In den letzten Tagen hatte sich Adrian unbeschreiblich schlecht benommen. Der größte Teil seiner Unhöflichkeit bestand zwar aus seiner puren Unsichtbarkeit, seinem Nichterscheinen und dem geringen Informationsaufwand, den er unternahm, um seine Familie zu unterrichten, wo er war. Wenn er aber zu fassen gewesen war, dann hatte man ihn fahrig, übellaunig und wortkarg angetroffen und damit, ihn anzusprechen, allenfalls erreicht, dass er einen abgewiesen oder übergangen hatte oder man nach Abgabe seines Anliegens ärgerlich feststellen hatte müssen, dass er einem bis zuletzt überhaupt nicht zugehört hatte.
Entsprechend unwohl kam Helena zu ihm aufs Zimmer – sein Büro mied er in der letzten Zeit oder er sperrte sich, dem ersten Verhalten ganz entgegengesetzt, für Stunden darin ein – denn Vito hatte ihr schon in der Diele gesagt, dass sich Adrian heute hektisch anfühlte und der Eindruck, den er am Vormittag auf den Hausdiener gemacht hatte, eigenartig war.
Kaum hatte Helena geklopft, ihre Fingerknöchel standen noch nahe vor der Tür, da schwang diese auf und dahinter stand ihr Vetter, groß, mit vor Erschöpfung gefärbten Augen, aber strahlend vor irgendetwas, das sie nicht sofort, dafür auf den zweiten Blick als Eifer erkannte.
„Komm rein“, lud er sie halb ein, halb befahl er es in striktem Dirigententonus, denn es lag auch etwas Harmonisches darin.
Sie gehorchte. Ihre kleinen Schritte waren Zeitschinder, während derer sie Adrian untersuchte. Seine Hand, mit der er sie plötzlich packte und ins Zimmer zog, steckte in einem hellgrauen Pullover aus sehr weicher Ziegenunterfellwolle. Er hatte außerdem eine rötliche Hose aus leichter Baumwolle an, die sich sehr stark an seinen Körper band, deshalb, oder weil der Schwung seines Zuges so treffend abgestimmt war, kam er ihr athletisch und wach vor, trotz der violetten Ringe unterhalb seiner Lider. Die Tür schlug hinter ihr zu und Helena verstand, dass es Adrians zweite Hand gewesen war, die sie ins Schloss gestoßen hatte. Schon im nächsten Moment hatte sein Druck sie dazu gebracht, auf einem Stuhl zu sitzen und er, gerade noch überwältigend in seiner Größe und Gestalt, ließ sich ihr gegenüber auf der Kante seines Bettes nieder. Ihr Schrecken ließ nach, als sie sah, dass er lächelte.
„Du hast mich um Hilfe gebeten“, begann er zu sprechen, und zu Helenas Erleichterung mischte sich Überraschung darüber, dass er ihr vor einigen Tagen scheinbar doch zugehört hatte, als sie geglaubt hatte, sie hätte ebenso gut die Wand ansprechen können. „Und ich hab etwas aufgesetzt. Mir euren Kräuterstand mal angesehen. Hier.“ Er griff nach einer Mappe mit Unterlagen, die neben ihm auf dem Bett lag, schlug sie auf und deutete Helena, etwas näher zu ihm zu rücken. Ein seltsamer Geruch ging von Adrian aus. Angenehm, aber ungewohnt. Sie kannte es von ihm, dass er nach Orange oder Minze roch. Gerade nahm sie Noten von Zucker und Pfeffer wahr und, so glaubte sie, ein wenig Zitrone. Wieder flammte in Helenas Sinn der Eindruck auf, dass da ein unbekannter Mann in Adrians Haut stak, einer, den einzuschätzen ihr schwer möglich war, solange sie seinen Eigenarten nicht Raum gab, sich zu entfalten.
„Das ging schnell“, hörte sie sich sagen und brachte damit Adrian zu einem Lächeln, das sie sich an ihm vorstellen konnte, das aber um einige Facetten reicher war, als sie es bisher von ihm gekannt hatte. Er war es gewohnt, in den verschiedensten und höchsten Kreisen aufzutreten, entsprechend frei und changierend war sein Umgang. Auf bestechende Weise besaß seine Anrede Dominanz, die ihn gewinnend und liebenswürdig zur gleichen Zeit erscheinen ließ, wenn er es darauf anlegte, aber dieses Lächeln war von einer Art, die Feinde zu Verbündeten machen konnte und Helena glaubte mit Überzeugung, dass es außerdem über eine Facette des Einnehmenden verfügte, die sich nicht spielen ließ. Unter seinem Gebaren saß ein Antrieb, der so aufrichtig und ehrlich war wie der Morgen und ihn, hatte er auch die Nacht ohne Schlaf verbracht, ebenso erfrischte.
Sie hatte ihn meist als waltendes Oberhaupt der Familie oder als narrköpfigen Spaßvogel in intimer Runde gesehen, kannte die nüchterne Entbehrung mit der er Befehle sprach und das unsinnige Verhalten, alles und jeden zu seiner eigenen Freude heiser zu verlachen. Aber sie sah ihn selten in dem Bereich, in dem er sein Geschäftsgeschick, seine Raffinesse und seinen junggebliebenen Sinn voll einfließen lassen konnte, und deshalb erstaunte es Helena, Adrian so voller Elan zu sehen. Seine schlichten Erklärungen hatten eine Durchschlagungskraft, über die sie stutzte, denn bisher hatte er sich nie für die Geschicke des Meridians interessiert oder auch nur danach gefragt.
„Ich hab gesehen“, begann er und blätterte eine Seite auf, die so unordentlich und schief beschrieben war, dass Helena sich fragen musste, ob er es überhaupt selbst lesen konnte, „dass ihr euren Markt ausweitet. Ihr erfindet ab und zu neuen Nutzen für eure Güter. Aber ihr habt seit Eröffnung, wenn ich nichts übersehe, nichts aus eurem Angebot genommen. Ihr erweitert das Angebot, aber wenn etwas nicht läuft, fliegt es nicht raus. Wo geht das alles hin?“
„Ich verwerte die Sachen. In Cremes und Salben.“
„Warum steht das nirgendwo?“ Er blätterte.
„Das ist nur so eine Nischentätigkeit von mir. Ich hab es nicht groß festgehalten. Ich wollte nicht noch mehr Papierkram.“
Adrian nickte als habe er großes Verständnis. In seinen kaltblütigen Augen schimmerte Wärme, ehe er strikt sagte:
„Halte es fest.“
Adrian stand mit eindrücklicher Körperspannung von der Bettkante auf und ging durch das Zimmer. Er reichte Helena ein Glas mit gutem Rum, behielt außerdem eines für sich selbst.
„Eure Strategie von einer leicht penetrierenden Prämienpreispolitik ist der Lage angemessen. Das könnt ihr so behalten?“
„Was?“, fragte Helena und blinzelte seinen ermutigenden Händlerworten hinterher.
„Das bedeutet, dass Eure Preise durchgehend eher hoch sind, anfangs etwas tiefer waren und im Laufe der Zeit steigen. Ihr könnten mengenbezogen mit kleinen Unterschieden arbeiten. Eine Preisdifferenzierung. Rabatte, verstehst du?“
„Ja, ich verstehe es, wenn du Rabatte sagst.“
„Gut.“ Adrian nahm, und das reine Leben pulsierte in seinen Augen, wieder gegenüber Helena Platz. Seine schnellen und fachlichen Worte drängten ihre vielen Fragen über seine Ausstrahlung zurück. Mit einfangender Hand umfasste er ihr Bein, damit ihr Fokus noch schärfer auf dem zum Liegen kam, was er ihr sagte. „Ich hab in den letzten Tagen einen Preisempfindungstest für eure Waren machen lassen, auf dem meine Angaben jetzt basieren. Außerdem hab ich hier ein paar Namen. Ich hab ein paar eurer Zulieferer prüfen lassen, deren Angebote sind nicht mehr zeitgemäß. Eure festen Kosten lassen sich schwer weiter drücken. Aber die Mischkosten und die variablen. Eure Gewinne lassen sich erhöhen. Warum verlangst du für Ware außerhalb ihrer Saison nicht höhere Preise?“
„Ich…“ Obwohl Helena einige ethische Gründe vorzubringen gehabt hätte, gebot ihr strategisches Geschick ihr Einhalt.
„Euer Reichtum könnte heute viel größer sein, wenn es euer Fleiß auch gewesen wäre.“
Sie musterte Adrian. Im Stillen fragte sie sich, ob die Kosten, die es an anderer Stelle getragen hätte, ihm bewusst waren, ob ihm bewusst war, dass er sie trug.
Plötzlich spürte sie ein brennendes Bedürfnis danach, ihn zu fragen, was er hatte.
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