„Sieh mal, ein Quaggan!“
„Das ist ein Quaggan? Er sieht sie glitschig aus. Und so rund.“
„Schau nur, wie sie watscheln.“
Lunarahn kneift die Augen etwas zusammen. Alles was sie sieht, ist ein schwarz-graues Nebelgemisch ohne jede Konturen. Sie seufzt leise. Wie soll sie dieses Nebelgemisch von dem eines Baumes unterscheiden können? Oder dem ihrer Geschwister? Im Grunde genommen sieht für Luna alles gleich aus. Nur Licht nicht. Licht ist heller. Fast weißer Nebel. Aber er tut ihr in den Augen weh, so sehr, dass sie zu tränen beginnen. Sie lenkt ihren Blick wieder dorthin, von wo die Stimmen herkommen. Langsam beschleicht sie das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Ihre Geschwister können diesen Quaggan scheinbar deutlich erkennen. Warum gelingt ihr das nicht? Können sie diese Schwarz-grauen Flecken einfach nur besser voneinander unterscheiden? Ist sie vielleicht zu blöd dafür?
„Guck mal, da ist noch einer! Siehst du das?“
Nein, denkt Luna säuerlich. Sie sieht überhaupt nichts. Vielmehr fühlt sie, dass dort vor ihr etwas ist. Genauer kann sie es nicht benennen. Sie weiß, dass etwas vor ihr ist. Etwas was kein Geschwister ist. Und auch kein Baum oder ein Stein. Etwas Lebendiges. Ein Quaggan? Plötzlich weht ihr ein unbekannter Geruch um die Nase. Etwas salzig und… ein bisschen wie Fisch. Noch bevor Luna die Gelegenheit hat, diesen Geruch zu verinnerlichen, berührt sie etwas wie aus dem Nichts an der Hand und Luna zuckt heftig zusammen, als sie erschrickt. Dieser Quaggan scheint auf sie zugegangen zu sein und Luna hat es nicht bemerkt. Wie auch, denkt sie panisch, wenn man nichts sieht?
Sie hört leises Gekicher neben sich. „Du bist aber wirklich schreckhaft, Schwester.“
Ja, wirklich witzig. Luna ringt sich ein gequältes Lächeln ab. Immer noch besser als zu schmollen, weil sie ja sowieso keinen Spaß versteht. Doch ihre Geschwister achten schon gar nicht mehr auf sie, sondern plappern wieder aufgeregt darüber, was der Quaggan dort tut.
Langsam lässt sich Luna auf den Boden sinken. Einen Moment lang hockt sie einfach nur da und fährt mit den Fingerspitzen über den nassen, kühlen Sand. Sie fühlt ihn schon eine Weile unter ihren Füßen, seit sie hier sind. Nun wollte sie ihn mal mit den Fingern befühlen. Zuerst gleiten ihre Fingerspitzen sanft über die Oberfläche, jede Erhebung registrierend. Er fühlt sich ein wenig rau an und sie merkt, wie sich die Form des Sandes verändert, kaum dass sie etwas mehr Druck auf die Fingerspitzen ausübt. Ihre Finger gleiten nach rechts und schieben ein winzige Menge Sand vor sich her. Als sie die Hand wieder zurück fahren lässt, fühlt sie die flachen Furchen, die sie hinterlassen hat. Noch einmal fahren ihre Finger die Furchen entlang, graben sich nun etwas tiefer. Wie bröckelig der Boden doch ist. Fasziniert und erstaunt bemerkt Luna, wie leicht sich der Sandboden umgraben lässt. Nun gräbt sie tiefer, puhlt zunächst mit der Fingerspitze ein kleines Loch in den Boden und wühlt sich dann langsam mit der ganzen Hand tiefer in den kühlen Sand. Und stellt dabei fest, dass der Sand immer kühler wird, je tiefer sie gräbt. Sie zieht die Hand wieder aus dem Loch und sucht tastend den Sand, die sie aus dem Loch gehoben hat. Sie nimmt etwas davon in ihre Hand und wiegt ihn sachte. Dann packt sie noch etwas Sand dazu und stellt nun fest, wie schwer er wird. Mit der freien Hand tastet sie wieder nach dem kleinen Loch und lässt den Sand hineinrieseln.
„Luna, Achtung!“
Die Warnung hört Luna zu spät. Mit einem Mal trifft sie etwas kaltes nasses und wirft sie um. Es geht ihr bis an die Brust und voller Panik kann sie einen Aufschrei nicht unterdrücken. Sie wird rückwärts in den Sand gedrückt, als sie schon wieder hart getroffen wird. Luna beginnt heftig zu husten, als ihr Wasser in den Mund gedrückt wird und sie sich beinahe daran verschluckt. Plötzlich ist sie von Kopf bis Fuß klitschnass und verliert dazu jede Orientierung. Etwas nicht greifbares beginnt an ihr zu ziehen und panisch schlägt Luna wild um sich. Sie schreit auf, als sie etwas hartes unnachgiebiges am Arm packt und sie in die entgegengesetzte Richtung zieht. Sie schlägt weiter nach dem Ding an ihrem Arm und hört ein leises schmerzerfülltes Stöhnen, doch es lässt sie nicht los. Unbewusst nimmt sie wahr, wie die durch den Sand geschliffen wird und sich kurz darauf in feuchtem Gras wiederfindet. Zitternd rollt sie sich zusammen, als der Druck auf ihren Arm nachlässt und sie spürt, dass nichts und niemand mehr an ihr zieht.
„Alles in Ordnung, Lunarahn?“ Sie hört die sanfte Stimme ihres Mentors und als sie sich sicher ist, dass er es ist, der ihr so verflucht nahe ist, nickt sie langsam.
„Sie zittert wie Espenlaub. Dabei war es doch nur eine kleine Welle.“
„Seid still. Versucht euch mal in ihre Lage zu versetzen. Na los, Kyehla. Du wolltest mir doch deine Muschel zeigen. Geh sie holen.“ Ihr Mentor klingt immer freundlich, selbst wenn er einen tadelt und einen kurzen Moment ist Luna froh, dass er die anderen Sprößlinge wieder wegschickt.
Zitternd bleibt Luna in der Sonne liegen und wartet darauf, dass die warmen Sonnenstrahlen sie trocknen und wärmen. Dankbar registriert sie, dass ihr Mentor nicht versucht, sie mit Berührungen zu trösten sondern sich einfach neben sie setzt.
„Dir fehlt zum Glück nichts, Lunarahn. Du bist nochmal mit dem Schrecken davon gekommen. Soll ich dir etwas bringen?“
„Hast du… Schokolade dabei?“
„Ah, typisch, du kleines Nasch-Mäulchen. Nein, leider nicht. Aber ein paar Karamellbonbons.“
Sie streckt eine Hand aus und kurz darauf fühlt sie wie etwas kleines hartes Rundes hinein fällt und sie steckt es sich auch gleich in den Mund.
„Uh, dieses ist aber körnig und schmeckt komisch.“
„Kein Wunder. Weil du Sand auf der Hand hast und der nun am Bonbon klebte.“
„Oh…“ Sie klopft sich die Hände ab und als sie sich abtastet stöhnt sie leise. „Ich bin überall mit Sand bedeckt, oder?“
„Das bist du. Aber sobald er trocken ist fällt er ganz leicht wieder ab.“
„Was hat mich da eben eigentlich angegriffen?“
„Das war kein Angriff, kleiner Sproß. Das war eine Welle. Hörst du, wie sie immer ans Ufer brandet?“
„Ja… aber die eben habe ich überhaupt nicht bemerkt.“
„Das kommt, weil du wieder so in Gedanken warst. Du solltest immer deine Umgebung im … Aug…. ich meine im Gefühl haben.“
„Im Gefühl?“ Irritiert blickt sie in die Richtung, aus der die Stimme ihres Mentors kommt.
„Du kannst nicht sehen, wie andere Geschwister. Aber du sagtest, dass du deine Umgebung erfühlen kannst. Ich bin sicher, dass das nur der Anfang ist, kleiner Spross. Dinge, die du kannst – wenn auch nur ein wenig und unkontrolliert – sind ausbaufähig. Du musst nur an dich glauben und dich anstrengen. Dann werden einige Dinge, die unmöglich scheinen, plötzlich möglich sein.“
„Denkst du das wirklich?“ Voller Hoffnung und Faszination starrt sie ihren Mentor an. Auch wenn sie ihn nicht sieht, weiß sie, dass er da ist.
„Ja, das tue ich, kleines Pflänzchen.“ Mit einem Lächeln sieht er sie an. Er weiß, dass sie das Lächeln in der Stimme hören kann und gleichzeitig strahlt er diese angenehme Zuversicht aus.
„Glaubst du… ich kann Hainhüterin werden?“
„Du musst dich anstrengen, Lunarahn. Die Wege waren dir nie verschlossen. Und wie steinig sie sind, wirst du nur herausfinden, wenn du den Weg entlang schreitest. Wenn es dich zu diesem Weg hinzieht, solltest du dich nicht aufhalten lassen. Am allerwenigsten von dir selbst.“
Einen Moment lang fühlt sich Luna zu sprachlos, um antworten zu können. Schweigend klopft sie sich etwas von dem Sand auf ihren Armen ab, bis sie schließlich entschlossen aufsieht.
„Dann werde ich es versuchen. Ich werde einen Hainhüter finden, der sich bereit erklärt, mich auszubilden. Und dann werde ich auch eine Hainhüterin sein. Und all diejenigen schützen, die es selbst nicht können.“
„Ich freue mich schon darauf.“
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