sind zu vergleichen mit einer Maschine mit vielen Zahnrädchen, die alle miteinander funktionieren. Schlägt eines davon quer, gerät das ganze Gefüge durcheinander. Du verstehst doch, dass ich das nicht riskieren werde."
Sie hätte antworten können, doch da klopfte es an der Tür.
"Herein", tönte Adrian und löste den Blick unter dunklen Brauen von seiner Tante.
Adeodato trat ein und, an seiner Seite, Ileana. Anya wandte ihr die Front zu. Grundgütiger, dieses schöne, junge Kind.
"Danke, Adato", sagte sie mild, "Lass uns bitte allein und schließ die Tür."
Als Stille eingekehrt war, sah sie Ileana ins Gesicht und kam wenige Schritte auf sie zu.
"Hallo, Kleines", sagte sie in aller Liebe, und all ihr Sanftmut war durchschattet von einer Tragik, die sie nicht verbarg. Die Wolken schoben sich trüb vor ihre Sonnenstrahlen. "Komm rein. Setz dich." Sie sah, wie Ileana ihres Vaters gewahr wurde, sah, wie die Miene des Mädchens, ihre Haltung, verrieten, dass sie wusste, dass dieses Treffen nichts Gutes bedeuten konnte. Es brauchte auch nicht vieler Worte. Als sie saß, ging Anna vor ihr in die Hocke und legte die Hände beschwörend auf ihr Knie, suchte ihren Blick. "Wisse, was ich tun muss, tut mir aufrichtig Leid. Ich will das nicht tun. Aber manche Dinge müssen sein. Das wirst du lernen." Sie erhob sich und entrollte im selben Schwung den Gürtel, den sie die ganze Zeit über in der grob behandschuhten Hand getragen hatte, legte ihn zu einer Schlinge zusammen. "Mach bitte den Rücken frei."
Ileana starrte auf den Lederriemen in der Hand ihrer Großtante, die plötzlich nicht mehr knöchern, sondern stahlhart aussah. "Was soll das werden?", war das Erste, was sie hervorbrachte. Erschrocken presste sie den geforderten Rücken in die Stuhllehne; Doch nur ein einziges Wort ihres Vaters, wahrscheinlich sogar eher der Wehrturm aus Härte und Unbeirrbarkeit, von dem herab er sprach, wie er sprach, brach ihre erste Wehr:
"Erziehung."
Stille lag in dem kleinen Zimmer, als Ileanas hilfloser Blick Adrian suchte, an seiner Mauer zerbrach und verletzt zu Boden fiel.
"Unglaublich, dass du das für ihn tust", hauchte sie dunkel. Diesmal stach ihr Auge Anna ins Herz. Doch als sie sich aufzustemmen versuchte, presste eine Lederhandschuhhand sie wieder aufs Polster.
"Ich tue das für dich", sagte Anya. Als der Riemen Ileanas Unterarm traf, ging ein Luftstoß durchs Haus. Irgendwo knallte ein Fenster. Da griff Anna um ihre Arme und zwang sie, sich zu drehen. Die Bluse ließ sie ihr. Es war ja doch nur ein Hauch von Stoff. Dann fasste sie ihr Haar und legte es Ileana im festen Zopf über die Schulter nach vorn, sie mit dem Knie auf den Stuhl drückend. Anya schluckte. Ein Blick herab, um sich zu sammeln. Das Leder durchschnitt die Luft und unter dem feinen Stoff die obersten Schichtchen der Haut.
Der Schmerz presste dem Mädchen ihre Stimme gegen die Zähne, aber sie hielt sich im Zaum.
"Siehst du, Ileana", erhob Adrian das Wort, "dass du mich dazu zwingst, Anna dazu zu bringen, das hier zu tun?" Hinter ihrem Rücken klang er ratlos und verhärtet.
Anya holte aus. Zisch.
"Dann hättest du es lieber selbst getan", presste Ileana leise, nachdem sie wieder zu Luft gekommen war. Um ihre Schultern sammelte sich eine angespannte Gänsehaut, aber sie hielt den hübschen Kopf stolz oben, blickte die Wand an, die sie den einzigen beiden Menschen außer ihr im Raum vorziehen musste.
Zisch.
"Das willst du nicht."
Anya ließ den Gürtel sinken. Ihre grauen Augen hafteten auf dem jungen Rücken, auf den Striemen unter dem hellen Stoff und nichts außerdem. Adrian aber, so fühlte sie, behielt das ganze Bild, das große Ganze, im unabgewandten, strengen Blick. "Noch einmal", sprach er. Ein Pesthauch über ihrer Schulter. Zisch. "Und jetzt sag mir, warum du das gemacht hast."
"Sie war nett", antwortete Ileana um Haltung bemüht, "Ich wollte ihr helfen. Sie war die Einzige da, die nicht vollkommen oberflächlich war!" Ihr Blick schoss über die Schulter, schnitt Adrian.
Er überging ihn steinern.
"Dann siehst du ja jetzt, was deine Nettigkeit dir beschert. Nettigkeit kann man sich nur auf seine eigenen Kosten erlauben. Nicht auf die der Anderen."
Anya sah nur aus dem Augenwinkel, dass er ihr ein Zeichen gab.
Zisch.
Ileana verkrampfte die Schultern, ließ das Gesicht vornüber fallen und wehrte sich nicht mehr. Sie biss die Zähne aufeinander und schwieg. Es war alles gesagt.
Als Anna von ihr abließ, strich sie ihr zärtlich über den Kopf und stieß gegen Adrians Halbprofil, der sich abwandte, um das Zimmer zu verlassen und seinen eigenen Schmerz, die Enttäuschung, die sie in seinem Augenwinkel entdeckt hatte, mitzunehmen.
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