Sie hatte es gewusst. Oder eigentlich ja doch nicht. Aber sie hatte gewusst, dass sein Verhalten untypisch gewesen war. Gespürt hatte sie es, bereits in dem Moment wo er sie so feste an sich gezogen hatte das die Umarmung beinahe schmerzhaft gewesen war. Ein Druck der sich nicht nur auf ihren Körper beschränkt hatte, sondern tiefer ging. Kein "Auf Wiedersehen" sondern ein "Lebewohl". Dieser verfluchte Mistkerl. Sein Leben lang hatte er lieber die Beine in die Hand genommen, selbst jetzt war er geflohen. Wieso hatte er nicht einmal auf sie gehört, wieso hatte er nicht gekämpft. Wieso, wieso, wieso.
"Du hättest es nicht verhindern können. Ich habe mir lange Gedanken darüber gemacht. Es tut mir wirklich leid. Alles. Nicht nur das. Einfach alles."
Wie konnte ein Mensch solche Worte schreiben und erwarten das man sich nicht nach den Gründen fragte? Er war es doch nicht der wieder einmal zurückgelassen wurde und sich dem stellen musste. Für einen flüchtigen Moment war es ist ihr sogar eingefallen zu Schnodder zu rennen, sie aus dem Bett zu werfen und zu bitten, dass sie seinen Geisterarsch aus den Nebeln zurückzerrte, nur um ihm wenigstens einmal noch eine immaterielle Tracht Prügel oder wenigstens eine Standpauke halten zu können. Dieser Dummkopf. Dieser furchtbare, unglaubliche Dummkopf.
Im Moment als sie die Hinterlassenschaften geöffnet hatte, sie den grausigen Flickenmantel hervorgeholt hatte der ihr viel zu groß war, war die Kälte bereits in ihren Körper gekrochen. Dieser Mantel war Al. Gehörte zu ihm. Er würde sich nicht einfach so davon trennen. Er war ein Teil des Taschenspielers und gehörte zu ihm wie ihr Hut in Götterfels eben zu ihr gehörte. Dieses zerschlissene Stück Leder, dass inzwischen mit so vielen Teilen anderer Mäntel geflickt und repariert worden war, dass nur noch die Form und Länge an den allerersten Originalmantel erinnern mochten. Die Übungsmünzen, so abgegriffen das sie nicht einmal mehr wirklich die Prägung erkennen ließen. Die Waffe die sie ihm gebaut und geschenkt hatte, damit er endlich einmal den Hintern hochbekam. Das Buch mit einer seiner Filzlocken, der Besitzurkunde des Hauses und dem Brief darin.
Spätestens da hatte sie es gewusst. Sie hatte gewusst was ihr der Brief mitteilen würde, welche Ahnung sich bei den auf das Papier gebannten Worten bestätigen würde. Hätte sie das Buch nicht gehalten, die Finger hätten wohl zu zittern begonnen, wie es auch ihre Gedanken taten die hektischer und immer wilder hinter der Stirn arbeiteten. Wieso, wieso, wieso! Sie hatte ihn doch erst vor wenigen Stunden noch gesehen. Mit ihm geredet! Sie wollte schreien, jemanden schlagen, sich verstecken, hinaus rennen. Fort von dem Brief, weg von der Bestätigung. Fliehen wie er es getan hatte. Aber sie war wie gelähmt, saß einfach dort mit dem Buch in ihren Händen und schlimmer noch: Nicht allein. Sie wusste das Roscoe sie aus seinen Goldaugen genau im Blick behielt. Jede Bewegung und Regung musterte, aufnahm und abspeicherte. Wie er es immer tat. Wie er sie so oft zu durchschauen schaffte. Und der sich jetzt auch noch weigerte zu gehen, als sie es verlangte weil er hinter das Gewirr ihrer Maske blickte, die sie unter dem inneren Aufruhr nicht zu kontrollieren vermochte.
Er war es auch der ihr das Buch aus den Händen nahm und ihr den Brief vorzulesen begann. Mit dieser Stimme die den toten Worten Leben einhauchte. Sie nicht zu einer Geschichte machten, aber zu einem Abschied der den Eiskristall nur noch tiefer in ihr wild pochendes Herz trieb. Sie dazu nötigte sich zu stellen, wo sie lieber geflohen wäre. Es war nicht die Stimme des Taschenspielers, aber es war seine Art die erwachte. Als stünde er mit diesem Grinsen im Raum, die Hände in den Taschen seines Flickenmantels und erzählte ihr doch noch einmal, dass er ein schönes Leben gehabt hatte. Ihr mit einem Zwinkern vorhielt, dass sie viel zu gefährlich lebte mit ihren Abenteuern. Der sogar jetzt noch gescherzt hatte, dass Götterfelser Straßen einfach besser waren als die von Löwenstein. Diese ewige Diskussion die sie wohl bei jedem einzelnen ihrer Treffen abgehalten hatten. Einen Sieger hatte es nie gegeben.
Unruhig war sie während der Worte durch das Zimmer gegangen, mit der Samtstimme immer im Ohr und schließlich dem Blick auf ihren Schulterblättern als sie am Fenster gestanden und in die Straßen Löwensteins gesehen hatte auf der sich die Leute ahnungslos herumtrieben, ihrem eigenen Leben nachgingen ohne zu wissen das ein anderes in dieser Nacht erloschen war. Vielleicht hatte sie die Diskussion damit ja gewonnen, hatte den Straßen Löwensteins die er immer belächelt hatte den Sieg geholt. Wer sollte denn jetzt mit ihr noch diesen sinnlose Stadtpatriotismus fortführen?
"Erzähl mir Geschichten von ihm."
Selbst in diesem Moment ließ er ihr keine Ruhe, zwang ihre Gedanken aus dem Strudel der Verwirrung in eine Bahn die sie kannte. Welche sollte sie erzählen? Es gab so viele die sie mit dem Taschenspieler verbanden. So viele Fäden die sie zwischen ihren Leben geknüpft hatten, durch Wetten, durch Worte, durch gemeinsame Erlebnisse. Und er hatte sie in nur einer Nacht gekappt. Sie einfach durchtrennt. Aber irgendwann entschied sie sich. Sie erzählte, erzählte wie er sie immer aufgeregt hatte mit seiner Abneigung zu kämpfen, das er sich hatte verprügeln lassen als sie es provoziert hatte und sich dann sogar noch bei ihr entschuldigt hatte. Sie hatte sich damals ebenfalls nach dem "Wieso" gefragt, hatte seine Art sich dem Leben zu stellen weder verstanden noch gut geheißen.
Dieser Geschichte folgten noch andere. Roscoe hielt sie am Reden, ließ die Erinnerungen wie Planken an die Meeresoberfläche treiben, an denen sie sich einer Ertrinkenden gleich festklammern konnte. Ihre Augen brannten unter den ungeweinten Tränen die ihr den Blick bereits verschleierten als sie sich endlich von dem Fenster abwandte, wieder dem Bett zu auf dem verteilt die Fragmente eines vergangenen Lebens lagen. Sie wollte sie weglegen, sie wollte sie aus ihrem Blick schaffen. Sie musste sie aus ihrem Blick schaffen. Es würde zu einer Erinnerung werden, zu einer Information die sie tief in sich verwahren würde, bis sie damit umgehen könnte. So der Plan.
Aber mit Plänen ist es eben die Sache...wenn man sie nur selber kennt, dann werden sie so leicht von außen her vereitelt. So wie es auch dieser wurde, als Roscoe sie einfach griff und an sich zog, sie immer fester hielt je mehr sie sich wehrte bis der Körper einfach aufgab und erschlaffte. Wieso...schon wieder diese Frage...wieso erlaubte er ihr nicht einmal das. Wieso zwang er sie nur schon wieder sich zu stellen, sich vor ihm all dem hier zu stellen. Wieso durchbrach er den Tränenschleier mit seiner Körperwärme und stand schlicht schweigend da, als das Eis in ihren Augen schmolz und in Form von Tränen stumm über ihre Wangen rann. Sie hatte so lange nicht geweint. Gefühlte Ewigkeiten vor einem anderen Menschen nicht.
"Selbst ich weine hin und wieder."
Es war gar nicht so lange her gewesen das Schnodder ihr dies anvertraut hatte in einem Gespräch genau hier in ihrem Zuhause. Sogar Schnodder, die sie als einen so starken Menschen, als einen Fels, für andere empfand. Ausgerechnet jetzt erinnerte sie sich an diese Worte und erzitterte unter ihnen. Am Rande hörte sie ihre eigene Stimme, so rau und heiser von all dem Jubel und Geschrei am Ring, krächzen:
"Wie lange?" Die Frage ließ den Druck der Arme nicht ersterben. Er behielt sie weiter in diesem eisernen Griff. Aber was körperliche Stärke betraf, würde er ihr ohnehin immer überlegen sein. Er ahnte was sie meinte, durchblickte auch jetzt das sie wissen wollte wie lange er noch gedachte so mit ihr hier zu stehen.
"Solange es nötig ist."
Etwas in ihr zerfaserte bei diesen Worten. Al war tot. Er würde nicht wiederkommen. Er würde nie wieder an seiner Mauer stehen, sie nie wieder beleidigen, nie wieder eine unsinnige Wette abschließen, nie wieder schimpfen über ihre Abenteuerlust. Einer ihrer engsten Freunde war einfach aus ihrem Leben verschwunden. Sie hatten ihre Namen gekannt, ihre richtigen Namen. Nicht die Kürzel und Spitznamen die die Welt kannte. Sie hatten beide in die Welt gegrinst und dahinter ihre Gedanken versteckt.
Sie weinte um ihn, bis dort keine Tränen mehr übrig waren. Bis der Griff sich langsam lockerte. Dann tranken sie auf ihn. Tranken auf sein Leben, wie er es sich gewünscht hatte im Brief.
"Leb wohl Kay. Dein Alrion Lanon."
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