„Vorstreiterin, wir haben ihn.“ Seit langem war das die erste positive Nachricht seit der Gefangennahme des Insassen Bricks durch die Gruppe um den Kriegspriester. 'Bitte, bitte lass es dieses Mal eine gute Spur sein.', betete sie innerlich und hob den Blick von ihrem Dokument in Richtung des Wächters, der soeben eingetreten war und ihr die Botschaft überbracht, als wäre diese Einzelheit der Durchbruch des Jahrtausends. Letzten Endes wusste Riona schon jetzt, dass der Geschnappte ein genauso kleiner Fisch war wie der Bandit der noch immer die Gastfreundlichkeit des Kerkers genießen durfte. Die Informationen bestenfalls vage, vielleicht der ein oder andere Glücksgriff dabei, aber eigentlich nicht einmal Wert Mister Beinbrech seine Arbeit machen zu lassen.
„Ausgezeichnet. Drei Tage das übliche Verfahren, danach Erstgespräch.“ Hörte sie sich sagen. Nur drei Tage – die üblichen sieben wurden zu viel, Verschwendung im Grunde genommen. Aktuell saß ihr die Zeit im Nacken wie ein lauerndes Tier, das nur darauf wartete sie zu zwicken und zu zwacken. Es war einfach nicht genug. Nichts. Die bisherigen Anstrengungen die unternommen wurden, erwiesen sich entweder als fruchtlos oder zur kurzfristig. Sie hinkten hinterher wie eine lahmende Mähre.
Durch den Tod ihres Bruders hatte die Angelegenheit des weißen Mantels längst an der üblichen Distanz, die sie zu den bisherigen Fällen stets gewahrt hatte, verloren. Es ärgerte sie und spornte sie gleichermaßen zu Höchstleistungen an, auch wenn das bedeutete weniger Schlaf, weniger Nahrung und weniger Ruhe zu bekommen.
„Vorstreiterin?“ – „Hm? Oh, Verzeihung, habt ihr etwas gesagt, Wächter Hoffmann?“ – „Hofmeyer, Vorstreiterin, Hof-mey -er“ Peinlich. Sehr, sehr peinlich, war es doch nicht das erste Mal, dass sie den Namen des Wächters falsch aussprach. Anders als sonst jedoch senkte sie allerdings nicht den Kopf, lächelte auch nicht dazu, sondern hob lediglich eine Braue an und verlieh der Stimme einen strengeren Tonfall, als wäre rein gar nichts passiert. Namen aus dem Hinterland, aber wenigstens konnte der vor ihr stehende ordentliche Worte formulieren. Noch heute rätselte sie schwer, was das getuschelte 'Mei schaugsd dia des fesche Dirndl o. Da dad i aa gern a'moi..." Den rest hatte sie nicht mehr gehört, aber das doppeldeutige Lachen dieses Seraphenfeldwebels hing ihr nach wie vor in den Ohren. Wie hieß der doch gleich... „Nun, Wächter Hofmeyer, was gibt es noch?“ – „Ich wollte nur darauf hinweisen, dass Wächter Beinbrech der Meinung ist, dass der Gefangene Bricks keinerlei Informationen mehr besitzt.“
„Hm.“ Unzufrieden faltete sie die Hände ineinander und betrachtete ein paar Sekunden schweigend und brütend ihre ineinander verschlungenen Finger. Sie wusste ganz genau, welche Entscheidung letzten Endes von ihr verlangt wurde. Sie wusste, dass das Schonen einer Seele, die sich ohne Zwang dazu entschlossen hatte, dem Feind, dem Verräter zu dienen, nur der Tod als Strafe diente. Dennoch empfand sie es jedes Mal als eine Bürde, den finalen Weg zu wählen, auch wenn er nicht vermeidbar war.
Als sie den Blick wieder hob, nickte sie dem Wächter verstehend zu, ohne die Verschränkung der Finger zu lösen. „Innerhalb einer Woche sollte das Urteil bestätigt sein. Ich möchte von einer öffentlichen Hinrichtung absehen, auch wenn ich nur zu gerne ein Exempel statuieren würde.“ Der Feind durfte nicht wissen, dass sie eine Quelle bereits ausgeschröpft hatten. Sollte er glauben, sie würden sich noch immer mit Bricks beschäftigen. „Jawohl, Vorstreiterin.“ – „Bereitet alles für das nächste Ausrücken vor. In einer Stunde brechen wir auf, ebenso: Übliches Vorgehen.“ – „Jawohl Vorstreiterin.“ Es folgte ein knapper, aber doch sehr motivierter Salut seitens des Jüngeren, ehe er sich nach einem zackigen zusammen schlagen der Hacken wieder aus dem Raum entfernte.
Erst als die Tür ordentlich an der Klinke wieder ins Schloss gedrückt wurde, gönnte sie sich ein etwas tieferes Durchatmen und drückte sich langsam in den Stand nach oben. Die Männer und Frauen unter ihr, waren motivierter denn je, nun wo es endlich vorwärts ging - oder zumindest den Anschein erweckte. Es war wichtig diese Emotion zu nutzen, diesen Aufschwung, auch wenn jedes neue Puzzleteil eher einem Abstieg glich, zu nehmen und daraus das zu machen, wofür die glänzende Klinge bekannt war: Eine Waffe mit durchschlagendem Erfolg.
Sie hatten den Mantel schon einmal besiegt, hatten schon einmal das Übel vertrieben – oder zumindest vertrieben geglaubt, warum sollte es dieses Mal nicht gelingen? 'Weil es dieses Mal anders ist' flüsterte eine leise Stimme in ihrem Inneren.
Natürlich, sie selbst hatte noch nie wirklich offen gegen den Mantel gekämpft. Sie kannte die Geschichten, die die Klinge zu dem gemacht hatten, was sie war. Doch irgendetwas – irgendetwas ungreifbares blockierte Riona dieses Mal. Es nervte sie nicht weiter zu kommen, ihre Brillianz nicht nutzen zu können und im Endeffekt mit bisher leeren Händen dazustehen. Zugegebenermaßen: Sie war Erfolgsverwöhnt. Hoch gelobt, weit geschätzt, ein Markenzeichen für Qualität und Effektivität. Wunderbar. Und trotzdem scheiterte sie an einer Milchmädchenrechnung.
Vor ihrer üppigen Minikakteensammlung hielt sie mit ihrer kleinen, rastlosen Wanderung inne. Kakteen. Eigentlich mochte sie diese Pflanzen noch nicht einmal, aber es war das einzige Grünzeug das unter ihrer Hand nicht einfach so starb und zerging wie Schnee in der Sonne. Nein, eine begnadete Gärtnerin war sie nun wirklich nicht. Der ganz links sah jetzt schon so aus, als würde er bald den Geist aufgeben und das, obwohl diese Pflanzen doch als besonders stabil und pflegeleicht galten. Vielleicht brauchten sie noch mehr Wasser.
Mitten in der Bewegung, welche die kleine Gießkanne aus Messing aufheben sollte um die armen Pflanzen zu gießen, hielt sie inne und sah sich aus den Augenwinkeln um. 'Unbequem. Das ist alles unbequem.' Auf einmal war die Rüstung zu eng, der Zopf zu straff, das Zimmer zu klein, der Schreibtisch zu groß… Nichts passte mehr.
Kein Wunder. Hier in diesen Räumlichkeiten war es ihr nicht oder nur selten vergönnt ihrer Tradition, die einen so großen Teil ihres Wesens ausmachte zu folgen. Natürlich: Auch das Büro war sauber, akkurat ordentlich in geradezu ekelhaft penibler Manier. Sogar in ihren Schubfächern, hatte sie irgendwann einmal begonnen alles nach dem Alphabet zu sortieren, einfach nur, weil es ihr um ein so vielfaches besser ging, wenn sie wusste, dass alles einem Schema folgte.
Natürlich wollte sie auch nicht viel, was das Auge ablenken konnte und dennoch wurde sie das Gefühl nicht los, dass etwas fehlte. Wie Schuppen fiel ihr die Lösung von den Augen, die sie mit schnellen Schritten wieder zurück zu dem Schreibtisch gehen ließ und sie sich eilig daran machte, sogar mit Pinsel, nicht mit der Feder, eine Nachricht zu verfassen:
„Ehrenwerter Horishi,
ich hoffe und erbitte Eure Hilfe in einer persönlichen, aber sicherlich auch dem krytanischen Volk, dienlichen Sache:
Wie Ihr wisst, schätze ich eure Kunst sehr und bisher hat sie mir immer geholfen meine innere Ruhe und meinen Frieden wieder zu finden. Aktuell fühle ich, dass ich nicht im Gleichgewicht bin und habe mir überlegt deshalb eines Eurer Kunstwerke anzufordern um dieses in meinem Büro anzubringen. Sicherlich erinnert ihr Euch noch an meine Vorliebe für Fabelwesen.
Selbstverständlich wird euch eine entsprechende Vergütung zu Teil werden, solltet ihr meiner Bitte entsprechen.
Vollkommenheit auf allen Wegen
Gez. Vorstreiterin Riona von Driftmark
Offiziell versiegelt, sogar von einem Boten der glänzenden Klinge, wurde das Schriftstück auf die Reise geschickt. Geduldig wartete sie, durchforstete in der Zwischenzeit noch einmal die Aussagen des Gefangenen, sortierte Anhaltspunkte und stellte fest, dass noch nicht alle Möglichkeiten des Einschreitens ausgeschöpft waren.
Wer auch immer der Drahtzieher hinter all diesen kleinen Strängen war, musste jemand sein, der sich selbst für etwas unglaublich besonderes hielt. Der an die persönliche Überlegenheit gegenüber dem Staatsapparat glaubte. Die Taten der jüngsten Zeit wurden immer dreister und vor allem immer näher.
Wintertagspakete, diverse Anschläge, verschwundene Personen – Dinge, die zuerst eher fernab passierten, nun aber ihren Weg in die Stadt der Götter fanden. „Er will, dass wir nach seinen Regeln spielen.“, sprach sie laut in den Raum hinein ohne eine Antwort zu erwarten, die natürlich wie zu erwarten auch nicht folgte.
Ein harsches Klopfen zerriss ihren kommenden Gedanken wie eine dünne Membran. Das musste die Antwort sein. Urplötzlich schlug ihr das Herz bis zum Hals, als wäre sie sich gar nicht mehr so sicher, ob das wirklich die beste Idee gewesen ist, ob sie damit nicht die Geduld des Mannes endgültig überspannt hätte, ob … ‚Reiß dich zusammen Riona. Selbstbeherrschung!‘
„Herein“. Sie war selbst überrascht, wie ruhig sie klang, wie unberührt, als hätte sie wirklich nur einen absolut sachlichen Brief per amtlichen Boten losgeschickt. Als er eintrat schaffte sie es sogar die Mine beizubehalten, auch wenn sie vor Freude anders reagieren wollte.
„Ich habe die Antwort des Horishi“ So wie der Bursche das Wort aussprach, drehte sich ihr sofort der Magen um. Den Drang ihn zu verbessern unterdrückte sie erfolgreich, indem sie sich mehr auf ihre Neugier einließ. „Legt es einfach hier ab. In einer halben Stunde kommt ihr wieder hier her, damit ich euch eine Antwort mitgeben kann.“
Als er endlich fort war, verschwand auch die nur dürftig aufrecht erhaltene Geduld. Der Ordnung nach, öffnete sie zuerst den Brief, der ihr eine leichte Röte auf die Wangen zauberte und gleichzeitig auch dankbares Erstaunen über die darunter gesetzte Unterschrift. In Gedanken fügte sie ihren Vornamen mit dem Nachnamen zusammen und nickte, zufrieden über das Ergebnis. 'Schlicht, aber besser als erwartet.'
Für das Auspacken des Bildes ließ sie sich Zeit, zerriss das Papier nicht, sondern zog es sorgsam ab, um es am Ende sogar zusammen zu falten und so auf den Tisch zu legen, dass es nicht auf den Boden fallen konnte. Scharf zog sie die Luft zwischen den Zähnen hindurch, als sie den gerahmten, in Tusche festgehaltenen Hou-Ou befreite. Sanft legte sie ihre Fingerkuppen auf das von feinen Linien durchzogene Kunstwerk, unfähig weg zu sehen. Erinnerungen an ein Sanktum der Ruhe, einen Hort des Friedens durchströmten die Canthanerin und sofort fühlte sie sich besser. 'Es ist wie heim kommen nach einer langen Wanderung'
Langsam und mit einem versonnenen Lächeln legte sie das Bild wieder ab. Die Auswahl des Ortes wo es aufgehangen werden sollte, musste sorgsam erfolgen und dementsprechend nicht sofort. So schrieb sie erst einmal die Rückantwort in gleicher Manier, wie bereits die erste Nachricht:
„Ehrenwerter Horishi,
ich danke Euch für die großzügige Weitergabe dieses Bildes und kann euch versichern, dass die Schönheit der Geste mein Herz berührt hat. Nichts destotrotz komme ich nicht umhin meine Dankbarkeit in mehr als nur einem Wort auszudrücken.
Anbei findet ihr eine Kleinigkeit für Eure Mühen, bei der ich mir sicher bin, dass ihr sie ebenso zu schätzen wisst.
Gez. Riona von Driftmark
Nachdem sie die Zeilen so Kunstfertig auf das Pergament gezeichnet hatte, griff sie zielgerichtet nach der Schere in einem der Schubfächer an dem Schreibtisch. ‚Verdient ist Verdient‘
Eine gute Stunde später hatte sie das Bild so auf gehangen, dass sie es immer frontal sehen konnte, wann immer sie nur den Kopf hob. Es half ihr sich wieder eher im Gleichgewicht zu fühlen, das Denken nicht mehr so träge bemühen zu müssen. Vor allem die Arbeit ging ihr dadurch um ein wesentliches Besser von der Hand. Auch das fehlende Stück einer langen Haarsträhne störte sie um ein vielfaches weniger als zu Beginn vermutet. Vielleicht, weil sie ganz sicher wusste, wo dieser Teil von ihr mittlerweile angekommen sein musste.
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