Eine sachte Brise fegt von den Feldern und Wäldern Krytas her über die Unterstadt von Götterfels, reißt dabei ein paar Geräusche oder Gerüche mit - Gesprächsfetzen, Kaminrauch, ein Blatt von einer Hecke - um sich schließlich in den seidigen, schwarzen Haaren der jungen Frau zu verfangen, die dort an den Zinnen jener Mauer lehnt, die die Oberstadt umfasst. Ihr Blick ist leer, wirkt abwesend, nach innen gekehrt, wie sie so über die Dächer starrt, ohne diese dabei wirklich wahrzunehmen. Denn das, was sie betrachtet, ist sich selbst. Sich selbst, mit all ihren Fehltritten. Mit all ihren Schwächen. Mit all ihrem Streben nach Verbesserung, nach Perfektion. Perfektion, welche an jenem Abend dann innerhalb von einigen Stunden zersplittert ist. Wie ein Spiegel, der zu Boden fällt. Man kann sich betrachten, in jeder einzelnen Scherbe, aus so vielen Perspektiven zugleich. Keine dieser abertausend Facetten sieht schön aus. So schön wie das ganze, das eine Bild. Und doch zeigt jede dieser Scherben die Wahrheit.
Amáya seufzt. Ob man die ganze Wahrheit über sich nur kennt, wenn man sich in einen Scherbenhaufen verwandelt?
Vermutlich. Doch was bringt mir das? Nicht mal eine Stunde, und ich habe unzählige Schwächen gezeigt. Bin zu einem Spielzeug für seine Launen geworden. Ein Spielzeug! Mehr war ich nicht, und werde es wohl für ihn wohl auch nicht mehr sein. Und für wen sonst noch? Für jeden, der mich einmal zum Lachen, zum Erröten bringt? Ab wann zeige ich zu viel?
Ihre Finger umklammern die Kante der Steinmauer fester, suchen Halt, als Himmel und Erde sich um sie zu drehen beginnen, im Takt des Strudels aus Sorgen und Gedanken , der sie zerfrisst. Blut rauscht in ihren Ohren, ihr Herz rast, als sie die Kontrolle über ihre Angst aufgibt. Oder sie verliert? Ein flaues Gefühl macht sich im Magen breit, ihre Sicht verschwimmt. Worte und Wissen waren deine Waffen, die eisige Maske dein Schild. Und jetzt? Hast du nichts mehr davon! Der Schild ist zerbrochen, und Wissen... Ein leises, verächtliches ‚Tsh!’ entfährt ihr. ...darauf kannst du bestenfalls hoffen, bei dem was auf dich zukommt... Und ohne Wissen sind deine Worte nichts besseres als Tand, ein netter Zeitvertreib, aber bei Weitem keine Dolche im Herz deines Gegners.
An jenem Abend hatte sie zugelassen, dass ihre Verteidigung zerschlagen wurde. Wie die eisige Maske, die zu erschaffen sie Jahre gekostet hatte, in einem funkelnden Regen aus kleinen Splittern vergangen ist.
Dieses Gefühl, schutzlos zu sein, entblößt, ein offenes Buch, hatte sie härter getroffen, als erwartet. Hatte sie der Fähigkeit beraubt, ihre Waffen einzusetzen. Es ist ein Spiel, bei dem du alle drei Faktoren perfekt beherrschen musst. Versagt einer, verlieren die anderen zwei ihre Wirkung. Die Maske verbirgt deine Schwächen. Das Wissen zeigt dir die Schwächen dienes Gegenübers. Die Worte stoßen zu, verletzen, bedrängen, schmeicheln, haben eine Wirkung.
An jenem Abend hatte sie das Spiel verloren. Haushoch und von Beginn an. Die Geschehnisse jenes Abends haben sie seitdem nicht losgelassen. Ob gewollt oder nicht, in den letzten paar Tagen sind sie immer wieder an die Oberfläche ihres Bewusstseins gestiegen, haben sie aus dem Gleichgewicht gebracht. Der Versuch, sie zurückzuhalten, war sinnlos gewesen.
Dumm.
Wenn du deine Fehler überwinden willst, kannst du sie... darfst du sie nicht einfach verdrängen! Konfrontiere sie. Sie ihnen ins Gesicht, betrachte ihre Fratzen, so wie du sonst die Leute um dich herum betrachtest. Sieh sie dir an, jede widerliche, beschämende, dich herabwürdigende Einzelheit deiner Selbst! So beginnt sie, sich den Bildern und Worten ihrer Erinnerung zu ergeben, die sie so lange im Zaum zu halten versucht hat. Sie taucht vollkommen ein, gibt die verbleibenden, kümmerlichen Reste ihrer Kontrolle auf.
Der Körper der jungen Frau krampft sich zusammen. Sie lässt sich nach vorn sinken, bis ihre Stirn den kalten, teilnahmslosen Stein berührt. Schließt die Augen.
Atmet.
Ist nichts weiter als Luft und Herzrasen und Bilder im Dunkel. Alle Dämme hat sie niedergerissen, wird nun durchbrandet, überflutet von Scham und Verachtung. Erlaubt es sich, in Selbstmitleid zu baden, darin zu ertrinken.
Sie weiß nicht, wie lange genau sie schon da kauert. Will es auch gar nicht wissen. Irgendwann richtet sie sich auf, zittrig. Öffnet die Augen.
Mit unbeholfenen Bewegungen hievt sie sich auf die Mauer, deren meterdicke Zinnen sie im Sitzen noch um eine gute Handspanne überragen, sie abschirmen. Hier gibt es nur den Wind, die Dächer, den Himmel und sie. Und die Mauer. Amáya zieht die Knie an, lehnt ihren Kopf an den kühlen Stein, lässt ihn die Hitze ihres Ausbruches aufnehmen und davontragen. Borgt sich ein Stück seiner Standhaftigkeit.
So versteckt in ihrer Nische mustert sie die Straßen und Gassen von Götterfels, lässt ihren Blick schweifen. Nun nimmt sie sie auch wahr, die Konturen, Formen, Farben. Details, wie das Sonnenlicht, das sich in Glasfenstern spiegelt. Oder die Rauchschwaden, die aus unzähligen Schornsteinen aufsteigen und von jener beständigen Brise zu einem wirren, sich kräuselnden Tanz gefordert werden.
Jene Brise wird als einziges Zeuge der Frage, die die junge Frau sich stellt, die sie leise vor sich hin wispert, wie um sich selbst davon zu überzeugen, dass es eine Antwort darauf geben muss. Eine Antwort, die ebenso sicher existiert, wie die Frage an sich es tut. Der Wind, bereits erfüllt von so vielen Gerüchen und Klängen aus der Unterstadt, nimmt nun auch diese Silben auf, die ihm hier anvertraut werden, um sie in alle vier Himmelsrichtugnen zu verstreuen.
„Und jetzt?“
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