*Vorwarnung: Keine humoristische Akzentuierung und vereinzelt explizite Gewaltdarstellung*
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Ein Raum, totenstill wie eine Krypta. Das Summen der Gerätschaften, das Flackern zahlreicher Hologramme, mit unterschiedlichsten Inhalten und selbst der Servicegolem, dessen Antriebskern wie ein sich senkender Felsbrocken klang, vermochten es nicht, den Kreis der Totenstille zu durchbrechen. Eine Totenstille, die wie ein Deckmantel um der Sphäre des Magisters hing. Ein Warteraum wie ein goldener Käfig, dank jenem Golem, der auf Wunsch kostenfreie Getränke zur Verfügung stelle. Nicht einmal ein Käfig, denn aufgrund bürokratischer Ungereimtheiten wäre es legitim gewesen, einfach zu gehen. Doch kurzfristig würde dies nicht helfen. Langfristig gesehen war es sogar unklug, weil es womöglich den bestehenden Verdacht erhärtete. Die Aussage vor dem Arkanen Rat war bereits gemacht worden. Jetzt berieten jene Schlangen und Spinnen, über die Ernsthaftigkeit der Lage und etwaige Folgen. Für den vorliegenden Fall waren gar alle anderen Themen von der heutigen Agenda gestrichen worden, was nur ein Eilantrag ermöglicht hatte. Scheinbar war die Lage noch viel prekärer, als zunächst befürchtet. Und jene Furcht ließ den Magister nicht los. Nichts um ihn herum wollte er augenblicklich wahrnehmen, er schottete sich ab, wollte sich einen Rückzugsort jenseits der Realität schaffen. Es misslang ihm. Das Gefühl der Totenstille konnte nicht aufrecht erhalten werden. Denn ganz allein schien der Asura in diesem Raum nicht zu sein. Äußerst widerwillig löste er seinen lethargischen Blick vom metallenen Boden und blickte abfällig seitwärts in ein Antlitz, welches seinen Blick nicht wenig abfällig erwiderte.
„Je mehr Du dir nimmst, desto weniger wirst Du schlussendlich besitzen.“
Falls der Magister diese Anrede und ihren bewussten Verzicht auf Höflichkeitsformen als Affront auffasste, ließ er es sich nicht anmerken. Viel mehr beschäftigt ihn der genaue Wortlaut und dessen Bedeutung. Jenes Credo – Sooc pflegte auch, es als dümmliche Binsenweisheit abzutun – hatte er als Schüler am Kolleg der Synergetik oft vernommen. Es war der bevorzugte Ausspruch seines ersten Lehrmeisters, zu allen passenden und unpassenden Situationen, gewesen. Der Ausspruch eines Mannes, welche die ethischen Grundsätze der Asura als größte Errungenschaft seines Volkes betrachtete. Der Magister stimmte nicht im geringsten zu. „Je weniger man zu erreichen und zu riskieren gedenkt, ein desto größerer Idiot wird man am Ende seines Lebens sein.“
Soocs abfälliger Geschichtsausdruck verhärtete sich leicht, blieb aber ansonsten unverändert. Sein unerwünschter Gesprächspartner tat es ihm gleich. „Eine äußert einseitige Sichtweise, welche die wahrhaftige Substanz des Credos verkennt. Dessen bist Du dir auch bewusst. Der tiefere Sinn mag simpel erscheinen, doch er ist für das ursprüngliche Selbstverständnis unseres Volkes unverzichtbar. Ein großer Geist bringt große Verantwortung mit sich. Es gilt nicht nur, diese Verantwortung gewissenhaft zu übernehmen, sondern auch, die eigenen Ambitionen niemals in den Status eines absoluten Maxims zu erheben. Was geschieht, wenn wir ethische Grundlagen zu Gunsten der Effizienz, Rationalität und partikularen Interessen ignorieren? Möglicherweise erzielt unser Volk in kürzerer Zeitspanne wünschenswerte Ergebnisse in technologischer, magischer und gesellschaftlicher Hinsicht. Doch wenn der Amoralismus überhand nimmt und unserem Handeln keine Grenzen gesetzt werden, was geschieht dann? Andere Völker und schlussendlich auch wir selbst würden unter der Tyrannei der Effizienz und Zweckmäßigkeit leiden. Die antagonistischen Unterschiede zwischen den Asura und ihren alten Feinden, welche uns an die Oberfläche trieben, würden vollkommen egalisiert. Oder vertrittst Du diesbezüglich eine gänzlich andere Auffassung?“
Der Magister bereute bereits, den Augenkontakt zu seinem Gegenüber hergestellt zu haben. „Dies war die Auffassung eines törichten Lehrmeisters, der jedwede Erwartungen und Ambitionen an sein Leben schon lange verloren hat. Es ist eine singuläre Auffassung jener Binsenweisheit, kein festgeschriebenes Gesetz. Derartige Gesetze sollte es im Raum der theoretischen Reflexion auch gar nicht geben, da sie Zeitlosigkeit beanspruchen. Die Welt jedoch ist nicht statisch, sondern eine Agglomeration dynamischer Prozesse. Wenngleich das manche Betonköpfe des Kollegs der Statik anders wahrnehmen. Demzufolge hat jene Binsenweisheit ihre Bedeutung im Laufe der Zeit verloren. Ebenso wie Erwartungen meines skritthirnigen Lehrmeisters an sein Leben verloren gegangen sind.“ Der Magister war geneigt, an dieser Stelle einfach das Gesicht abzuwenden und das Gespräch zu einem Ende zu zwingen, aber er setzte seine Rede fort. „Niemandem scheinen die hochgelobten, ethischen Grundsätze unseres Volkes noch etwas zu bedeuten. Der Arkane Rat besteht augenscheinlich nur noch aus Egomanen, welche sich in ihren Forschungen gegenseitig zu übertreffen versuchen. Ganz gleich mit welchen Mittel. Der Zweck heiligt die Mittel, andernfalls hätte die Inquestur niemals entstehen, geschweige denn, eine solch unverdiente Bedeutung gewinnen können.“
„Einfache, wenngleich unverkennbar wichtige Wahrheiten, können in Vergessenheit geraten. Für eine Anomie ethischer Grundsätze ist bisweilen nichts weiter nötig, als dass Vertreter ebendieser Grundsätze über amoralische Zustände und Tatsachen einfach hinwegsehen. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass ausgerechnet Du die Entstehung der Inquestur als Indiz anführst. Eine Kru, die von keinem deiner derbsten Scherze verschont bleibt. Denn was ist eigentlich deine bisherige Rolle gewesen? Gehörst Du zu jenen, die einfach wegsehen haben, oder hast Du die ethischen Grundsätze durch deine Handlungen aktiv unterminiert? 'Magister Sooc'“, ein unangenehm missgünstiger Ton wohnte der Stimme bei, „bester seines Jahrgangs am Kolleg der Synergetik. Intelligent, ambitioniert, ehrgeizig, hochmütig, unfreundlich und den Lehrmeistern nicht primär wegen seiner außerordentlichen Studienleistungen, sondern seines generellen Verhaltens wegen in Erinnerung geblieben. Was erhoffst Du dir eigentlich davon, dein mentales Potential ganz maßgeblich für das perverse Vergnügen zu missbrauchen, deine Umwelt minderwertiger einzuschätzen als dich selbst und Andere wegen dem zu belächeln, was Du als ihre Schwächen erachtest? Was hat ein solcher Magister, als mehrjähriger Forscher und Kurator am Brill-Allianz-Labor, getan, um die ethischen Grundsätze seines Volkes am Leben zu erhalten?"
Sooc spürte Zorn und Abscheu in sich aufsteigen. Hier über die Auslegung bescheuerter Binsenweisheiten zu diskutieren war die eine Sache. Ein Versuch der Demütigung und Herabwürdigung seiner Person, war eine vollständig Andere. „Nicht weniger Einsatz und Engagement, als ein jeder andere. Und jener hat augenscheinlich nicht ausgereicht. Ein weiteres, unverkennbares Anzeichen dafür, dass sich die Grundlagen unserer Gesellschaft fundamental verändert haben und es auch in Zukunft werden.“ Der Magister, welcher seinerseits stets so erpicht auf skeptisch akzentuierte Gespräche war, hoffte auf einen spontanen Abbruch der Konversation. Eine Hoffnung, die unerfüllt blieb.
„Eine billige Ausrede, selbst für dich. Dessen bist Du dir vollkommen bewusst. Du hast – bestenfalls – nicht das Geringste getan. Doch wir beide sind uns gewahr, dass dies eine faktische Untertreibung darstellt. Als Du die letzten Unfälle am Labor mit eigenen Augen erblicken konntest, was hast Du dabei empfunden?“
Der Magister verlieh seinem Zorn durch einen grausamen Blick Ausdruck. Sein Gesprächspartner schien sich jedoch davon unbedruckt zu zeigen, da er nicht zurückwich, sondern einen Schritt auf Sooc zumachte. Just in diesem Moment tat es seinem Gegenüber gleich. „Experimentelle Forschungen, welche lebende Testobjekte – auch bekannt als Testsubjekte – voraussetzen, erfordern hohe Sicherheitsstandards. Ich gehörte zu jenen, welche die Relevanz und bedingungslose Einhaltung jener Standards unablässig untermauerten, doch wurde ich von der Wartungabteilung und ihrer Inkompetenz massiv behindert. Mehr als einmal war es der Wartung zuzuschreiben, dass sich jene Kollateralschäden überhaupt ereignen konnten. Da ich auf Personalentscheidung keinen wirksamen Einfluss habe, kann man nicht mir diese Unzulänglichkeiten anhaften.“
„Eine weitere, billige Ausrede, nebst einem Versuch, dich aus der Verantwortung zu ziehen. Allein dieser Versuch gibt dir bereits eine Mitschuld an dem Unglück. Du warst dir der inhärenten Risiken jener Experimente stets bewusst, sowie auch ihrer amoralischen Natur. Ansonsten hätte es nichts zu vertuschen gegeben. Wirst Du der Schuld enthoben, nur weil technologische Defizite eingetreten sind, welche dir anhand ihrer prozentualen Wahrscheinlichkeit als theoretisch unmöglich erschienen? Wir beide kennen die Antwort auf diese Frage, doch für die andere Frage bist Du mir die Aussage schuldig geblieben. Daher wiederhole ich mich: Was hast Du empfunden, als Du die Unfälle und ihre Konsequenzen bezeugen konntest?“
Einer kleinen Pause mit geschlossenen Augen, folgten die unangenehmen Details. „Jenes Weibchen, deren Augen durch das Feuer bereits verschmort waren, welches Blut weinte und mit ihren halbgeschmolzenen Klauen noch immer schreiend nach ihren leidenden Jungtieren tastete, welche sich ihrerseits hilflos kreischend im Feuer wanden. Jener Skritt, dessen Beine durch ein herabgestürztes Zellgitter zerquetscht wurden und der sich kriechend retten wollte, während ihm die Hitze Fell wie Haut versengte und das Blut in seinen Adern zum kochen brachte? Ein anderes deiner 'Testobjekte', dass es vorzog, der eigenen Brut die Kehlen zu durchbeißen, als sie elendig im Feuer verbrennen zu sehen? All jene der Skritt, welche am Rauch halb erstickt waren und somit nicht einmal mehr die Kraft besaßen, zu schreien, als ihnen das Fleisch von den Knochen gebrannt wurde.“
„Es reicht!“
Der harsche und deutliche Einwand des Magisters würde scheinbar überhört. „All jene Skritt wünschten sich lediglich, zu überleben. Unabhängig von den potentiellen Folgewirkungen ihrer Verbrennungen. Doch zu vielen wurde dieser einzige Wunsch verwehrt.“ Es folgte eine kurze Pause, in welcher Sooc das Wort wieder hätte ergreifen können, doch dieser wirkte lethargisch. „Was ging dir bei diesem Anblick durch den Kopf? Mitleid mit den Brandopfern durch die verspätete Erkenntnis, dass Du den Skritt vielleicht intellektuell überlegen bist, aber sie nicht minder denkende, fühlende und selbstbewusste Wesen sind? Das innige Verlangen, derartige Experimente nicht mehr fortsetzen zu wollen, da Andere nach ethischen Grundsätzen so zu behandeln sind, wie Du selbst gerne behandelt werden möchtest? Die Sorge, dass Du wegen diesen nicht autorisierten Forschungsvorhaben jetzt zur Verantwortung gezogen werden könntest? Oder war es Dir schlechterdings vollkommen gleichgültig?“
Der Magister wusste nicht, wie er darauf antworten sollte. Ihm war bewusst, welche Gedanken ihn bei diesem Anblick zuallererst und wesentlich beschäftigt hatten. Doch er wusste nicht, wie er dies in Worte fassen konnte. Etwas nicht zu wissen, bereitete ihm stetsUnbehagen und vergrößerte seinen gegenwärtigen Zorn bloß. Er fokussierte sich wieder auf dieses Gesicht, welches ihm all diese unschönen Details in Erinnerung rief und ihn mit diesen Fragen zu quälen beabsichtigte. Er sehnte sich augenblicklich mehr denn je nach der Stille, welche er um sich herum zu schaffen versucht hatte. Dennoch erhob er die Stimme wieder. Untypisch unsicher, fast stotternd augfrund der inneren Wut und nicht auf die Frage eingehend: „Bei der Ewigen Alchemie, wohin soll denn dieses Verhör führen?“ Der Weg der Verdrängung. Stets so einfach und verlockend, so ungewöhnlich für einen Asura, welcher die Analyse Komplexität über alles stellte, erschien jetzt wie ein paradiesischer Ausweg aus der Hölle.
Das Gesicht schien ein Lachen anzudeuten. „Wohin dieser Prozess führen soll? Frage dich das doch selbst, schließlich lässt Du all diese Gedanken zu.“ Die Stimme schien mit jedem Wort mehr Missbilligung und Abscheu gegenüber dem Magister zu entwickeln. „Ich bin jedoch gerne bereit, Dir zu verraten, warum Du diese Gedanken überhaupt zulässt. Und warum es gerade jetzt geschieht. Bei den Menschen, oder Bookah wie Du sie abschätzig zu nennen pflegst, gibt es Individuen, welche ihr ganzes Leben lang fernab der sogenannten 'Sechse' verbringen. Teilweise frönen sie sogar der Gotteslästerung und amüsieren sich angesichts der schmählichsten Beleidigungen. Doch in Momenten größter Not, oder unmittelbar vor dem Tode, mag es geschehen, dass genau solche Bookah plötzlich den Beistand ihrer Götter erflehen.“ Jetzt grinste das Gesicht verächtlich. „Bei dir verhält es sich nicht anders. Du lässt alle diese Gedanken nicht zu, weil Du die Vergangenheit aufrichtig bereust, für eine Verfehlungen einstehen und eine bessere Zukunft schaffen willst. Du erhoffst Dir durch diese Gedanken eine schicksalhafte Wendung – wenngleich Du ohnehin gar nicht an das Schicksal glaubst – welche Dir eine zweite Chance gewährt. Eine zweite Chance in dem Sinne, dass deine Verfehlungen einfach übersehen werden und Du fortfahren kannst, wie bisher. Ist das nicht ironisch? Jedem anderen, der sich in einem Meer des Selbstmitleids zu ertränken versuchte und dadurch eine mehr als nur unverdiente Rettung erhoffte, würdest Du mit bitterstem Spott begegnen. Doch genau dies tust Du selbst.“
Der Magister konnte es nicht mehr ertragen. Mit gesenktem Blick, schweigend und mit einem bebendem Zittern am ganzen Leib, trat er näher an sein Gegenüber heran. „Sage mir – wenn Du eine zweite Chance bekämst, würdest Du es dieses mal anders machen?“
Sooc hob seine Faust synchron zu seinem Blick und schlug mit voller Wucht auf das Gesicht ein. Der Spiegel zersplitterte, nicht komplett, aber dennoch merklich. Einige Scherben gingen zu Boden, sodass der Magister sein Gesicht in kleineren Ausführungen nun tausendfach zu sehen schien. Er wandte sich katatonisch ab. Aus eigener Kraft war ein solch massiver Spiegel eigentlich nicht zu zerstören. Ein flüchtiger Blick Soocs auf seine Hand ließ offenbar werden, dass der Schlag seinen Tribut gefordert hatte. Seine Greifklauen waren allesamt gebrochen und ragten verkrümmt in alle Himmelsrichtungen. Ein Stück des Handknochens hatte sich durch den Handteller gebohrt und eine bluttriefende Wunde freigelegt.
Doch der physische Schmerz war nichts. Nicht einmal ein Nadelstich verglichen mit dem vereinnahmenden Gefühl der Dunkelheit, welche sich wie ein Leichentuch über den Magister legte.
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