Schlaflosigkeit

Sie stand schon lange so in ihrem Nachthemd, am offenen Fenster und starrte hinaus in die undurchdringliche Finsternis. Roséfarbenes Crepe de Chine floß ihre Schenkel hinab bis zu ihren Knöcheln. An ihren Schultern nur ein gewebter Seidenfaden, der den feinen Stoff hielt. Nicht nur draußen vor dem Fenster, sondern auch in ihr selbst und um sie herum war nichts als tiefe Dunkelheit. Kein Lichtschimmer hinter fremden Fenstern, keine brennenden Straßenlaternen, kein Mondschein, nicht einmal ein funkelnder Stern zeigte sich in dieser Nacht. Hier draußen, soweit vor den Toren von Götterfels, konnte eine wolkenverhangene Nacht undurchdring-lich und alles verschlingend sein.


Der frische Nachtwind kämmte zärtlich ihr offenes, langes Haar. Er zeichnete eine Gänsehaut unter den feinen Flaum ihrer schlanken Unterarme, mit denen sie sich auf dem Fensterrahmen abstützte. Sie blinzelte kaum. Erst als ihre Augen vor Trockenheit fast zu tränen begannen, setzte der schützende Automatismus ihres Lidschlages ein. Sie schien sich dessen und ihrer selbst nicht bewusst zu sein, so sehr hing sie ihren Gedanken nach. Wie ein winziger Floh im Blutrausch sprang sie zwischen ihren Sorgen, Ängsten und Ärgernissen hin und her. Flüsternd führte sie Gespräche mit dem Wind. Sie wusste, dass sie dazu neigte Selbstgespräche zu führen, weil andere es ihr früher schon gesagt hatten. Jetzt gerade bemerkte sie es nicht.


„Ich sollte ihm von Kaltenbachs anmaßenden Forderungen erzählen.“


Ein leises, spöttisches Lachen erklang…. Ihr eigenes Lachen.


„Er hat es eine Chance genannt, ein Angebot. Dieser Heuchler missbraucht seine Position. Er denkt, dass ich auf seine befürwortende Stimme angewiesen bin.“


Sanft geschwungene Brauen zogen sich eng zusammen, verliehen ihrem Blick etwas Angestrengtes.


„Aber vielleicht bin ich das ja auch, auf mich alleine gestellt? Wenn ich damit zu Adrian ginge, würde er vermutlich denken, dass ich es nicht alleine schaffe, dass ich zu schwach bin, dass ich mich in seiner Welt nicht ohne ihn behaupten kann, dass ich nicht dafür geschaffen bin.“


Ein tiefer Atemzug, ein leises Seufzen durchbricht die Stille und ihrer Stimme haftet Bitterkeit an.


„Vielleicht denkt er jetzt schon so über mich. Vielleicht zieht er sich jetzt schon vor mir zurück. Er hat mich ja auch nicht eingeladen, ihn zum Leons Geburtstag zu begleiten. Warum will er mich nicht in seiner Familie. Bin ich nur ein netter Zeitvertreib für ihn? Ja, vermutlich bin ich das!“


Gedankenverloren fuhr eine Fingerkuppe über ihre Unterlippe.


„Ob er Elizabeth eingeladen hat? Ganz sicher hat er das getan! Sie passt in seine Familie. Vor ihr hat er Achtung. Er bewundert ihren Scharfsinn und ihren Ehrgeiz. Aber bin ich das nicht auch… Scharfsinnig und Ehrgeizig. Ich habe so viel erreicht.“


„Wie konnte sie nur…. Ohh, diese Schlange! Ich war so dumm. Ich war so leichtgläubig und dachte eine Freundschaft zwischen ihr und mir wäre tatsächlich möglich. Ich bin demütig zu Kreutz gekrochen, ganz alleine, für etwas, an dem ich nicht alleine die Schuld getragen habe. Ich habe versucht Rücksichtsvoll zu sein, habe verzichtet. Und wofür das Ganze? Sie war von Anfang an unaufrichtig zu mir, hat hinter meinem Rücken gegen mich intrigiert. Und niemand hielt es für nötig es mir zu sagen!“


Von Satz zu Satz steigerte sie sich in ihre Rage, wurde laut und noch lauter, fauchte mit ihrer kindlichen Stimme gegen die lichtlose Schwärze an. Bis sie sich in einer energischen Drehung umwandte und mit dem rechten Unterarm sämtliche Utensilien von ihrer antiken Schminkkommode wischte. Scheppernd vielen Bürsten, Kämme, Tiegel mit Cremes und Lippenfarben zu Boden. Der Inhalt von Puderdosen verteilte sich über dem elonischen Teppich, der sicher vor Jahrzehnten von Hand geknüpft wurde. Duftflakons zerbrachen klirrend und ein bunt duftendes Potpourri waberte durch den Raum. Sicher hatte es das halbe Haus gehört. Sie starrte grimmig auf die umherliegenden und zerbrochenen Gegenstände bis es an der Türe klopfte.


„Milady!“


Es klopfte noch einmal. Die Stimme klang eindringlich, gar besorgt.


„Milady? Stimmt etwas nicht?“


Es war Stokes, der erster Butler. Sie erkannte ihn gleich an seiner nasalen Stimme. Ihr grimmiger Blick wandelte sich in Verwirrung. Dann in Klarheit.


„Es ist alles in bester Ordnung, Reginald! Geh wieder zu Bett!“


Es dauerte eine kurze Weile, dann entfernten sich Schritte und der Lichtschein, der von außen unter ihrem Türspalt durchgeschienen war, erlosch nach und nach.


Hier oben, vom Fenster ihres Schlafgemachs aus, konnte sie über die drei Meter hohe Mauer blicken, die ihr Landgut umgab und sie vom Rest der Welt abschirmte. Jetzt war da keine Mauer aus Stein, sondern eine viel höhere, unendlich scheinende aus purem, schwarzen Nichts.


„Er liebt mich! Er hat es nie gesagt, aber ich sehe es in seinen Blicken. Ich spüre es in seinen Berührungen und ich höre es in seiner Stimme, wenn er zu mir spricht. So berührt er sie nicht, so spricht er nicht zu ihr und so sieht er sie auch nicht an.
Er versteht mich, wie kein anderer. Er spürt, wenn mich etwas bedrückt und ist da, wenn ich ihn brauche.“


Sie versuchte sich gut zuzureden. Lange hielt die Zuversicht jedoch nicht an. Sprunghaft trat wieder Zweifel an ihre Stelle.


„Und wenn er es nicht tut.... er mag cantanische Frauen. Wenn er mich nicht liebt? Dann habe ich so viel riskiert. Die Freundschaft zu Alessa und Florean…. Florean hat es doch schon angedeutet, weil ich mich in Adrians Gegenwart der kleinen Clara gegenüber distanziert verhalten habe. Die kleine kann doch nichts dafür, aber was soll ich denn tun? Die beiden sind doch schon eine glückliche Familie. Soll ich ihretwegen auf mein eigenes Glück verzichten? Und Levi…. mein lieber, guter Levi...mein bester…. Er wird sich ihnen anschließen, das ist gewiss. Ich stelle mich gegen meine Mutter. Die letzte die mir noch geblieben ist. “


„Will ich überhaupt diesen Ratsherrenposten? Oder tue ich das nur, weil ich will, dass er mir den gleichen Respekt entgegenbringt, den er dieser Schlange entgegen-bringt?"


Vor drei Stunden hatte sie an ihrem Schreibtisch gesessen, vor sich ihr Tagebuch. Sie hatte alles aufgeschrieben. Jeden noch so kleinen Gedanken, alles was sie bewegte. Normalerweise half das. Es half sich Sorgen von der Seele zu schreiben. Normalerweise konnte sie dann wieder einschlafen. Aber nicht heute. Sie hatte die Kerze zwar gelöscht und sich wieder in ihr Bett gelegt. Aber nach einiger Zeit des unruhigen Hin- und Herwälzens, war sie wieder aufgestanden, um weiter im Schutz der Dunkelheit ihren Gedanken nachzuhängen.


Es war immer noch schwarze Nacht, aber es musste heller geworden sein, denn ganz langsam und schleichend setzten sich die Konturen der Baumwipfel, ihr eige-ner Forst, am Horizont ab.


Sie hatte darauf verzichtet Licht in ihrem Schlafzimmer zu machen. Es fühlte sich so besser an, sicherer. Alles schlief, die Welt schien still zu stehen und ihr keine neuen Herausforderungen zu stellen. Sie gab ihr Zeit, Zeit zum Nachdenken, Zeit um Ent-scheidungen zu treffen.


Ein schmaler Streifen, ein Riss tat sich auf in dem tiefen schwarz. Rot Glühend er-streckte er sich über den Horizont. Sie schlug mit der flachen Hand verzweifelt nach dem Fensterrahmen.


„Wieso hören sie nicht endlich auf, nach ihm zu suchen?“


„Was ist, wenn man dahinter kommt. Wenn sie herausfinden, dass ich ihn umge-bracht habe. Was wird Mutter sagen. Was wird Levi sagen. Und was Sigrich. Was werden sie alle über mich denken, Richard, Florean und Alessa, ihre Palas-Damen, die ganze Stadt.“


Sie verteidigte sich gegen stumme Kläger, leidenschaftlich und sich ihrer Unschuld scheinbar ganz sicher


„Er war nicht mein Vater, er hat es verdient und ich habe es doch gar nicht gewollt. Er hat es doch provoziert. Da sind so viele, die es wissen. Seine ganze Familie, seine Freunde. Elizabeth weiß es!“


Erschrocken über diesen Gedanken fuhr ihre Hand zu ihren Lippen und legte sich darüber. Der rot glühende Riss am Horizont öffnete sich langsam wie ein Schlund zur Unterwelt, hinter dem sich ein goldenes Flammenmeer erstreckte.


„Helena hat gesagt ich soll ihr Grenzen setzen. Wie setzt man Grenzen, wenn man nicht mit einer Person spricht. Selbst wenn ich mich überwinde und sie nochmal anspreche, dann wird sie mich vermutlich wieder ignorieren und demütigen. Aber vielleicht ist die Grenze ja schon längst gesetzt? Vielleicht durch unser Schweigen. Wenn ich es einfach nur dabei belasse…? Nein! Was hindert sie dann daran weiter Lügen über mich zu verbreiten und schlimmeres zu tun? Ich könnte ihr sagen, wie enttäuscht ich von ihr bin. Nein! Das würde sie nur erfreuen. Und wenn ich ihr ein-fach nur unverblümt sage, dass ich ihre Intrigen nicht länger hinnehmen werde….nein… nein, dann lacht sie mich vermutlich nur aus. Ihr Organ, ihre Präsenz ist genau so gewaltig wie ihr Hintern. Ich komme schon alleine stimmlich nicht gegen sie an. Ich könnte sie wegen Verleumdung anklagen. Ganz egal, ob ich gewinne. Eine solche Anklage kurz vor den Wahlen macht sich nicht gut. Ach nein, das geht sicher am Ende nach Hinten los. Hm, ich will diese Intrigen einfach nicht mehr. Ich bin es so leid. Warum ist sie nicht einfach an dieser Blutvergiftung gestorben. Warum hat ihr Dronon seinen Hammer nicht einfach auf den Kopf geschlagen.“


Die Flammen wurden so grell, dass sie schützend die Augen zusammenkniff. Immer weiter öffnete sich der Schlund und schluckte die graue Wolkendecke.


„Ich habe keine Zeit meine Gedanken ständig um Elizabeth kreisen zu lassen. Ich muss den Palas wieder aufleben lassen. Es sind viel zu wenige gekommen beim letzten Palas. Wir brauchen neue Mitglieder. Wo sind die Namen, die ich mir notiert habe. Ich könnte die Einladungen schreiben.“


Jetzt war es hell genug. Sie sah die große Eiche unter ihrem Fenster. Ein Eichhörnchen streckte den Kopf aus seinem Loch unter dem Baum und huschte in den Windschatten eines Ginsterbusches. Dort blieb es zitternd sitzen, hielt schnuppernd das Köpfchen in den Wind, ganz so, als suchte es etwas.


„Nein, wie lieb.“


Verzückt betrachtete sie den anderen Frühaufsteher.


„Waren es letztes Jahr nicht zwei? Ein Pärchen?“


Kam es ihr kurz in den Sinn.

Kommentare 2

  • Ging mir ähnlich. Das heißt, das weiß ich gar nicht, ob es mir wirklich ähnlich ging, aber zumindest in den Teilen vob Estelions Worten die auch auf Außenstehende zutreffen können, habe ich meine eigenen Eindrücke wiederkannt.

  • Ich hab es sehr genossen, das zu lesen. Hat mir Spaß gemacht.


    1. Ich musste lachen bei der Vorstellung, wie Gwennis da am Fenster steht und das ernsthaft alles ausspricht. Das ist drollig.
    2. Hast du es irgendwo geschrieben, wo du Trennstriche gemacht hast? Die sind nämlich manchmal mitten in einer Zeile und trennen Wörter.
    3. Die Geschichte hat ein paar unglaubliche Stärken. Einmal das Bildhafte mit dem Rot am Himmel und dem Einfall "Elizabeth weiß es".
    Und dann das Ende. Das fand ich wirklich richtig gut. Denn ich hab nicht mehr daran gedacht, aber als du in der Geschichte daran erinnert hast, wusste ich es wieder. Das ist stark.


    Das mit Betty war teils ganz schön hart =P
    Hasst mich bitte nicht dafür, dass ich es deshalb umso lustiger fand, ich finde es bei Betty dafür ja auch immer lustig.
    Ihr zwei seid schon ein unterhaltsames Gespann. =D