Mit geradem Rücken saß sie noch immer in der gleichen Kleidung die sie bereits zur Zeremonie unter Grenth getragen hatte in ihrem Musik- und Gartenzimmer. Nahezu vollkommene Dunkelheit umgab die Canthanerin, die den Blick hinaus durch die aufwendig verglaste Rückwand in ihren sorgfältig angelegten Garten gelegt hatte. Lediglich eine kleine, weiße Kerze spendete Licht – doch nicht für sie, sondern noch immer für ihren verstorbenen Bruder.
Es war mehr eine traditionelle Sache diese Flamme erleuchtet zu halten. Ein Aberglaube. Nicht mehr, nicht weniger. Eigentlich also kein Grund die Kerze dennoch aufzustellen. Rigalt würde nicht zurückkommen. Nie wieder. Und obwohl ihr die Sinnlosigkeit ihres Tuns gerade in diesem Moment nur zu bewusst wurde, stand es vollkommen außer Frage das Licht zu entfernen. Tradition war Tradition. Und irgendwo tief in ihrem Inneren wollte sie mehr als alles andere, das wenigstens dieses Mal ihr Verstand und ihr Wissen nicht im Recht waren.
„Was würde ich nur ohne dich tun?“ – Hätte sie noch vor ein paar Wochen geahnt, dass sie sich auf dieses ‚Ohne dich‘ wirklich hätte einstellen müssen, niemals hätte sie ihn gehen lassen. Leise raschelte der Stoff des dunklen Gewandes mit den allzu langen Ärmeln, als sie mit beiden Händen nach der Teeschale griff und sich langsam ohne Hast wieder aufrichtete. Obwohl eigentlich keinerlei Notwendigkeit bestand, in Ermangelung von Gästen, hatte sie das Porzellan mit Bedacht ausgewählt. Kunstvoll hatte der Zeichner blaue Astern auf Trinkschale und Teekanne gezeichnet, um dem Besitzer des vollständigen Services eine weitere Möglichkeit der stummen Trauer einzuräumen.
Als sie die Schale an die Lippen setzte, versuchte sie jegliche Gedanken auszublenden, die sie beschäftigten um sich nur dem Geschmack des Tees und dem wärmenden Gefühl in ihrem vor Kälte klammen Leib zu widmen. Es war der gefühlt millionste Versuch endlich in Meditation zu fallen, um wieder einen klaren Fokus auf das Wesentliche zu erlangen.
Der Blick galt dem im Dunkel liegenden Garten, der – trotz seiner geringen Größe – Ruhe, Frieden und vor allem Ordnung versprach. Nichts in diesem Areal war zufällig angeordnet, kein Stein, kein Strauch, kein Stock. Alles hatte seinen Platz, seinen Sinn, seine bildliche Wahrheit, genauso wie jeder Mensch seinen Platz, seinen Sinn und seine eigene bildliche Wahrheit haben sollte. Perfektion.
Langsam und bedächtig stellt die Canthanerin die Trinkschale mit dem Trauerflor wieder zurück auf den niedrigen Tisch aus dunklem Mahagoniholz. Neutral raschelte erneut der Stoff des Kleides, etwas, was sie mit Zufriedenheit erfüllte, da das Abstellen des Gefäßes selbst kein Geräusch verursacht hatte. Schon immer waren es die kleinen Dinge im Leben, die ihr fast mehr Freude bereiteten als riesenhafte Meilensteine. Es war das Plätschern von Regentropfen im Frühling auf Steinen, ein Sonnenstrahl der wie zufällig eine schöne Lichtreflexion auf ihrer Klinge verursachte oder auch nur das Zwitschern einer Nachtigall.
Nach der Zeremonie heute jedoch musste sie sich die Frage stellen, ob sie trotz der intensiven Wahrnehmung die sie ihr Eigen nannte, trotz der gewissenhaften Schätzung dem sie Kleinigkeiten entgegen brachte, dennoch wirklich das tat, was eigentlich ihre größte Pflicht darstellen sollte: Leben.
Sacht legte sie die zarten Hände mit den ordentlich sauberen und geschnittenen Fingernägeln auf ihren Oberschenkeln ab. Langsam und schweigend, wieder in dem Bestreben nichts zu Denken begann sie gleichmäßig zu atmen. Sie sammelte sich, blendete störende Elemente aus, schloss halb und in vollkommenen Einklang mit sich selbst die Augen und zog sich langsam zurück in ihre Seele. Ein Versuch der Wundheilung.
Einatmen … ausatmen... beruhige dich, mein rasend Herz… einatmen… aus…
Das teure und so sorgfältig ausgewählte Trinkschälchen flog in hohem Bogen von der Tischplatte und zerbarst in tausend Stücke. Wie ein Schrei durchbrach das Klirren des Geschirrs die Ruhe und Stille des Ortes, einer Schändung dessen gleich.
Riona hatte nicht bemerkt, wie sich ihr Gesicht zu einer bleichen Maske des Zornes verändert hatte, die Linke, die noch immer auf ihrem Oberschenkel lag sich in dem teuren Stoff verkrallte und sie leichten Druckschmerz auf der Haut darunter spüren ließ. Wie in Trance ließ sie die noch in der Luft nach dem Schlag stehen gebliebene Hand wieder an ihren Bestimmungsort nieder senken, während sie harsch die Kiefer aufeinander presste.
Nichts war in Ordnung, nichts war gut. Rigalt war tot und obwohl die Spuren enorm dürftig waren würde ihr früher oder später derjenige in die Hände fallen, der ihren Bruder so unwürdig aus dem Leben gerissen hatte.
Nie würde sie vergessen, wie Richard am Tag der Nachricht eingebrochen war. Nie würde sie vergessen, wie gerne sie sich selbst das Herz heraus gerissen hätte, um nicht mit ansehen zu müssen, wie sehr der Zaishen litt. Nie würde sie vergessen, dass es ihr Beruf war, wegen dem Rigalt sterben musste.
Wer auch immer du bist: Am Ende wird dir niemand helfen können. Du wirst darum betteln Grenth gegenüber treten zu dürfen, aber ich werde dich nicht lassen. Jeden Tag wirst du innerlich mehr verkümmern, bis du nichts weiter bist als ein sabbernder Haufen, unfähig sich zu artikulieren. Du wirst niemals vor ein ordentliches Gericht gestellt werden und wenn ich dich in meinem Keller verstecken muss, damit wir beide sehr viel Zeit miteinander verbringen können.
Untypischerweise ließ sie den Gedanken zu, ja nahm ihn sogar endlich als Teil von sich an. Ohne den Kopf zu bewegen richtete sie die Iriden der Mandelaugen auf das schemenhaft erkennbare Porzellan auf dem Boden aus. Der Rest des Jasmintees, der sich noch darinnen befunden hatte bildete eine feuchte, dunkle vor sich hin sickernde Lache. Der Anblickt störte und beruhigte Riona zugleich.
Bis du dir freiwillig vor lauter Wahnsinn das Fleisch von den Knochen reißt um es zu verspeisen – es wird das einzige sein, was du jemals zwischen die Zähne bekommen wirst. Das schwöre ich.
Nichts war in Ordnung, nichts wahr gut. Der Tod von Rigalt hatte sie verändert und zwar in einem Maße, welches sie selbst noch nicht begreifen konnte. Aber eines wusste die Canthanerin mittlerweile sicher: Sie hatte den Horishi beleidigt, war viel zu voreilig gewesen, weil sie den Worten des Priesters nachkommen wollte. Worte, die sie bereits schon von Rigalt gehört hatte, aber denen sie nicht ganz Glauben schenkte, auch wenn es genau das war, was sie wollte. Sie wollte dass er zu ihrem Vater ging, auch wenn die Aussicht auf seinen Segen in Richtung Null tendierte – aber es war schlichtweg egoistisch. Das musste man doch einsehen.
Wirklich?
Was war nur in sie gefahren? Schon bei der Zeremonie war es keine Trauer, die sie dazu gebracht hatte nach seiner Hand zu greifen. Es war kein Trost im freundschaftlichen Sinne, den sie erfahren wollte, sondern einfach nur seine Nähe. Wie entweihend.
Sicher?
Während sie ihres gefallenen Bruders gedenken sollte und eigentlich auch wollte, schlichen sich immer wieder unlautere Gedanken in ihr Hirn die Bezug auf Benji nahmen. So unlauter, dass sie am liebsten rot geworden wäre vor lauter Scham.
War es wirklich so schlimm?
Natürlich war es das! Ohne Zweifel. Sie musste es besser wissen, hatte eine Vorbildfunktion mit ihrem Status inne und brachte den armen Mann auch noch in Verlegenheit. Nichts gab es an diesem inakzeptablen Verhalten schön zu reden. Natürlich konnte sie verstehen, wenn er nicht gleich zusagte, wenn er noch einmal nachdenken wollte, ob sie auch wirklich die richtige Partie wäre. Nach diesem Frevel ihrerseits könnte sie sogar ein ‚Nein‘ ohne Beleidigung entgegen nehmen.
Aber es würde mich traurig machen.
Nein, nein, nein. Halt Stopp. So funktionierte das nicht. Der Sachverhalt lag ganz klar auf der Hand: Sie, Riona von Driftmark, hatte diesen Mann in der Öffentlichkeit, zuerst vor anderen in Verlegenheit gebracht und ihm dann zu allem Überfluss noch in eine Situation gebracht, die an Unsäglichkeit nur ihresgleichen suchte. Eine schreckliche Tat für die sie sich noch nicht einmal entschuldigen konnte, auch wenn sie das wirklich gerne wollte.
Du bist eine schlechte Lügnerin.
Mit großen Augen hielt sie für eine kurze Weile die Luft an. Wenn sie ehrlich sein wollte – und das wollte sie natürlich – dann musste sie sich eingestehen, dass sie nach dem bereits gegangenen Schritt endlich damit aufhören sollte sich selbst irgendwelche Ammenmärchen vorzutragen. Im Grunde genommen war das Letzte was sie tun wollte sich dafür zu entschuldigen.
Hörbar atmete sie fast schon zwanghaft dreimal in gleichmäßigen Abständen mit bemühter Ruhe ein und wieder aus. Mit sanften Ruck durch die Sitzposition bedingt kam sie ohne Hektik wieder auf die Füße und machte sich auf den Weg zu den Scherben. Sie hatte nicht vor den Ort unaufgeräumt zu verlassen.
Viele Bruchstücke waren es, die verteilt vor ihr lagen, irreparabel auf jedem Fall – zu spät um sich darüber zu ärgern. Handlungsunfähig betrachtete sie die Scherben des kostbaren Utensils, während sie sich innerlich selbst verfluchte. Das Licht der Kerze spendete ausreichend Beleuchtung um das gesamte Ausmaß in allen Facetten zu betrachten, ließ ihre Hoffnung auf echte Ruhe schwinden, wenngleich sie noch immer eine absolut gerade Körperhaltung zeigte.
Du bist alleine. Es interessiert niemanden wie gerade du sitzt.
Schon bei dem Gedanken hob sie trotzig das Kinn an ohne den Blick von den Scherben zu nehmen. Korrektes Verhalten war wichtig, denn nur weil niemand anwesend war, bedeutete es nicht, dass man sich Benehmen konnte wie ein Schwein beim Zuckerbäcker. Wer keine Selbstachtung besaß, konnte auch keine Achtung vor anderen entwickeln. Das war ihr Kredo – und Selbstachtung begann bei Kleinigkeiten. Rigalt hatte ihr das beigebracht.
Just in dem Moment fiel ihr Blick auf ein Scherbenstück, welches wie durch ein Wunder heil geblieben war. Eine mit feinem Pinselstrich auf das Porzellan gebrachte blaue Aster war es, die noch immer ungebrochen anzusehen war. Langsam griff Riona danach und befühlte die Kanten, darauf bedacht sich nicht ausversehen daran zu schneiden.
Als hätte man aus etwas kaputten etwas Neues geschaffen.
Natürlich war die Schale nicht mehr zu gebrauchen, aber das kleine Stückchen war so perfekt heraus gebrochen, dass es schon fast an ein Wunder grenzte, wenn man den restlichen Scherbenhaufen betrachtete. Langsam sah sie in Richtung des Lichtes … und verstand.
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