Es klapperte hölzern und metallisch, der Schlüssel knackte im Schloss und die Zellentür sprang auf. Zwei Flügelhelme starrten dem jungen Mann auf der Pritsche entgegen.
Er saß dort so lässig, ein Bein gestreckt, das andere angewinkelt, als wäre er gerade eben erst hergekommen, hätte es sich bequem gemacht und wollte einfach mal schauen, was so passiert.
Die Wahrheit war, dass er die letzten sechs Jahre in diesem Loch verbracht hatte.
„Iorga“, schnarrte einer der Seraphen. Jedes Mal, wenn er den Namen ausgesprochen hatte, hatte er es klingen lassen wie einen kleinen Triumph in einem Tag voll unabwendbarer aber belangloser Mühen. „Habt Ihr Euch so gut eingelebt, dass Ihr bleiben wollt?“
Narcis sah aus wie einer, der an einen Löwensteiner Strand gehörte. In der Gefängniszelle unter Götterfels waren seine Augen abgeklart und hatten einen Teil ihres Glanzes verloren, sein goldenes Haar war erblasst wie im Glas verhärteter Honig. Er war ein namenloses, schönes Gesicht, das langsam zwischen den endlosen Wänden verkalkt war, nur gelegentlich von der triumphalen Stimme dieses gelangweilten Seraphen wieder einer Benennung zugeordnet und an sich selbst erinnert, von der Essigsäure der Witze, die auf seine Kosten gingen, wieder klargeputzt. Einen Teufel hatte er sich eingelebt. Wäre er damit davongekommen, er hätte dem Flügelhelm allein für diese Frage die Ehre erboten, ihm persönlich das Gesicht einzuschlagen, was natürlich weder gut für ihn selbst, noch für seinen Bruder Banel in der Nebenzelle gewesen wäre. Deshalb hob er das Gesicht, als hätte er alle Zeit der Welt, betrachtete die zwei Wächter, und ließ sie in den Genuss seines hinreißenden Lächelns kommen, ein Lächeln, mit er immer schon viel gewonnen hatte, außer hier, wo es rein gar nichts zu gewinnen gab.
„Ich weiß die Gastfreundschaft zu schätzen“, behauptete er. „Aber ich gehe lieber. Ich will nicht unverschämt sein und jemand anderem die Möglichkeit vorenthalten...“
Er beendete den Satz an dieser Stelle, was letztendlich eine rhetorische Maßnahme war, nicht mitten im Wort unterbrochen zu werden, denn die Seraphen hatten die Zelle bereits bis zu ihm durchquert und zogen ihn jetzt von der Pritsche, um ihn nach draußen zu schaffen.
Als er sich auf der anderen Seite der Gitter aufstellte wie ein Soldat in viel schlechteren Klamotten (wenn auch nicht unbedingt in schlechterem körperlichen Zustand, denn sich in Form zu halten war eine der wenigen Beschäftigungen, die man auf wenigen Fuß Existenzraum hatte), sah er, dass sein Bruder in gleicher Pose unweit neben ihm stand. Sie tauschten einen kurzen Blick. Keiner von beiden ließ es sich nehmen, neckisch genug auszusehen, als hätte er die Lage voll im Griff. Im Stillen waren sie beide voll vager Hoffnung und Unsicherheit über die Zukunft.
„Narcis Sinică Iorga.“
Ehe sie gehen durften, richtete man noch ein paar persönliche Worte an sie. Der Seraph, der ihn über Jahre hinweg damit aufgezogen hatte, ihn gefasst zu haben, schob sich dicht an sein Ohr.
„Du bekommst noch eine Gelegenheit. Mein Rat: Versau es nicht gleich wieder.“
Mit seiner persönlichen Anrede, mit seiner völlig ungewöhnlichen Betonung, klang er erschreckend ernst.
Dann wurden die Brüder zurück in eine Realität gespuckt, die ihnen nicht mehr real vorkam.
Nicht nur die Stadt war fremd, jede Bewegung war es wert, ihr zu misstrauen, jetzt, wo sie nicht mehr durch Wände oder Gitter oder wachende Blicke oder andere Maßnahmen eingezäunt und beschränkt waren.
Plötzlich war Narcis unbeobachtet, und wenn er sein gewinnendes Lächeln aufsetzte, das über Jahre hinweg das Bremsholz für die Überheblichkeit der Seraphen gewesen war, täuschte er damit keinen außer sich selbst. Deshalb verbrachte er ein paar Tage ohne zu lächeln.
Er musste seine alten Kontakte suchen und herausfinden, was in den letzten sechs Jahren passiert war. Wie er gehört hatte, war die Stadt in Aufruhr, weil es irgendein Wiederaufleben des Weißen Mantels gegeben hatte. Er musste Eugen-Paul kontaktieren, der Mann hatte all sein Geld – aber in der aktuellen politischen Lage würde es schwer werden, ihn zu erreichen.
„Stell keinen Scheiß an“, bat er seinen jüngeren Bruder, als sie sich, einige Stunden nachdem sie frei gekommen waren, vorerst trennten. Banel gab ihm seine Zusicherung, nichts Verwerfliches zu tun, nichts, was sie in Schwierigkeiten brächte, und ging dann seinem Drängen nach, irgendeine Schnalle klarzumachen, wie er es ungefähr ausdrückte.
Narcis büßte einen Teil seiner herablassenden Zwanglosigkeit ein, als er nach und nach erfuhr, dass im Grunde gar nichts mehr war wie vorher, dass sich, während er im Götterfelsener Kerker verrotet war, alles umgestülpt hatte. Die Geschäfte seiner Familie kamen ihm wie Milch vor, die erst auf-, dann übergekocht war und sich dann allmählich wieder beruhigt hatte, nur dass die widerliche Haut auf der Oberfläche blieb, die eigentlich kein Mensch mochte.
Leon hatte die Stadt verlassen, sein Bruder Ilie genauso, und Helena, die Letzte, die übrig war und an die er sich als ein kleines Mädchen mit Puppengesicht erinnerte, war genauso wenig anzutreffen. Es gab nur Levi, an den er sich kaum erinnerte, und Victor, der jetzt irgendwelchen eigenen Ideen nachging, dann traf er irgendeine Lynn, die in die Familie eingeheiratet hatte, und zuletzt begegnete er Alexej, der ihm endlich etwas Geld in die Hand drückte, damit Narcis sich, wie er gönnerhaft verkündete, nicht vor dem nächsten Abend blicken ließe, nicht, ehe er nicht eine Nacht in den Armen der schönsten Frauen verbracht hätte.
Narcis kaufte sich von dem Geld einen Satz neuer Kleider.
Zu dem Zeitpunkt, an dem er Alexej Iorga getroffen hatte, hatte er sich bereits drei Nächte lang durch- und auf der Straße mit mehreren Leuten geschlagen, er brauchte keine Frau mehr, er brauchte ein Hilfsmittel, sich wieder wie ein Mensch zu fühlen, was, wie er vermutete, am ehesten zu bewerkstelligen war, indem er wieder wie einer aussah.
Götterfels begann schnell, ihn zu langweilen. Überall wurde herumgejammert, die Stimmen selbsternannter Opfer dröhnten ihm in den Ohren, wie sie sich darüber ausließen, dass gerade alles den Bach runterging. Er versuchte, sich zu benehmen, mied den Alkohol und knüpfte ein paar Kontakte, geriet in einen schlecht geplanten Überfall im östlichen Marktviertel und startete eine Prügelei, verspottete eine Nacht später die falschen Leute und steckte selbst Hiebe ein.
Lynn und Alexej brachten ihn in einem großen Anwesen unter, ein junges Mädchen verliebte sich in ihn und er sich in sie, bis ihm am nächsten Tag klar wurde, dass er vergessen hatte, sie nach dem Namen zu fragen und nicht mehr wusste, wie ihr Gesicht aussah.
Als er Banel in der Wunderlampe traf, überredete ihn sein junger Bruder fast augenblicklich, wieder mit dem Trinken zu beginnen, und da gingen seine guten Vorsätze dahin, sodass er ihnen höchstens noch nachsehen konnte wie einem Pulverfass, das zu schwer geworden war, es mitzuschleppen und seinen Zweck nicht mehr erfüllte.
Banel schoss sich vollkommen ab. Er war der Meinung, jede Frau unterläge seinem Charme. Natürlich hatten ihrer beider Eltern alles, was sie an Anziehungskraft zu vererben hatten, bereits an Narcis abgegeben, ehe ihnen bei Banel der Fehler unterlaufen war, nicht das Kind, sondern die Nachgeburt aufzuziehen. Aber er liebte diese Nachgeburt, die herumlief und schlechte Pläne schmiedete und clever genug war, auf die schlechteste Weise von den Menschen zu denken und sich ihnen dennoch irgendwie zu verkaufen. Und er brauchte diese Nachgeburt, um auf dem Boden zu bleiben. Ein paar Stunden, bevor sie begonnen hatten, miteinander zu trinken, wäre Banel beinahe auf eine Frau losgegangen, einzig aus dem Grund, dass sie ihn mit einer Nuss beworfen hatte. Narcis war dazwischen gegangen, nur war er manchmal auch ein wenig Nachgeburt, deshalb hatte es damit geendet, dass letztendlich Banel ihn zurückhalten müssen hatte.
Während sie am Tisch saßen, zuviel Schnaps kippten und Narcis seinem Bruder dabei zuhörte, wie er sich breit über irgendeinen Blödsinn ausließ, kam ihm in den Sinn, ein Mädchen vom Nachbartisch herzurufen und Banel in diesem Zuge ein wenig herauszufordern.
„Ich hole sie für dich.“
Also lud er sie ein. Das Mädchen, eher eine junge Frau, kam tatsächlich zu ihnen und gerade wollte sich Narcis aus der Affäre ziehen, damit sein Bruder sich ungestört der totalen Blamage hingeben konnte, da begann jener boshaft quer über den gesamten Tisch zu kotzen.
Narcis gab sich reumütig, freundlich und geistesgegenwärtig genug, das Erbrochene seines Bruders von der Frau aufwischen zu lassen. Anschließend überredete er einen Charr, Banel zu den Schweinen zu legen, die ihr Gehege unweit der Wunderlampe hatten. Gerüchteweise hielt sich der Charr nicht an diese Abmachung, sondern warf ihn in den Brunnen. Narcis hätte seinen Spaß mit der Geschichte gehabt, mehr als ohnehin schon, nur kam ihm davon nichts zu Ohren, denn er ging nach Löwenstein, wo er ein paar Tage blieb, wo er auch Adrian traf, einen anderen Vetter, der, wie er erfuhr, eine Zeit lang Ratsherr in Götterfels gewesen war, ehe er sich zurückgezogen hatte, kurz bevor es brenzlig wurde.
„Als hättest du es gewusst“, scherzte Narcis. Ihm fiel auf, dass das Lachen des Anderen eine Sekunde zu lang brauchte, sein sich anschließender Witz eine halbe zu verzögert kam. Und er verließ Löwenstein wieder, immer noch mit dem Vorsatz, in nichts reingezogen zu werden.
Kaum eine Nacht in Götterfels, war er schon wieder gelangweilt. Er brauchte eine Beschäftigung. Irgendetwas mit Abwechslung. Seine Vorsätze, die so golden gewesen waren, als er zuerst den Fuß in die Freiheit gesetzt hatte, verloren ihren Schimmer, sie wirkten jetzt stumpf und wie Fälschungen, Katzengold, das abplatzte, darunter die alte Minderwertigkeit.
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