Lügen. Alles Lügen.
Helena drehte den kleinen Holzschwan in der Hand, immer wieder, immer wieder. Warum gab er ihr keine Antworten? Töte den Schwan. Sie holte aus, zog die Faust weit hinter ihren Kopf. Aber sie warf nicht.
Mann Helena, jetzt hör doch mal auf mit der Scheiße!
Alles Lügen. Er hatte sie fast geschlagen, weil sie ihm nicht vertraut hatte. Ab da hatte sie ihre Skepsis geschluckt, sie unterdrückt und betäubt. Sie hatte sie nicht mehr gezeigt, weil sie wusste, dass es alles kaputt machte. Und sie hätte sich ja irren können. Sie hätte falsch liegen können.
Lügen.
Der Schmerz war innerlich, er befiel nicht ihren Körper, aber er war fast narkotisch und dröhnte in ihren Ohren. Immer wenn sich in ihr der kleinste Verdacht regte, sie täte einem Menschen Unrecht damit, ihm, wie sehr sie sich auch bemühte, einfach nicht vertrauen zu können...immer wenn sie glaubte sie hätte etwas verloren dadurch, einfach völlig außer Stande zu sein, Glauben in die Welt zu fassen. Immer dann machte man ihr jäh bewusst, wie sehr sie im Recht war. Kein Pflänzchen milden Optimismus durfte keimen, kein Lichtschimmer, dass es noch einen Grund und Boden gab, auf dem sie auf jemanden hoffen konnte. Nicht auf die alltägliche Art. Es gab Aufgaben, und sie hatte Menschen, bei denen sie sich darauf verlassen konnte, dass sie diese Aufgaben erfüllten. Aber das war nicht dasselbe. Die Essenz des Vertrauens...
Wem vertraust du wirklich, Helena?
Niemandem.
Und da wunderten sie sich?
Helena stand auf, sie ließ den kargen Tisch zurück, der Stuhl fiel um, so heftig hatte sie sich erhoben. Sie ging mit kleinen, aber wilden Schritten durch den Raum, bemerkte, dass sie ziellos war, hielt an und drehte um. Sie starrte gegen die Wand. Keine Bilder. Kein Schmuck. Hier gab es nicht das Geringste. In ihrer Hand hielt sie einen kleinen Schwan aus Holz.
Alessa Di Saverio.
Ich weiß nicht, ob ich es bin. Ich glaube es nicht. Aber wenn, dann werde ich es nicht behalten. Ich weiß, was ich dann zu tun habe.
Helena hatte ihr das Versprechen abgenommen, es keinem zu sagen. Aber Alessa hatte es Cirds bestem Freund gesagt. Wie hatte sie denken können, es käme nicht heraus? Fast hätte sie damit alles zerschlagen. Alessa hatte den Mund nicht gehalten. Seitdem waren sie keine Freundinnen mehr. Helena würde es ihr niemals verzeihen.
Mirabel Porter.
Mirabel, ich weiß, was ich tue. Es ist mir egal, wenn sie mich bestrafen, ich gehör zu ihm. Sie müssen es nicht wissen. Keiner muss es wissen. Sag ihnen nichts.
Aber sie hatte es gesagt. Helena hatte ihr Gefühl gestanden. Sie hatte gesagt, sie war glücklich. Mirabel war direkt zu Hermes gegangen, damit er half, dieses sanfte Gefüge von Glück zu zerstören. Cird hatte sie daraufhin verlassen. Sein Entschluss hatte nicht gehalten. Aber die Freundschaft zu Mirabel Porter ebenso wenig.
Elizabeth Rawson.
Ich erzähle dir die Wahrheit, weil ich will, dass du mich verstehst. Du bist meine einzige Freundin....
Elizabeth hatte Helena nicht verstanden. Sie hatte getan, was eine Freundin nicht tut, und sie in aller Öffentlichkeit als Hure bezeichnet. Sie hatte ihr in dem Moment, in dem sie mit ausgestreckten Armen auf sie zugekommen war und unbedingt Beistand gebraucht hatte, sinnbildlich in ihr Gesicht geschlagen. Helena hatte ihr nie wieder etwas anvertraut.
Cird.
Ich war es. Ich bin es gewesen. Es tut mir leid. Ich dachte, sie hätte uns verraten. Auf Verrat steht der Tod. Wir müssen uns schützen. Sie hätte nicht weglaufen dürfen.
Aber Cird hatte sich für Löwenstein entschieden. Er war zu Adrian gegangen und hatte Helenas verbotenes Handeln geschildert. Adrian hatte daraufhin ihre Ermordung zur Diskussion gestellt. Ihre Familie hatte darüber gesprochen, sie hinzurichten. Das hatte mehr zerstört, als sie sagen konnte.
Al.
Du kannst nicht zu Adrian gehen und ihm alles sagen, Al! Versteh doch, er wird dich einfach töten. Du bist ihm egal! Und danach kommt er zu mir!
Aber er hatte nicht begriffen. Lynn hätte ihn beinahe aus dem Weg räumen müssen, erst dann hatte er geschwiegen. Aber er war nie mehr derselbe gewesen. Und ehe er Adrian etwas sagen hatte können, hatte er sich das Leben genommen. Diesmal würde Helena sich selbst nie verzeihen.
Armien.
Es tut mir leid.
Er hatte ihr gegenüber Gewalt angewandt, weil sie an ihm gezweifelt hatte. Er war verzweifelt gewesen, sie war verzweifelt gewesen. Sie hatte es bisher nicht ein einziges Mal nicht bereut, sich jemandem anvertraut zu haben, nicht einmal. Sie hatte es nie geschafft, ihm zu vertrauen. Aber sie hatte es versucht. Sie hatte sich selbst getäuscht und ruhiggestellt, sie hatte sich in Ausreden gestürzt und ertappte sich, sogar jetzt, bei dem unverzeihlichen Gedanken, zu wünschen, sie hätte einfach nichts gesagt. Er war mehr als das. Ein Verräter. Ein Schwindler und Blender. Er war sicher kein Seelenadel, aber seine Persönlichkeit war kompliziert, und sie hatte versucht, sie in das Gute und das Schlechte aufzuspalten. Sie wusste, dass da Gutes gewesen war.
Lügen. Alles Lügen. Wahrscheinlich hätte er sie am Ende getötet. Aber sie respektierte seine Schläue, sein Talent, seine Gewieftheit. Helena konnte Genialität anerkennen, selbst wenn sie sich gegen sie richtete. Letztendlich aber war er dumm gewesen. Und sie auch.
Helena steckte den Schwan ein und verließ das Haus. Auf der Straße blickte keiner sie an. Es war als sähen die Leute vollkommen über sie hinweg.
Leyla hat mich noch nie verraten, dachte sie. Leyla war die Person, von der sie als letztes erwartete, dass sie etwas Vertrauliches weitertrug. Umso wichtiger, dass sie nie das Risiko einging, aufgezeigt zu bekommen, dass sie sich wieder geirrt hatte.
Kommentare 16