Der Boden war aufgeweicht, es regnete hier oft. Gerade nicht. Sie kniete auf der Erde, unter ihr die verwaschenen Spuren irgendeines Dings.
„Sieht aus wie ein Wolf“, sagte eine Stimme in ihren Gedanken. Es klang wie die Stimme ihres Bruders, unsinnig eigentlich, er war gar nicht hier. In einem Baum in der Nähe raschelte es schroff. Sie schrak hoch. Nur ein Vogel. Nach all den Toten, all den zerrissenen Gesichtern und offen klaffenden Körpern hatte sie eine gewisse Überempfindlichkeit für Geräusche entwickelt, man war, wenn es so zuging wie hier, stets überreizt, stets einen Deut über das Maß gewöhnlicher Sensibilisierung hinaus. Man redete sich ein, dass es Alltag war. Aber es hörte nicht auf, einen zu quälen.
Fakt war, dass diese Spuren nicht die eines Wolfes sein konnten. Sie sahen so aus, aber sie waren viel zu groß. Eine Anomalie.
„Was treibt ihr hier für Perversionen?“ Sie sprach, aber sie sprach in Gedanken. Diesmal war es ihre eigene Stimme, die in ihrem Kopf rauschte. „Was treibt ihr hier...?“
Sie handelte, wie Maus es ihr gesagt hatte. Ein Stück voraus gehen. Sich in Deckung halten. Natürlich versuchte sie, den Spuren zu folgen. Wie früher beim Fährtenlesen mit ihrem Bruder. Er war darin immer besser gewesen als sie. Aber nicht einmal er hätte hier etwas erreicht, die Abdrücke verloren sich ziellos im Wald, gingen irr und verliefen sich.
Maus sagte, sie bräuchten einen geeigneten Beobachtungsposten....
Keiner von beiden sprach. Sie hatten einander nichts zu sagen. Sie waren Fremde, verbunden nur durch ihre Handlung. Er war so winzig klein. Wann immer er etwas sagte, nahm sie es an. Wann immer er etwas sagte, war es nur eine Anweisung, die sie ausführte. Wann immer er etwas sagte und auch wenn er nichts sagte, auch wenn er schwieg, dachte sie ingesheim an Zuhause. Sie versuchte all diese Gesichter aus ihrem Kopf zu verdrängen. Aber es gab keinen Ort, an den sie sie drängen konnte...
Die Zugangswege des Forts sichten. Die erwarteten Karawanen kamen nicht. Abrücken. Ein Lagerfeuer in der Ferne. Sie mussten einen Umweg nehmen. Es konnten Seraphen sein, oder Banditen. Maus sagte nichts. Sie auch nicht. Es gab etwas, das schlimmer war als die Einsamkeit. Die Angst vor dem Scheitern. Sie war eine brave Gefährtin, blickte forsch und introvertiert ins Umland, sie beschwerte sich nicht, nie. Keiner gab etwas von sich Preis. Der Wald war still, ab und zu raschelte ein Tier...
Maus hatte sie voran in die Lichtung geschickt, in deren Mitte der dunkle Krater lag, auf den sie gestoßen waren. Sie kundschaftete den Ort aus, er gab ihr Deckung. Irgendwo gingen Pulverexplosionen in die Luft, weit genug weg. Sie war elektrisiert bis aufs letzte Härchen. Sie konnte selbst nicht sagen, ob es Aufregung war oder Angst. Es kam von Westen...
Sie winkte Maus heran, das musste er sich ansehen. Der Krater war ein Loch ohne Boden in der Dunkelheit, ein Loch mit Gitterstäben, um das herum Fußspuren ins Nirgendwo führten. Sie waren alt. Es stank, es war kaum auszuhalten.
„Was ist das hier?“, flüsterte sie Maus zu, als er bei ihr war.
„Rucksack. Rechte Seitentasche.“ Er drehte sich ihr zu und sie zog aus seinem Bündel einen zylindrischen Gegenstand mit Leuchtkristall, den er in das Loch steckte, so weit hinein, dass er sein Licht nicht in die Umgebung warf, nur in die Tiefe. Es dauerte nur eine Sekunde an.
Da in dem Loch lag sie selbst. Zusammengekauert, das lange blonde Haar wirr, wie Würmer ausgebreitet.
Das bin ich nicht. Das bin ich nicht.
Aber sie hätte es sein können.
Maus hatte das Licht schnell wieder abgeschaltet. Sie musste die Lampe wieder dort verstauen, wo sie sie her hatte.
„Wer war das?“
„Niemand, für den wir noch was tun können. Gehen wir, wir haben hier nichts mehr zu schaffen....“
Da waren wieder Fußspuren. Sie erinnerte sich, dass an dieser Stelle Tauben aufgestiegen waren. Ihr Bündel wurde immer schwerer, obwohl es nicht an Gewicht zunahm. Sie folgte Maus schweigend. In Gedanken war sie weit weg. Sie erinnerte sich kaum noch daran, quirlig und mitteilsam gewesen zu sein. Manchmal glaubte sie, nicht einmal mehr die Bedeutung dieser Worte zu verstehen...
Sie war wieder bei dem Loch. Das tote Mädchen, ihr blondes Haar, wie Würmer. Es waren Würmer. Es war sie. Es war doch sie.
Als sie aufwachte, war sie im Basar. Ihr Lager war leer. Da war aber ein halber Laib Brot, Milch, eine weiße Blume. Sie blinzelte. Irgendwo unten hörte sie das Grollen zweier Charr, die einander Anweisungen zuriefen. Eine Frau klagte und ein Kind schrie.
Achja..
Aber sie hatte aufgehört, an Zuhause zu denken.
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