Es war alles was er wollte. Frei zu sein. Frei in seinen Entscheidungen, frei in seinem Handeln, frei zu gehen, wohin er will, frei zu denken was er will, ohne dafür verurteilt zu werden.
Nherihs dachte schon immer etwas anders. Er hinterfragte alles, was man ihm erzählte. Seine Neugier war unersättlich und seinen Mentor trieb er so in manch schlaflose Nächte. Nicht nur, weil er selbst Antworten auf die unzähligen Fragen suchte, sondern weil ihm manche Fragen nicht gefielen.
„Warum sind die Worte eines toten Zentauren wichtiger als die lebender Geschwister?“
„Warum dürfen Hainhüter entscheiden, was Recht ist und was nicht?“
„Warum tun im Hain alle so, als gäbe es nichts Böses auf der Welt?“
Seine Fragen waren manchmal gefährlich, aber sie brachten ihn weiter. Er war bald als schlauer Kopf bekannt, der hervorragend darin war Zusammenhänge zu erkennen und Schlüsse daraus zu ziehen. Die Abtei Durmand hätte sich sicher um ihn gerissen, hätte sie von Nherihs gewusst. Doch die Abtei Durmand lernte Nherihs nie kennen. Stattdessen lernte Nherihs eines Tages einen Bruder kennen, der seine gefährlichen Fragen genauso interessant fand, wie er selbst. Und es kam sogar noch besser. Dieser Bruder wusste sogar Antworten. Und auch wenn ihm einige dieser Antworten nicht gefielen, so erkannte er doch eines: er wurde von der Baummutter betrogen und belogen.
Er erkannte den Hain als das, was er wirklich war: ein Käfig. Ein goldener Käfig vielleicht. Aber dennoch ein Käfig. Mit Gefängniswärtern die penibel darauf achteten, dass jeder nach den Regeln spielt. Man gewährte ihnen die Illusion, sich frei entfalten zu können, doch nur, solange die Entfaltung nicht zu sehr in eine unbequeme Richtung ausschlug. Denn dann war man verloren. Unwiderruflich. Welch eine Farce, dachte Nherihs. Man war nicht verloren. Nein… jene die sich vom Traum abgewandt haben, waren frei. Und eines Tages sah sich Nherihs in ebendieser Freiheit. Es gab sie nicht umsonst. Alles hatte einen Preis, doch Nherihs war nur zu bereit diesen auch zu bezahlen. Denn nun konnte er das tun, was er für richtig hielt. Gehen, wohin er wollte. Nun, außer in den Hain. Doch Nherihs glaubte fest daran, ihn eines tages wieder betreten zu können, wenn das Joch der Blassen Mutter gebrochen war.
Es sollte niemals dazu kommen. Nherihs wurde von einem Hainhüter getötet, nur wenige Wochen nachdem er dem Hof beigetreten war. Doch in diesen Wochen hatte er den Schaden angerichtet, der nötig war, um ein wahrer Höfling des Alptraums zu sein. Er hatte den Traum mit seinen Taten vergiftet und Einfluss auf eine junge Sylvari genommen, die gerade noch in der Schote heran wuchs.
***
Nherihs war tot. Aber sein Vermächtnis lebte weiter. Ein Schatten nur – in der Form einiger grausamer Erinnerungen tief verborgen im Traum. Und wenn Ayunherihs sich in tiefe Meditationstrance versetzt kann sie ihm gegenübertreten.
So wie auch bei diesem Mal. Vor ihrem inneren Auge steht Ayu vor einem Käfig. Ein Käfig, den sie selbst in ihrem Inneren – tief verborgen hinter allem was sie ausmacht – errichtet hatte, um Nherihs‘ Einfluss einzusperren. Seit ihrem letzten Sieg über diesen schwarzen Schatten, hatte sie Ruhe. Zumindest hatte sie es geglaubt. Aber inzwischen musste sie es sich eingestehen, dass egal wie tief sie diesen Teil von sich vergräbt, er doch immer zu ihr gehören wird. Diese dunkle Stimme, die ihr Dinge zuflüstert, die sie nicht wahrhaben will. Die ihr Versprechungen macht. Diese süße süße Stimme, der man nur schwer widerstehen kann, weil es so logisch klingt, wenn man nur lange genug zuhört. Diese Stimme, die schneidend wie Eissplitter wird, sobald man ihr wiederspricht.
Lange Zeit hatte Ayu Angst vor dieser Stimme. Irgendwann fand sie den Mut, sich ihr zu stellen, wenn auch nur zögerlich. Und eines tages, wies sie ihren Schatten in die Schranken. Sie schloss sie tief in sich weg.
Doch ein unerwarteter Vorfall lockerte die Käfiggitter und kurz brach diese Stimme mit ihrem ganzen Zorn über sie hinein. Ayu erkannte sich an diesem schrecklichen Abend nicht mehr wieder und es dauerte noch tage, ehe sie den Mut fand mit denen, die bei ihr waren darüber zu sprechen. Zumindest hatte sie es versucht. Schlussendlich aber hatte sie erkannt, dass sie etwas tun musste. Sie war einfältig zu glauben, dass sie seit ihrem kleinen Sieg über Nherihs‘ Erinnerung nun Ruhe vor ihm haben würde.
Nein, es ist an der Zeit, zu akzeptieren, was ist und was nicht sein kann und damit ihren Frieden zu machen. Es ist an der Zeit die Vergangenheit ruhen zu lassen und nach vorne zu blicken.
„Sieh an, sieh an. Ich dachte schon, du hast mich vergessen.“ säuselt die süße Stimme voller Verachtung.
Ayu blickt ihr Ebenbild an. Er hatte die selbe blaue Farbe wie sie, dieselben gelben Augen, sogar ihre Körper waren sich ähnlich, nur dass seiner dem eines Mannes nachempfunden war und ihrer der einer Frau. Selbst sein Lächeln konnte so unglaublich sanft sein – läge das nicht der eisige Blick in seinen Augen.
„Schweigsam wie immer, was?“ Nherihs lehnt sich locker an die Gitterstäbe seines Gefängnisses und blickt Ayu betont gelassen entgegen. Ayu weiß, welcher Zorn in dieser Erinnerung steckt. Welche Kraft. Nherihs war stark gewesen. Und schlau. Lange Zeit hatte sie ihn insgeheim ein wenig darum beneidet. Doch auch diese Zeit ist vorbei.
„Was willst du? Mich anstarren? Kannst genauso gut in einen Spiegel schauen, kleiner Schmetterling.“
„Zeig es mir.“
Die Erinnerung blickt Ayu wachsam an.
„Was soll ich dir zeigen?“
„Alles.“
Ein triumphales Grinsen zeigt sich auf den Lippen der dunklen Erinnerung, als alles um Ayu zerbricht und sie tief in einen Sog aus Erinnerungsfetzen gerissen wird.
***
Der qualvolle Schrei verstummt und klingt zu einem Röcheln ab, als Nherihs Hand sich senkt und die Eissplitter augenblicklich schmelzen. „Bist du sicher, dass du nicht mehr weißt? Ich hörte, du hast engen Kontakt zu den Hainhütern. Willst dich denen sogar anschließen.“
„Bitte … ich habe dir alles gesagt, was ich weiß.“
„Das enttäuscht mich…. Und ich hasse Enttäuschungen. Ich fürchte, ich muss dich dafür bestrafen.“
Wieder hebt er die Hand und weitere Eiskristalle entstehen wie aus dem Nichts und lassen den Gefangen erneut vor Schmerzen schreien.
***
Ayu war sich sicher, dass Nherihs ihr das zeigen würde. Dinge die er getan hatte. Dinge, die er gerne tat. Sie beißt die Zähne zusammen und lässt sich tiefer sinken.
***
Eisige Kälte umfängt ihn. Kälte wie er sie noch nie verspürt hatte. Die schneidenden Winde der Zittergipfel waren nichts dagegen, was er nun fühlt. Sie kommt von innen. Eine Kälte die ihn erstarren lässt, vermischt mit bodenlosen Hass. Hass auf die Baummutter, die alle belog. Hass auf Schwäche die ihn umgab. Nherihs weiß, er sollte sich fürchten vor diesem Bruder, der ihm so viel Kälte und Hass entgegenschleudert, dass es ihn umwerfen müsste. Doch Nherihs fühlt keine Angst. Er fühlt Entzückung und Freude diesen Bruder an seiner Seite zu wissen. Denn er weiß, dass dies nicht ihm gilt. Sie stehen auf der selben Seite.
***
Ayu keucht schwer, denn sie selbst weiß nicht mit diesem Gefühlsansturm umzugehen. Nur einmal hatte sie etwas gefühlt, was dem nahekommt. Und damals hatte es sie umgeworfen. Und genau das, war es, was Höflinge tun. Es trifft sie wie unzählige Dolchstöße und innerlich fühlt sich Ayu wie zerrissen. Und doch lässt sie sich noch tiefer sinken. Sie hat nur eine einzige Hoffnung und vertraut darauf, dass die Blasse Mutter ihr diese einzige Möglichkeit mitgegeben hat.
***
„Was hast du getan!“
Verzweifelt klammert sich die Schwester an die den Körper ihres Geliebten. Überall sickert Harz zähflüssig aus unzähligen Wunden während dieser nach der Hand der Schwester greift.
„Du hast gesagt, dass du ihn gehen lässt, wenn er die alles erzählt, was er weiß!“ Tränen laufen über ihr hübsches Gesicht, als sie Nherihs anschuldigend ansieht und die hand ihres Geliebten drückt. Die Schwester spürt, wie der Druck seiner Hand langsam nachlässt und schnell schaut sie ihn an. Die Trauer und der Schmerz sind erdrückend, doch Nherihs blickt auf die Szene herab, als würde ihn das nichts angehen.
„Verlass mich nicht, Geliebter.“ Schluchzend klammert sie sich an den leblosen Körper, während Nherihs auf sie zugeht.
„Es ist deine eigene Schuld. Hättest du ihn überredet, sich uns anzuschließen, wäre er noch am Leben.“
„Wir werden uns dem Hof niemals anschließen!“
„Du wirst. Andernfalls werden wir alle jagen, die dir etwas bedeuten und sie einem nach den anderen vor deinen Augen töten. Und jedes Mal wird es deine Schuld sein.“
Mit einem schiefen Grinsen im Gesicht sieht Nherihs, wie etwas im Innern der Schwester zu Bruch geht, als sie langsam nickt.
***
Ein Schluchzen entweicht Ayu, als die Szene sich in ihr einbrennt. Die Schuldgefühle, die Angst, der Schmerz und die Trauer, sowie der Hass und die abartige Freude aus dieser Erinnerung sind zu viel für sie. Hat sie sich zu viel angemutet? Hat sie sich geirrt? Sie fühlt sich regelrecht erschlagen und verloren. Sie sinkt immer tiefer in ihr eigenes Selbst, verliert den Rückzugsweg aus den Augen und – was noch schlimmer ist – das Ziel. Um sich herum nimmt sie nur die Erinnerung eines Toten Höflings wahr. Wie er Schmerz und Leid verursacht. Wie er sich daran erfreut. Den Hass auf die Mutter und die Hainhüter, die sich als was Besseres aufspielen. Die immer Recht haben. Die unerbittlich sind.
Und plötzlich sieht Ayu ein Gesicht vor sich, dass aus ihrer eigenen Erinnerung stammt. Ein Gesicht, dass zu einem Bruder gehört. Einem Bruder, dem sie versprochen hatte, zurück zu kommen. Ob er nun auf sie wartet oder nicht. Aber sie spürt, dass sie ihn wiedersehen will. Es ist ihr sogar unglaublich wichtig.
„Vergiss es. Du kannst nicht mehr zurück.“ Hallt es wiedernatürlich in ihren Ohren. Und Nherihs hat Recht. Ayu kann nicht mehr zurück. Aber sie kann weitergehen. Sie weiß, dass sie da sind. Sie müssen da sein. Die Erinnerungen, die sie so verzweifelt sucht.
***
„Was hat die Schwester?“ besorgt blickt Nherihs die zitternde Schwester in der Ferne an. Sein Mentor tritt neben ihn und legt ihm beruhigend die Hand auf die Schulter. „Sie war eine Gefangene des Alptraumhofes. Glücklicherweise konnte sie gerettet werden.“
„Alptraumhof?“
„Ja, sie folgen nicht länger dem Traum, sondern glauben, dass er und Ventaris Lehren falsch seien.“
„Wie können sie falsch sein? Sie ergeben Sinn und sind etwas Gutes. Sie geben uns eine Richtung vor und wenn sich alle daran halten, geht es uns gut.“
Nherihs beobachtet besorgt die Schwester, die von den Hainhütern tiefer in den Hain gebracht wird, zu den Heilkundigen.
„Wo bringen sie sie hin?“
„Zu den Heilkundigen, schätze ich mal.“ Die abrubten Themenwechsel ist der Mentor bereits gewohnt, deshalb geht er auch direkt darauf ein.
„Können die ihr helfen?“
„Bestimmt. Auch wenn es schwerer ist, eine geschundene Seele zu heilen als einen geschundenen Körper.“
„Kann ich das auch lernen?“
„Du bist so ein kluger Kopf, Nherihs. Ich glaube, du kannst alles lernen.“ Da lacht er leise und kopft ihm gutmütig auf die Schulter.
***
Ayu hat es gefunden! Sie kann es noch gar nicht fassen, aber in diesem Moment fühlt sie die tiefe Sorge um eine Schwester um sich herum. Mitgefühl, Wärme und die Entschlossenheit etwas gegen das Übel da draußen unternehmen zu wollen. Ayu fühlt die zwei Wege, die sich vor Nherihs auftun. Zwei Wege die sich ebenso vor Ayu selbst auftun. Beide Wege haben ihren Ursprung in der Entscheidung etwas gegen das Übel in der Welt unternehmen zu wollen.
Der eine Weg führt zum Schutz und zur Sicherheit und ist mit steter Wachsamkeit und der Gefahr ständiger Kämpfe verbunden. Ayu könnte ebenso wie Nherihs wählen, eine Hainhüterin zu werden – sie kann kämpfen und sie hatte es oft unter Beweis gestellt. Sie bringt den Mut und die Entschlossenheit auf, zu tun, was getan werden muss.
Der andere Weg führt zu Heilung und Bewahrung und ist mit stetem Lernen und dem Umgang mit Schmerz und Leid verbunden. Ayu kann sich entscheiden das Kämpfen aufzugeben und anderen zu überlassen und sich selbst voll auf ihre Rolle als Heilerin zu konzentrieren. Sie versteht sich darin und ist gewillt alles über die Heilkunst zu lernen, um dem Tod seine Opfer zu entreißen.
Beide Wege waren verlockend. Der eine führt sie näher an den, den sie will. Der andere führt sie näher an das, was sie erfüllt. Mit einem leisen Seufzen, lässt Ayu alle Bedenken entweichen und trifft ihre Entscheidung.
Etwas wehmütig blickt sie zu Nherihs, der einst vor der selben Wahl stand. Und sich für den Dritten Weg entschied. Der Weg, der ihm grenzenlose Freiheit versprach und verbunden war mit unsäglichem Leid und am Ende zum Tod führte.
Ayu erkennt nun, warum Nherihs‘ Erinnerung so einprägsam in ihrem Traum war. Er WAR wie sie. Bevor er die falsche Wahl traf. Und Ayu weiß nun, wie sie sein würde, sollte sie ihm auf diesem Weg jemals folgen wollen.
Nherihs ist ein Teil von ihr. Er wird es immer sein. Wie ein Schatten wird er immer zu ihr gehören. Doch diese eine letzte Erinnerung strahlt nun für sie wie ein heller Stern am Nachthimmel und lässt die anderen Erinnerungen an diese dunkle boshafte Stimme langsam aber sicher … endlich verblassen.
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