"Sicher, dass'e ihn seh'n willst? Sieht echt übel aus, eh. Hat sogar mir 'n Magen umjedreht." Ein alter, grauer Seebär mit ledriger Haut sah Aemetha fragend mit einem Hauch von Sorge an. "Natürlich, dafür bin ich doch hier, oder?" Der Seemann nickte einmal zur Bestätigung, dann bedeutete er der Sylvari mit einem Nicken, ihm in den Lagerraum seines kleinen Geschäfts zu folgen.
Ein Jahr war vergangen als sie und Mardroc den Hain verlassen hatten. Beide hatte nach und nach wie so viele ihres Volkes das Bedürfnis gepackt, sich von der Obhut des Mutterbaumes zu entfernen und in die weite Welt zu wandern, immer auf der Suche nach neuen Erfahrungen. Sie kamen eine ganze Weile in Kryta herum, hielten sich einige Zeit in Götterfels auf, ehe sie es dann nach Löwenstein trieb. "Das Tor zur Welt", erklärte Aemetha Mardroc damals. Der junge Sylvari blieb wie immer äußerlich völlig ruhig, doch spürte Aemetha, dass Mardroc alles mit großer Neugier und Wissensdurst in sich aufsog. Dieser von Piraten erschaffene Schmelztigel der Kulturen faszinierte den Sylvari so sehr, dass er es war, der vorschlug, sich für längere Zeit in Löwenstein niederzulassen. Aemetha stimmte zu, hatte sie hier doch schon eine gewisse Zeit früher gelebt und die Stadt mit den vielen Völkern vermisst gehabt.
Die zwei quartierten sich in ein kleines Haus, das wie so viele hier in der Seemannsstadt aus alten Schiffsteilen gezimmert war, ein. Während Mardroc versuchte, mehr zu lernen, vor allem im Bereich der Musik, meldete sich Aemetha zum Dienst bei der Löwengarde. Sie hatte das Bedürfnis, für Recht und Ordnung zu sorgen und es den besonders bösen Buben in der Stadt voller zwielichtiger Gestalten zu zeigen. Ihr dunkler Gefährte hielt sich indes mit kleineren Auftritten in Tavernen über Wasser. Sowohl seine als auch ihre Arbeit führte jedoch dazu, dass die zwei sich immer seltener sahen. Mardroc war immer öfters immer länger weg, manchmal sogar ganze Nächte. Sie hätte ihn vielleicht gescholten, wenn ihre Arbeit als Löwengardistin sie nicht selber so sehr auf Trab hielt.
So wie seit einem halben Jahr. Immer wieder tauchten in der Stadt irgendwo Leichen auf. Das war an sich in einer Stadt voller Piraten und Gauner nichts neues, jedoch wurden in letzter Zeit relativ grausame Leichenfunde gemacht. "Theatralisch. Ja, so kann man es nennen", sagte einmal Aemethas Vorgesetzter. Aemetha gab ihm Recht. Da war zum Beispiel jener Falschspieler. Ein Mann, der lauter manipulierter Würfel bei sich trug und sie in diversen Gasthäusern einsetzte. Scheinbar wollten schon die anderen Gäste den Mann lynchen, doch konnte er entkommen und die Stadt verlassen. Am darauf folgendem Tag tauchte seine Leiche hinter dem Gasthaus, in dem er zuletzt seine Tricks probierte, auf. Die Leiche war gänzlich nackt. Seine Oberschenkel wurden aufgeschlitzt und Teile des Fleisches hinter der Haut entfernt. In den "Taschen" hat der Mörder dann Unmengen an Würfeln, dass sie schon fast wieder raus purzelten, gestopft.
Ein weiteres Opfer wurde im Süden am Strand gefunden. Ihm fehlten die Beine und es "saß" an einer Palme gelehnt. In seinen Händen hielt das Opfer die eigenen Augen umfasst. Dieser Mann wurde ein paar Wochen zuvor in der Nähe dieses Strands gesehen. Er kam an einer Szene vorbei, als ein Mann ein Mädchen überfiel und missbrauchte. Passanten, die sich von Weitem der Szene näherten, sahen wie das Opfer wohl zufällig vorbei kam und dann desinteressiert das Weite suchte. Und so ging es über Monate weiter. Dabei gab es kaum Unterschiede bei Volk oder Geschlecht. Es schien alle treffen zu können.
"Er will, dass sie gefunden werden", sagte Mardroc, als Aemetha mit ihm an einem Abend über die Morde sprach. "Denke darüber nach, was du über all diese Opfer erfahren hast. Sie haben sich alle einer Schande schuldig gemacht. Der Mörder will es uns zeigen."
"Uns?". Aemetha sah Mardroc fragend an.
"Uns, der Stadt und natürlich der Löwengarde."
"Aber warum?"
"Wie gesagt, er will der Öffentlichkeit die Schande der Opfer zeigen. Für ihn sind die Morde scheinbar weniger schlimm als das, was die Toten getan haben. Und es wird sicherlich wichtig für ihn sein, dass Gesetzeshüter diese Tatsache verstehen."
"Hmm...", sie tippte sich nachdenklich mit einem Finger auf die Lippen. "Damit könntest du natürlich Recht haben. Aber egal, was die Toten getan haben, das rechtfertigt noch lange keine solchen...grausamen Morde."
"Warum nicht?" Mardroc sah sie nun mit seinen eindringlichen, roten Augen an. Sie selber blinzelte überrascht über diese Frage.
"Warum nicht? Man tötet nicht! Niemals!"
"Nicht einmal, wenn derjenige es verdient hätte?"
"Nein, nicht einmal dann! Wer sind wir, dass wir über Leben und Tod entscheiden könnten? Außerdem...vergiss nicht Ventaris Lehren! 'Alles hat ein Recht zu wachsen'."
"Ventari war auch nur ein Sterblicher..."
Diese Diskussion ging noch eine ganze Weile weiter und war auch nicht die erste ihrer Art. Mardroc überraschte und schockierte Aemetha immer wieder von neuem mit seinen Äußerungen und Ansichten. Manchmal, wenn sie es nicht besser wüsste, hätte sie ihn sogar für einen Höfling gehalten. Allerdings hatte der Dunkle sich auch schon oft genug über den Albtraumhof abfällig geäußert.
Aemetha atmete tief durch. Der alte Seebär stand nun in seinem Lagerraum, in dem er die Leiche, die er gefunden hatte und weshalb Aemetha überhaupt hier war, aufgebahrt hatte. Der ehemalige Seemann und Kleinladenbesitzer hatte bei der Löwengarde keine genaue Beschreibung da gelassen und nur gesagt, dass es schlimm sei. Auch jetzt schien er bis zum letzten Moment nichts dazu sagen zu wollen. Aemetha sollte sich wohl selber ein Bild machen. Die Sylvari schritt über die Türschwelle und an den Seebär, der nun eigenartig grinste, vorbei.
Da lag es, das Opfer, mitten auf einem Tisch. Es war der Sohn eines reichen und bekannten Kaufmanns, der einige Geschäfte und Niederlassungen des Vaters übernommen und durch Misswirtschaft in den Ruin getrieben hatte. Er lag nun auf dem speckigen Tisch des Seebärs und war über und über mit Blut besudelt. Seine Schädeldecke wurde von jemandem geöffnet, das Gehirn entfernt und ein Buch halb in den Kopf gepresst. "Was in dem Buch wohl drin steht, eh?", fragte der Seebär.
Aemetha schluckte schwer. "Seine Finanzen", antwortete sie mit rauer und trockener Stimme. Was hatte Mardroc eine Woche zuvor über den Kaufmannssohn noch gesagt gehabt? "Er ist wahrlich dumm. Ihm sollte man seine Finanzen in den Kopf einhämmern..."
Aemetha schluckte erneut.