*Vorwarnung: Keine humoristische Akzentuierung und vereinzelt explizite Gewaltdarstellung*
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Die Kälte war überwältigend. Trotz absoluter Windstille durchdrang sie die Kleidung ungehindert, fuhr erbarmungslos in Mark und Bein und ließ jeden noch so kleinen Atemzug als einen Nebeldunst aufsteigen. Die Innentemperatur in jenem kleinen, stark abgedunkelten Raum, lag unter dem Gefrierpunkt lag und schien mit jedem Lidschlag noch weiter zu fallen. Eine gähnende Leere, abgerundet mit einer Note der Zweckmäßigkeit durch einen kargen Tisch samt zwei Stühlen. Die schillernde Illusion der Gastlichkeit und des freiwilligen Aufenthalts, wurde hier nicht mehr aufrechtzuerhalten versucht. Nein, jener kalte und leere Raum repräsentierte die Aufrichtigkeit und vielleicht einzig existente Wahrheit – die Natur der Welt als Ort der absoluten Tristesse.
Sooc hatte sich geirrt, denn jene Welt änderte sich nicht. Ihr Hohlraum wurde von Lebewesen ausgefüllt, die ihr ungeschminktes Selbstinteresse, ihre Undankbarkeit und Raffgier, ihren Machtdurst und ihre Angst, lediglich durch Masken verschleiern konnten. Überzeugungen der Progressivität und der Inspiration waren utopisch. Denn niemand vermochte es, permanent über die eigene Natur hinauszuwachsen. Als einziger Ausweg blieb die Flucht in die Selbsttäuschung und Vorstellung einer besseren Welt, indem man ihre natürliche Beschaffenheit verschönerte. Eben dies geschah durch Masken, ferner durch Hirngespinste von Wertüberzeugungen und artifiziell heuchlerischen Konventionen. Masken waren das Einzige, was sich im Fluss der Zeit stetig und dynamisch veränderte. Situationsbedingt wurden sie zuweilen facettenreicher, tiefer im Detail und schöner anzuschauen, oder sie nahmen einen kälteren und unbarmherzigen Akzent an, was sie dem Wesen der Natur wieder näher brachte. Diese Wahrheit als einen Irrglauben zu deklarieren oder bewusst zu vergessen war lebensnotwendig, um angesichts der weltlichen Ödnis nicht an Verlassenheit zu vergehen. Doch war darüber hinaus klug, das Offensichtliche aus den Augen zu verlieren und zu verdrängen? Nein, selbstverständlich nicht.
Hatte der Magister diese simple Wahrheit vergessen und jemals an irgendetwas besseres geglaubt? Augenfällig wirkte er vollkommen in sich selbst verloren. Eintaucht in einen Zustand der Absonderung. Sein Blick war gesenkt, eine Hand ruhte auf dem Tisch, während die Andere – dank elementarer Gnade waren die physischen Wunden verheilt und nichts zeugte von den jüngsten Ausbruch – im Schoß ruhte. Wesentliche verzehrende Schmerzen, waren mittels äußere Hilfe und Heilungsversuche nicht behandelt worden. Sie konnten es auch gar nicht. Doch seine lethargische Verfassung war in Maßen überwunden. Die verhasste Stimme war für diesen Moment verstummt. Die stille Kälte wirkte vereinnahmend. Sie wurde nur sehr unregelmäßig von dumpfen Klopfgeräuschen durchbrochen, welches Sooc durch das Klappern der Greifklauen auf der Tischplatte verursachte. Das temporale Gefühl war verloren gegangen, denn eine Urteilsfällung des Arkanen Rates war unvergleichbar zeitraubend. Dennoch fühlte sich der Magister, als könne er hier noch Tage verbleiben, ohne seine Haltung ein einziges Mal zu verändern, oder einen konkreten Gedanken zuzulassen.
Langsam und synchron erhoben sich Augen und Ohren, als seine physische wie mentale Isolation jäh beendet wurde. Leichtfüßig durch den Raum tänzelte – beinahe schwebte – eine Gestalt, deren Erscheinung einen diametralen Kontrast zur Kälte und Leere dieses Raumes darstellte. Wallendes Haar, große und sich im Laufwind lasziv wiegende Ohren, saphirblaue Augen und aufreizend leichte Kleidung. Aromen eines sinnlichen Parfüms und vortrefflich gewählte Schminke rundeten die atemberaubende Erscheinung ab. Eine durch und durch begehrenswerte Frau. Unzählige Männer würden sich ohne Zweifel freiwillig zum Narren machen, bloß um eine Sekunde ihrer Aufmerksamkeit zu erhaschen. Doch der ohnehin schon am Zenit stehende Ausdruck der Verbitterung, welcher das Gesicht des Magisters zierte, nahm eine noch sichtbarere Intensität an. Fleischfressende Pflanzen oder hochgiftige Insekten, vermochten es, bei manchem Betrachter eine äquivalente Faszination auszulösen. Und bei dieser Frau handelte es sich um nichts anderes. Sie war eine fleischgewordene Inkarnation der Maskerade sowie der Verschönerung der weltlichen Tristesse.
Sanft glitt die Gestalt auf den Stuhl am anderen Ende des Tisches und bedachte den Magister mit einem durchdringenden, warmen Lächeln. Sein von Gehässigkeit triefender Blick, schien sie nicht im Mindesten zu beeindrucken und zu verunsichern. Sie stütze sich einen Ellbogen auf den Tisch und fuhr sich mit den feingliedrigen Klauen sanft über ihre vollen Lippen, ehe die Hand auf der Wange zum erliegen kam. Der Kopf wurde leicht schief gelegt und sie bedachte ihn mit verträumten Augen. „Sooc.“ Ihre Stimme war wie süßer Honig, doch erklang durch den zu Grunde liegenden Hohn wie das Rasseln einer Klapperschlange, in den Ohren des Magisters. „Magister Extraordinarius und Kurator am Brill-Allianz-Labor. Jahrgangsbester mit einer immensen Anzahl als akademischen Auszeichnungen des Kollegs der Synergetik. Träger verschiedenster Wissenschaftspreise Rata Sums. Wie wärmt es mein Herz, Dich zu sehen.“
Sooc hatte Mühe gehabt, während ihres Geredes weder die Augen zu verdrehen, noch laut aufzustöhnen. Denn zweifellos hatte sie genau dies erreichen wollen. Stattdessen haftete sein ungetrübt boshafter Blick weiterhin auf ihr und er wartete eine Erwiderung ihres Grußes so lange ab, das man sich schon fragen musste, ob er diesen überhaupt vernommen hatte. „Beraterin Vanhaa“, die Stimme klang einigermaßen gefestigt, spiegelte die innere Gebrochenheit des Magisters dennoch wider, „ich entbiete Euch meine Grüße.“ Eine ganze Stafette anschließender Obszönitäten und Flüche lagen ihm auf der Zunge. Doch mit unüblicher Leichtfertigkeit schluckte er sie alle herunter. Denn es war ihm vollkommen bewusst, dass eine höfliche Anrede und die damit einhergehende Negation ihrer langjährigen Bekanntschaft, diese Frau stärker brüskieren würde als jedwede andere Beleidigung. Und diese Überlegung bestätigte sich. Sie legte den Kopf langsam wieder gerade und das Saphirblau ihrer Augen nahm einen dunkleren Ton an. Empathie und Feingefühl zählten nun beileibe nicht zu den wesentlichen Stärken des Magisters. Doch bei Vanhaa nahm er diese feinen Veränderungen wahr, gleich einem Künstler, welcher den Verlust winzigster Fragmente aus seinem gigantischen Mosaik wahrnahm.
Hinsichtlich des Einfühlungsvermögens und der Deutung von Gefühlsregungen, war ihm Vanhaa jedoch um beträchtliche Längen voraus. Nicht nur mimisch, konnte Sooc seine Missstimmungen nach außen hin kaum verbergen. Im Allgemeinen versuchte er auch gar nicht. Der Beraterin wurde somit ein leichtes Spiel geboten, ihn und seine seelische Verfassung wie ein offenes Buch zu lesen. Die implizite Beleidigung seiner kurzen Begrüßung unverzüglich erwidernd, hatte auch ihre Stimmlage einen Grad an ihrer Honigsüße eingebüßt. „Wie überfordert Du mit dieser neuen Situation sein musst.“ Ihre Haltung gewann den eigenartigen Charakter wie von einem Elternteil, dass sein zutiefst trauriges Kind mit tröstlichen Worten bedachte. „Du, der faktisch gesehen noch nie verloren hat, muss dieses Gefühl nebst der bitterlichen Tatsache erfahren, dass selbst die unwahrscheinlichsten Ereignisse tagtäglich passieren können.“ Der Magister verharrte in seiner bisherigen Position und hätte selbst dann nichts erwidert, wenn sie das Wort an ihn abgegeben hätte. „Doch bei allem Verständnis, dass ich ehrlich empfinde Sooc, sich nun in beharrlichem Schweigen, Selbstmitleid und Pessimismus – wenn nicht gar Nihilismus – zu verlieren, kommt der Trotzreaktion eines beleidigten Kleinkindes gleich.“ Ein Zucken der Ohren, offenbarte die innere Verärgerung des Betroffenen, doch seine Zuge wurde dadurch nicht gelöst. „Mir ist gänzlich unvorstellbar, ob und warum Du dachtest, deine unlauteren Forschungspraktiken blieben der Öffentlichkeit lange verborgen. Aber ich verschwende hier nicht meine Zeit mit moralischen Beanstandungen.“
Es folgte ein Moment der Stille, in welcher die zuvor herausgebrochenen Fragmente ihrer Maske wieder mit dem Gesamtwerk komplettiert wurden. Dennoch wirkte Vanhaas Maske jetzt anders – kälter, direkter und ehrlicher. Beide Asura kannten sich gut, wodurch eine gegenseitige Verstellung weitestgehend an Sinn und Zweck einbüßte. „Interessiert dich das Resultat der Ratssitzung nicht? Die Gründe, wie das Arkane Auge derart schnell am Brill-Allianz-Labor zugegen sein konnte? Die Erklärung, wie dein universell inkompetenter Hospitant, überhaupt auf deine persönlichen Daten zugreifen konnte? Warum Du gegenwärtig mit mir Vorlieb nehmen kannst, statt mit einer Gruppe Interrogatoren der Friedensstifter oder des Arkanen Auges?“ Selbstverständlich interessierte sich der Magister dafür, wenngleich er aktuell die Gesellschaft der Interrogatoren vorgezogen hätte. Er drehte seine auf dem Tisch liegende Hand rücklings und deutete dabei ein Schulterzucken an, was in diesem Fall nicht Gleichgültigkeit, sondern Zustimmung signalisierte. Die Beraterin quittierte diese Geste mit einem überlegenen Lächeln. „Dem Rat waren Forschungen jenseits des grundsätzlichen zulässigen Rahmens seit geraumer Zeit bekannt.“ Den Anflug der Verwunderung in seinen Zügen, bemerkte sie augenblicklich. „Einen Exzentriker wie dich, lässt man allein aus Gründen der Vernunft niemals vollständig unbeaufsichtigt. Niemand, der in den Genuss deiner Bekanntschaft und Anwesenheit gerät, sollte dies tun.“ Sooc spürte ein nicht unwesentliches Verlangen, Vanhaa ins Gesicht zu spucken. „Dennoch kann ich Dir versichern, dass kein Ratsmitglied jemals Anstoß an deinen Verletzungen unserer ethischen Grundsätze genommen hätte. Der Grund für dieses ganze Spektakel liegt in einer viel größeren Idiotie, welche ich dir ehrlich gesagt nicht zugetraut hätte.“
Der Magister hatte seit dem Erscheinen der Beraterin kaum eine Regung gezeigt. Er hatte nicht einmal geblinzelt, seitdem seine hasserfüllten Augen auf ihr lagen. Wenn sie erwartete, dass er sich nun in die Unterhaltung einschaltete wurde sie enttäuscht. Daher fuhr Vanhaa unbeirrt fort. „Möglicherweise entsinnst Du dich deiner Absichten, die Inquestur zu hintergehen und zu bestehlen, um ihre Reputation zu beschmutzen.“ Die Augen den Magisters weiteten sich zeitlich zu dem Lächeln der Beraterin. „Eine bemerkenswert und selten dämliche Überlegung, einen Bookah mit diesem Diebstahl zu beauftragen, der obendrein in Wirklichkeit für die Inquestur gearbeitet hat.“ Jetzt schweiften Blick und Aufmerksamkeit ab. Delaqua? Dieses wertlose Bakterium hatte ihn hintergangen? Nicht nur Zekk, sondern auch Delaqua? Die Hand auf dem Tisch ballte sich langsam zur Faust, wobei sich die Klauen tief in die Tischplatte gruben und Spurrillen hinterließen. Sooc hatte nicht damit gerechnet, in jenem Moment noch mehr Wut und Abscheu gegenüber irgendjemandem auf der Welt zu empfinden, als der Beraterin. Doch Delaqua durfte sich dieser Leistung rühmen. Drauf und dran, sich in den ungestümsten Gewaltphantasien zu verlieren und cholerisch umher zu toben, fing Vanhaa seine Aufmerksamkeit zynisch kichernd wieder ein.
„Mein Hylek pflegt auch immer, derart zu reagieren, wenn er eingesperrt ist, oder sein Futter nicht rechtzeitig bekommt.“ Jeder andere wäre nach einem solchen Kommentar augenblicklich vom Erdboden verschluckt, ertränkt, oder in Flammen aufgegangen. Möglicherweise auch alles gleichzeitig. Doch wundersamerweise hielt sich Sooc zurück. Auch Vanhaas zynischer Unterton verstummt und wurde durch Ernsthaftigkeit wieder abgelöst. „Die Jahre als Magister haben dich zuweilen haarsträubend leichtsinnig werden lassen Sooc. Deine Überlegungen mögen in der Theorie makellos sein, doch in der Wirklichkeit sind sie lückenhaft und reduktionistisch. Du hättest ernstlich in Erwägung ziehen sollen, dein Labor zuweilen zu verlassen und die Realität kennen zu lernen. Doch diese Chance besteht noch immer und ist der Grund, warum Du meine Anwesenheit genießen darfst.“ Die Gesellschaft der Beraterin, war für den Magister tatsächlich ein unvergleichbarer Genuss. Ein Genuss, welcher gar den ekelerregendsten Anfall von Diarrhoe übertraf. Sie tippte mit den Klauen rhythmisch und sanft gegen ihr Kinn, scheinbar erwartend, er würde ihren Worten mit Interesse begegnen. Doch dies blieb unerfüllt. „Die Inquestur hat sich über diesen Bookah einiger deiner Erfindungen bemächtigt, an denen Ratsmitglied Yahk angeblich höchstpersönlich interessiert war. Folglich intendiert er deine Kompromittierung und öffentliche Desintegration aus sämtlichen akademischen Stellen, respektive dein Verwinden. Deine ethisch verwerflichen Forschungsunternehmungen ebneten ihm einen Königsweg für sein Vorhaben.“
Sooc setzte an, etwas zu erwidern, verblieb dann jedoch weiterhin in seiner atypischen Ruhe und Verschwiegenheit. Ein hochdekoriertes Mitglied des Arkanen Rates und eine Führungspersönlichkeit der Inquestur, kreidete ihm die Verletzung von ethischen Wertüberzeugungen an? Der Magister hätte jene Ironie als überaus köstlich empfunden, richtete sie sich nicht genau gegen ihn. Zu sehen, wie sich Vanhaa darüber amüsierte, kindisch einige Haarsträhnen zur Locke drehte und dabei zur Seite sah, als hätte sie an der kalten Zimmerwand ein überaus liebreizendes und begehrenswertes Subjekt erblickt, kostete ihn mittlerweile alle Beherrschung. Für welches Ratsmitglied war sie eigentlich tätig? „Kein Grund, erneut vor Wut auszubrechen. Es wird Dich sicherlich mit Freude erfüllen, dass ich nicht hier bin, um das Urteil des Arkanen Rates zu vollstrecken, sondern um dich zu unterstützen. Ich biete Dir dabei eine vierfache Chance, mit welcher Du deine Reputation reinwaschen kannst, dein Labor zur Vertiefung deiner Sachkenntnisse verlassen wirst, der Inquestur nebst ihrem Bookah eine Abreibung zu verpassen vermagst und letztlich unseren Herrschaftsanspruch...“
„Unseren Herrschaftsanspruch?“
Seine plötzliche Intervention in ihren Redefluss, noch dazu an dieser Stelle, schien sie ehrlich zu überraschen. Ihre Augen verdunkelten und verengten sich, während sie langsam antwortete „ Ja. Dem legitimen Herrschaftsanspruch unseres Volkes über Tyria, ganz auf Basis unserer technologischen und intellektuellen Brillianz. Ich will doch nicht hoffen, dass dir jenes ultimative Ziel entfallen ist?“
„Und Ihr seid nebst dem Arkanen Rat das repräsentative Paradebeispiel jener intellektuellen Brillianz? Ein Korb voller eigennütziger Schlagen, die sich in ausufernden Gespräche, profitorientierten Nullsummenspielen und Intrigen verfangen, wie Insekten in Netzen von Spinnentieren? Ein opaker Zirkel, von der Wahnvorstellung beseelt, elitär und erhaben zu sein, während sie sich im tiefsten Morast suhlen und ihren 'Volksangehörigen' arbiträr Schaden zufügen? Dies ist die verheißungsvolle Zukunft der asurischen Herrschaft?“ Die Stimme des Magisters klang gefestigt, stand aber – einer drohenden Lawine oder einem Erdrutsch gleich – kurz vor einem Ausbruch. Aus Gründen der Egozentrik, evaluierte er den Arkanen Rat sehr subjektiv und blendete wie zuvor seine eigenen Verfehlungen in seinem Urteil aus. Vanhaa ließ offen, ob sie seine Scheinheiligkeit bemerkte. Sie wirkte plötzlich und erwarteterweise irritiert und bedachte ihn mit dem herrischen Blick eines Lehrers über seinen Schüler.
„Möglicherweise hatten unsere Vorfahren diesbezüglich ein einfacheres Leben. In den Tiefen gab es nur sie und die Drachen, während die Skritt schon immer zugegen, doch niemals wirklich bedeutsam waren. Wir jedoch erfahren den Luxus klarer Frontstellungen nicht. An der Oberfläche stehen uns die Bookah, die Unkräuter, die Eisbestien und jene missratenen Versuchstiere gegenüber. Ganz zu schweigen von sämtlichen halbentwickelten und halbintelligenten Völkern, welche sich wie Würmer einen Platz an der Sonne anzueignen beabsichtigen. Selbstredend sollte man auch die Drachen nicht vergessen. Die Verhältnisse und Gegensätze sind diffus geworden, jedoch hat niemals jemand behauptet, die Durchsetzung unseres Herrschaftsanspruches sei in Kinderspiel.“
Das Magister hatte während ihrer Antwort die Augen geschlossen und augenscheinlich nur oberflächlich zugehört. Als er sie wieder öffnete, begradigte er seine Sitzhaltung und wurde direkt. „Ich bin mir nicht im Klaren, ob die Situation bei unseren archaischen Vorfahren jemals anders gewesen ist. Denn wie ich Dich reden höre und die Aktivitäten des Arkanen Rates beobachte, wird unsere Gesellschaft nicht von Vernunft, sondern von Hysterie beherrscht. Die Dimension und Tragweite jener Hysterie mag sich verändert haben, doch das dem zu Grunde liegende Wesen bleibt identisch.“ Die Beraterin setzte zur Widerrede an, doch nun war es an dem Magister, seine Rede forzusetzen. „Bist Du so naiv zu glauben, ich würde nicht hinter die Ränke deines Spektakels sehen können? Wenn der Rat von meinen Forschungsaktivitäten wusste, wirst Du ihn darüber informiert haben. Also intendiere nicht den nicht törichten Versuch mir weiszumachen, Du wärst meine einzige Unterstützung in einer Situation, in welche Du mich selbst hinein manövriert hast.“ Er schnaubte verächtlich. „Dein ausschließliche Interesse liegt in der Selbstinszenierung. Du willst der Inquestur durch meine Zuhilfenahme schaden und dich mit sämtlichen Federn schmücken, damit Du dich vor dem Rat besonders schön profilieren kannst, wie ein exotischer Paradiesvogel.“
Es folgte eine längere Pause, sodass die Kälte und Leere des Raumes wieder stärker in das Bewusstsein des Magisters rückte. Die Beraterin hatte nicht wenig von ihrer einstweiligen Ausstrahlung eingebüßt und wirkte nach diesem verbalen Giftschwall wesentlich ehrlicher. Ihr Blick war kurz abgeschweift, traf aber nun wieder den Seinen. „Wann bist Du so frustrierend geworden Sooc? Du solltest nicht stets, in alles und jedem, lediglich das Schlechte sehen. Denn manch einer meint es wirklich gut mit dir. Ich habe das damals getan. Ferner solltest Du endlich deine Trotzhaltung überwinden. Glaubst Du wirklich, Du seist der Einzige, der jemals erfahren hat, was Verlust bedeuten kann? Ebenso fühlte ich mich, als Du als Jahrgangsbester deklariert wurdest und mir nur der undankbare, zweite Platz verblieb.“ Ihre Stimme gewann wieder einen Akzent der Grausamkeit. „Doch ich habe gelernt, Niederlagen zu verarbeiten. Denn im Endeffekt, können sich sämtliche Niederlagen und Siege innerhalb eines Herzschlages als bedeutungslos erweisen.“ Sie vollführte mit dem Arm eine demonstrative Geste über den Tisch. „Tatsächlich kommt es nur darauf an, zum rechten Zeitpunkt auf der richtigen Seite des Tisches zu sitzen.“
„Offenbare mir endlich die wahrhaftige Ursache deiner Anwesenheit und dann entferne Dich aus meinem Dunstkreis, ehe der Boden deinen Geruch annimmt. Ich bin deiner seit langer Zeit überdrüssig.“
Diesmal zeigte sie keinerlei Regungen der Verunsicherung oder Verärgerung. „Wie Du wünscht. Der Arkane Rat hat eine umfassende Untersuchung sämtlicher Daten und Aktivitäten des ganzen Brill-Allianz-Labors angeordnet. Sie werden genug Beweise für deine Schuld finden und ich muss Dir ja kaum erzählen, was Dir dann bevorstünde.“ Ihre Greifklauen spielten wieder den Haarsträhnen, diesmal jedoch nicht so künstlich albern. „Jene Beweise lassen sich jedoch von mir sachdienlich manipulieren, was deine drohende Kompromittierung verhindert.“ „Und im Gegenzug?!“ Sooc ruderte mit seiner Hand, als könne er die Redegeschwindigkeit Vanhaas damit beschleunigen. „Im Gegenzug wirst Du, wie bereits richtig vermutet, die Pläne von Ratsmitglied Yahk durchkreuzen. Es ist mir zu Ohren gekommen, dass er in Kryta eine umfassende Geheimoperation anberaumt hat.“ Wie geheim konnte jene Geheimoperation eigentlich sein, wenn diese schwarze Witwe davon Wind bekommen hatte? „Jene Geheimoperation wirst Du sabotieren, uns Beweise für Yahks Mitwirken beschaffen und darfst als Belohnung wieder deiner gewohnten Tätigkeit in der Dunkelheit deines Labors nachgehen.“
„Welch bescheuerter und sinnfreier Feder entstammt dieser Plan?“ Natürlich war eine rhetorische Frage. „Wenn ich zum gegenwärtigen Zeitpunkt überstürzt nach Kryta reise – was ich obendrein mein Leben lang niemals intendiert habe – wird sich der bestehende Verdacht noch erhärten.“
Sie zuckte unbedarft mit den Schultern. „Und wenn Du bleibst, wird es gar keinen Ausweg geben. Yahk will dich nicht tot, sondern bloß aus dem Weg wissen. Ich an deiner Stelle wäre mit einer recht einfachen Entscheidung konfrontiert. Zumal die Grundlagen für dieses Unterfangen recht günstig beschaffen sind. Zum einen wissen wir, dass dein angeworbener Bookah nach Götterfels gereist ist. Meinen Informationen nach ist der dort die wesentliche Kontaktperson und Ansprechpartner der Inquestur hinsichtlich von Regionalexpertise. Er wird also wissen, wo die Basis der Geheimoperation zu finden ist. Zum anderen wirst Du nicht mit leeren Händen gehen müssen.“ Erneut ließ sie ihm keine Gelegenheit, irgendetwas einzuwerfen. Sofern er das denn wollte. „Ich habe zwei wunderschöne Geschenke für dich. Erstens wirst Du mit beträchtlichen Geldmitteln ausgestattet werden. Vollkommen ausreichend für ein Wohlleben in Götterfels, doch auf Grund deines asketischen Lebensstils und deiner Abscheu gegen die menschliche Gesellschaft, wird Du es wohl kaum dafür ausgeben. Wenn Du aber Hilfe brauchst, so zahle ruhig das drei- oder vierfache des Preises. Bookah sind ausschließlich an Geld interessiert, damit wirst Du also stets weiterkommen.“
Obwohl ihn die Aussicht, Delaqua bald wiederzusehen, innerlich reizte, verzog der Magister missbilligend das Gesicht. „Götterfels? Die menschliche Gesellschaft? Eine grausige Vorstellung.“ Möglicherweise grausiger als die Aussicht, noch länger mit Vanhaa in diesem Raum zu verbleiben. „Die Bookah sind verloren. Ganz gleich ob wir, die Charr, die Zentauren oder sonst irgendjemand ihnen den finalen Todesstoß versetzt. Sie selbst haben sich zu einer bedrohten Tierart gemacht und werden letztlich an Ihrer Eitelkeit scheitern.“ Ganz sicherlich war dieses Schicksal ausschließlich den Menschen vorbehalten, so man die beiden Asura betrachtete.
„Dies mag sein, doch nicht nur zeitlose Dinge müssen von Interesse sein. Das weißt Du selbst nur zu gut.“ Äußerst sarkastisch fügte sie hinzu: „Vielleicht erweitert dein dortiger Aufenthalt ja deinen geistigen Horizont?“ Als Antwort vollführte Sooc eine obszöne Geste mit den Greifklauen. „Nun aber zu meinem zweiten Geschenk!“ Ein dreimaliges Klopfen auf der kalten Tischplatte hatte das Erscheinen eines Friedensstifters in voller Rüstung zur Folge, der einen mittelgroße Metallkiste bei sich trug. Unaufgefordert wurde die Kiste geöffnet und der Inhalt auf dem Fußboden entleert.
„Musste das sein?“
Der Magister beobachtete mit Abscheu, wie zwei kugelförmige Objekte aus der Kiste in seine Richtung rollten. Zwei Köpfe. Doch dein Ausspruch bedeutete weniger einen Ausdruck des Mitleids mit den Opfern, sondern vielmehr eine Beschwerde, dass er diesen unappetitlichen Anblick ertragen musste. Von dem rechten Kopf waren beide Ohren abgerissen worden, während die schwarzen Augenhöhlen nur noch von verbranntem Fleisch umrahmt wurde. Die Nase war an mehreren Stellen durchstochen, der Kiefer an unzähligen Stellen gebrochen worden. Blutergüsse und Verfärbungen in der Mundgegend zeugten davon, dass man jeden einzelnen Zahn gewaltsam herausgerissen hatte. Der andere Kopf war mit Schnittwunden und Einstichen von den verschiedensten Gegenständen gezeichnet. Scheinbar war man bedacht gewesen, keinen Nerv und keine Schlagader zu treffen, damit der Besitzer des Schädels Höllenqualen erleiden konnte. Ferner zeugten Fleischfetzen und Knochenrechte am Hals, das der Kopf nicht sauber abgetrennt, sondern mutmaßlich von einem Golem abgerissen worden war. Leichenblass, verstümmelt und mittlerweile völlig blutleer lagen sie dort zu den Fußen des Magisters und der Beraterin – Hospitant Zekk und Wartungsoffizier Deex.
„Sie waren uns einige Zeit sachdienlich, doch haben ihren Nutzen nun verwirkt.“ Vanhaa verstand es in den Augen des Magister wirklich vortrefflich, sich als attraktive Arbeitgeberin zu inszenieren. Es wäre absolut närrisch zu glauben, sie würde das selbe zu gegebener Zeit nicht bei ihm versuchen. Durch seine erneut boshaften Blicke erriet die Beraterin des Magisters Gedanken. „Damit ist für den Augenblick alles Relevante gesagt worden. Du weißt und siehst auch, was passieren kann.“ Sie lächelte äquivalent bösartig zu seinem Blick. „Wir bleiben im schriftlichem Kontakt miteinander. Bis dahin versuche einfach, nicht allzu sehr aufzufallen und meide andere Asura.“ Sie machte Anstalten, seine noch immer auf dem Tisch liegende Hand zu ergreifen. Doch er erahnte ihre Absicht und zog kurz vor dem Aufstehen zurück. Von dem Friedensstifter wurde er unerkannt hinaus begleitet.
Nur kurze Zeit später schritt Sooc allein durch das nächtliche Dunkel zum Portal nach Götterfels. Innerlich sehr aufgewühlt, vermisste er eigenartigerweise die Kälte und Stille, die ihn heute so lange umgeben hatte. Wie sollte das Gefühl in Worte fassen, wenn die Vergangenheit der Bedeutungslosigkeit anheim fiel, die Gegenwart grau und die Zukunft absolut ungewiss waren? Gar nicht. Man konnte es nur schweigend empfinden und den wahrhaftigen Anblick der Welt genießen. Der Magister tat sein bestes, den Geist zu leeren. Nicht einmal die Verärgerung über Delaqua, Vanhaa und alle Anderen wollte er in diesem Augenblick zulassen. Doch er machte die Rechnung ohne einen anderen, mehr als ungebetenen Gast.
„Du bist mir eine wesentliche Antwort schuldig geblieben.“ Der Magister vollführte mit der Hand eine wischende Bewegung über seine Schultern, als ob jene Stimme dort saß und dadurch einfach verstummen würde. Ein Irrtum. „Keine optimale Situation, aber dennoch die anders geartete Form einer zweiten Chance. Einer Chance, wie ich gerne wiederhole, die Du niemals verdient hättest. Du weißt, was ich von Dir wissen möchte. Normalerweise wäre es dein einziges Anliegen, lediglich deine akademische und gesellschaftliche Reputation zu retten.“ Es folgte eine kurze Pause. „Du würdest deinen Auftrag in der Erwartung erfüllen, einfach dein altes Leben ungehindert fortsetzen zu können, so als hätte dich jenes seelische Elend niemals geplagt. Die nachhaltigen Konsequenzen für die Menschen und alle Anderen, welche deine Erfindungen in den Händen der Inquestur bedeutet, sei Dir gleichgültig. Haben Dich die jüngsten Erfahrungen gelehrt, warum ethische Maßstäbe und Verantwortungsbewusstsein für die eigenen Taten doch ein Momentum der Zeitlosigkeit beanspruchen sollten?“ Der Magister fühlte mit jedem Wort größeren Zorn in sich aufsteigen. „Du kennst meine Frage.“ Die Stimme schien sich zwischen ihm und dem Asuraportal wie ein gigantischer Schemen aufzubäumen, welcher den Weg versperrte, bis man ihm seinen Wunsch erfüllte. "Wirst Du deine unverdiente Chance nutzen und es diesmal anders machen?“
Langsam schloss Sooc seine Augen und setzte seinen Weg blind fort. „Nein.“
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