Das alljährliche familiäre Festtagsessen zog dieses Jahr spurenlos an Helena Iorga vorbei. Sie bekam mit, dass wieder einmal der Tisch gedeckt war, dass es nach Ente und Gans roch, nach Beifuß, Orangen und einer schweren Soße mit Portwein und Schokolade. Sie saß inmitten von Platten voller Dörrobst, Lamm und Walnusspaste, Granatäpfeln und Dolyak in goldenem Teig und blickte mit einem milden Ausdruck der Ablenkung über alles hinweg, als fände es zu einer anderen Zeit, vielleicht sogar in einer anderen Realität statt als jener, in der sie, die Hände zusammengenommen, auf ihrem hohen Lehnstuhl saß und aus dem Fenster sah. Zur Feier der Genesung ihres besonders verhassten Onkels Nicolae wurde eine gigantische Rumtorte herangeschafft, deren Rand eine Komposition schwarzer und weißer Pralinen bestückte, aber auch darüber ging Helena nachlässig hinweg und erhob sich bald, um die Feiernden mit ihrer betrunkenen Laune allein zu lassen. Es war die Idee ihrer Mutter gewesen, die Geschenke aus Götterfels mit in die ascalonische Siedlung zu fahren, in der sie jeden Wintertag zusammenkamen, und hätte sie nicht mit aller Ausdauer und nervösen Wortwiederholungen darauf gedrängt, Helena hätte ihr den Gefallen nicht getan und den Haufen Tand zu Hause gelassen. Ein paar Geschenke hatte sie zu den anderen gelegt, um ihrer Mutter die Gelegenheit zu lassen, sie aufzuheben, damit herum zu gehen und die Geschenke, die ihrer Tochter gemacht worden waren, so stolz zu präsentieren wie andere Verwandten ihre Nichten und Enkel an die Brüste ihrer Nächsten drückten. Es war eine große Lächerlichkeit an dieser Szene, und lange hatte Helena sie nicht beobachtet, ehe sie die Abkehr von dem Fest beschlossen hatte, sich, den Pelz schon über die Schultern geschlungen, an Nikolaj und Leon vorbei schob und hinaus schlich, mit schnellen, kleinen Schritten den Platz überquerte und ihr Gastquartier betrat. Es war ein schönes Zimmer mit großen Fenstern und langen, ausladenden Vorhängen. Sie selbst hatte nicht viel Gepäck mitgebracht, denn sie wollte nicht lange bleiben. Auf dem Nachttisch aber lagen vier kleine Gegenstände. Sie hatte sie alle mit hierher genommen, nicht mit den anderen Geschenken ausgepackt, ihre Mutter hatte sie nicht sehen dürfen und wenn sie ging, dann schloss sie das Zimmer ab. Jetzt, während das Rauschen aus dem Feiersaal in ihren Ohren langsam blasser wurde, ging sie hinüber und nahm sie einzeln in die Hand. Da war ein kleines Glasoval, befüllt mit Erde und Pflanzen. Eine winzige Kuppel mit einem Stück Natur. In der Mitte lag im Moos ein Bröckchen wie eine Schieferplatte. Sie hatte nicht sofort gesehen, dass ihr Name darin stand. Über dem ersten e schwebte eine Krone.
Wenn du denkst, dass alles nicht in Ordnung wäre, hast du immer noch die Welt in deiner Hand.
„Ich habe die Welt in meiner Hand“, sprach Helena in den leeren Raum hinter sich, und wäre jemand dort gewesen, so hätte er wahrscheinlich bestätigt, dass ihre Worte nach einem Zitat klangen. Sie stellte das Glasoval zurück und nahm stattdessen einen kleinen Kristall in die Hand. Wie ein Stück Eis, das irgendwo herausgebrochen worden war, nur formschöner als die meisten schlichten Gegenstände und auf rätselhafte Weise elegant.
Je größer der Schneesturm desto größer der Wahnsinn.
Als sie den Kristall zurück an seinen Platz schob, nahm sie stattdessen einen kleinen Holzschwan auf.
Ich bin ein Schwan, hatte sie immer wieder behauptet, so albern und vielleicht träumerisch verblendet, dass sie nicht davon ausgegangen war, dass jemand ihrem Gerede Beachtung schenken könnte. Helenas Unterlippe schob sich in einer Anwandlung nachdenklicher Verspannung ein wenig vorwärts und verharrte wie der Rest von ihr, bis sie die Schnitzerei fortlegte und den letzten Gegenstand griff, ihn an sich zog, vor ihr Gesicht hob. Eine Stadt, die sie liebte, so klein, dass sie in ihre Hände passte. Plötzlich musste sie beinahe lachen, sie spürte den Impuls, obwohl es ihr unmöglich war, ihm nachzugeben. Seltsam, dachte sie, dieser Zufall. Und: Ich muss heim.
Sie hatte ihr außenseiterisches Betragen bis zum nächsten Tag nicht abgelegt, obwohl sie zu jedermann freundlich gesprochen und sogar Nicolae ein höfliches Wort erübrigt hatte. Ihr Teint war etwas blasser gewesen als gewöhnlich, und als Helena schweigend in die Droschke stieg, die sie zurück nach Götterfels bringen sollte, tauschten sich die Verwandten heimlich einander zugewandt darüber aus, dass sie älter und kein einfaches blondes Mädchen mehr, sondern eine besonnene und sanfte junge Frau geworden war, und dass sie ihr schönes weißes Mieder und das steinbesetzte Halsband trug wie eine Königin ihre Krone. Sie winkte noch durch das Fenster ehe sie dann in einer so aufrechten Haltung, dass sie geradezu totensteif war, wieder ihren Blick der vorbeiziehenden Welt zuschickte. So saß sie lange und sagte nichts und es wäre auch niemand da gewesen, mit dem sie sprechen hätte können. Sie sah die Wiesen entlang ihrer Route nach Götterfels und in der Ferne eine Windmühle. Eine Weile lang beugte sie sich in einem ungemütlichen Winkel um eine Winzigkeit vornüber, bis sie es nicht mehr aushielt und die Augen schloss. Sie waren auch noch geschlossen, als vier Männer vom Rande her auf die Straße traten und sie versperrten. Der Kutscher machte einen jähen Ruck beim Versuch, ihnen auszuweichen. Das war, als der Wagen vom Weg abkam.
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