Dämliche Bookah.
Erneut geschah es. Jener skritthirnige Schreinwächter, eine wahrhaftige Koryphäe des Dadaismus, übergoss den Magister mit einer neuerlichen Woge des unendlichen und fortwährend identischen Wortschwalls wie ein wahnwitziger Bademeister. Erneut jene Tirade hanebüchener Anweisungen und Binsenweisheiten, ein Sammelsurium des inhaltlichen Irrsinns, auf welche man mit wenig mehr als einem enervierten, gar gequälten Aufstöhnen zu regieren vermochte.
Sooc hätte diesen Geysir des verbalen Diarrhoe nicht nur auswendig mitsprechen können. Vielmehr war ihm inzwischen gar jede stimmliche Nuance und jede noch so kleine Regung in der mimischen Ödnis dieses Schreinwächters bekannt. Des Trottels, des Narren, des Wahnwitzigen, der seine mentale, von dogmatischen Idiotismen determinierte Einfalt, in jedem Sprechakt auf unverkennbare Weise offenbarte, als zähle er zu den Sechsen höchstpersönlich. Mit mehr als nur reger Anstrengung immunisierte der Magister Ohren und Geist gegen das gesprochene Wort. Er ignorierte den repressiven Befehlston und dessen Ausführung über die strikte Einhaltung der Regeln anlässlich seiner Anwesenheit, die Schilderung der drakonischen Sanktionen im Falle jedweder Insubordination und insbesondere den hypokritischen Humbug, dass auch ein ungläubiger Asura den Willen Balthasars strikt zu erfüllen haben. Es war, als würde man eine Audiodatei mit komödiantischem Inhalt in einer Zeitschleife abspielen. Von einem Golem mit defekten Funktionskern und damit kurz vor der Selbstdetonation.
Doch in gewisser Weiser erfüllte der Magister Balthasars Willen tatsächlich. Er ehrte dessen kosmologische Prinzipien von Konflikt und Kampf ein jedes mal, wenn er bis in seine innerlichen Grundfesten mit sich rang, diesen Schreinwächter - jenen unerschöpflichem Urquell belangloser Informationen und unerbetener Erläuterungen – nicht einfach in Flammen aufgehen zu lassen. Nicht zuletzt deswegen, weil er wie alle Bookah mit dem remarkablen Talent gesegnet war, den Prozess seiner sprachlichen Defäkation fortwährend zu Zeitpunkten zu verrichten, in welchen sich der Magister am Höhepunkt seiner Konzentration befand. Mit geschlossenen Augen beiden Händen vor dem Gesicht, harrte ein leise doch schwer atmender Sooc aus, bis der sinnentfremdete Monolog endlich wieder der Grabesstille gewichen war. Zwischenzeitlich wanderte sein Verstand ab und versüßte die unwiederbringlich verlorene Zeit, mit gedanklichen Beschönigungen.
Die ausschließlich an ihn gerichtete Stimme, exkludierte Sooc aus seiner der Lebenswelt und Wahrnehmung. Er verkorkte alle potentiellen Körperöffnungen des Schreinwächters im Geiste wie eine Weinflasche und stellte sich einhergehend vor, wie er einem hiesigen Ebenbild Balthasars irgendein Stück fauliges Obst in seine steinerne Hackfresse warf. Die Imagination dessen war nicht nur tröstlich, sie beflügelte den Geist des Asura gar, der seinen 'Gastgebern' mutmaßlich nicht mehr als ein opaker Häretiker war. Dass er als – mehr oder minder – überzeugter Anhänger der Ewigen Alchemie, die Sechse nicht negierte, schien dem klaren Großteil jener verblendeten Fanatiker ein Mysterium zu sein. Aller Wahrscheinlichkeit nach hatten sie gar den distinktiven Sinn für Immanenz und Transzendenz verloren. Sooc interessierte es weniger als den platt getretenen Quaggan unter seiner Fußsohle, weswegen er keinerlei Verlangen verspürte, an jenem Umstand auch nur marginale Änderungen zu vollführen. Denn unabhängig von der minimalistischen Erfolgswahrscheinlichkeit hätte es ausschließlich Komplikationen – oder schlimmer noch, einen erneuten Monolog des Schreinwächters – durch alle jene Idioten impliziert.
Was es vorbei? War die Apokalypse überstanden? Der Magister wagte es kaum, die Hände vom Gesicht zu nehmen, scheute sich des Anblicks jener neuen Welt, welche durch das geistlose Gepöbel des Sprechenden aus der Taufe gehoben worden war. Doch letztendlich fasste er Mut und tat es. Tatsächlich. Die pleonastische Eruption war versiegt und augenblicklich fanden auch die euphemistischen Gedanken des Magisters ein schlagartiges Ende. Dem Schreinwächter, so töricht dem Asura für wenige Sekunden den Rücken zuzuwenden um sich zu positionieren, ermöglichte Sooc dadurch die verlockende Opportunität einer überfälligen Vergeltungsmaßnahme. Mit einem wohlig-genüsslichen Gefühl schoss der kurze Arm des Magisters hervor, während sich die mittlere Greifklaue der geballten Faust in Richtung der Rückseite des Bookah erhob. Selbstredend bemerkte der Kretin diesen vollendeten Geniestreich nicht. Es war ein wärmendes Gefühl, sich bei dem Trottel in diesem eudaimonischen Moment für seine destruktiven Interventionen in die superioren Reflexionen zu revanchieren. Doch eben nicht mehr als ein flüchtiger Augenblick, eine weitere, beschönigende Ablenkung, welche den Sinn der vorherrschenden Ernsthaftigkeit jener Tage verklärte.
Dass es mit derartigen Euphemismen endgültig zu Ende gegangen war, wurde bereits durch einen kurzen Blick auf die umliegenden Fundstücke suggeriert. Durch seine unterbrochene Konzentration ließ sich Sooc leise seufzend in seinen erhöhten Stuhl – ein besonders hämischer Idiot hatte ihn als Kinderstuhl klassifiziert – zurückfallen und schloss erneut kurz die Augen. Er hatte sämtliche Gegenstände lange genug studiert, um sie vor seinem geistigen Auge detailgetreu zu projizieren. Am auffälligsten erschien ihm weiterhin der asurische Holoprojektor, mit welchen dieser irrsinnige Bookah seine Verbündeten reihenweise verraten und sie systematisch gegen seine Widersacher ausgespielt hatte. Der Gestus eines charakterlosen Egomanen, am Ende als singulärer Sieger aus der gegenwärtig tobenden Krise hervorzugehen. Das gravierende Momentum entsprach der Tatsache, dass er damit weitestgehend recht behalten könnte.
Was hätte Sooc tun sollen? Einen verzweifelten Versuch unternehmen können, über das Hauptquartier der Inquestur mit Agent Qayy Kontakt aufzunehmen, in der vagen Hoffnung, dass sich dieser des wahnsinnigen Bookah annahm? Dafür war die allgemeine Informationslage viel zu unzureichend gewesen und letztlich hätte es nur die Chancen minimiert, die Inquestur auszuräuchern. Sooc wusste nicht einmal, ob Qayy ein Pseudonym oder ein real existierende Person war. Es war ein Name, welcher angeblich selbst in den Verschlussakten kaum auftauchte, aber wenn, dann stets an unterschiedlichsten Orten. Der Magister legte die Stirn in Falten. Es gab überall nur fragmentierte Informationen, welche sich auf mannigsfaltigste Weise zu unterschiedlichen Schemata und Lösungsansätzen zusammenfügen ließen. Doch der Mangel an Informationen, Vermutungen die jenseits der wissenschaftlichen Theorienbildung vorherrschend waren, implizierten der Erfahrung nach allzu oft unerwünschte Katastrophen und Kollateralschäden. Schließlich schüttelte er den Kopf und öffnete die leicht müden Augen wieder. Der Blick fixierte sich abermals auf der technologischen Errungenschaft aus der Feder seiner Art und rief zum unbestimmten male die Erinnerungen an jenen Abend im gewürgten Flaschenhals wach. Der Magister, zwei religiöse Schreckgespenster – gewissermaßen 'Religioten', welch klangvoller Neologismus – zwei Hafenratten mit einem bemerkenswert unerträglichen Körpergeruch, eine Prinzessin und ein skritthirniges mit-Genie.
Was in dieser Nachbetrachtung anmuten mochte wie der Beginn eines Ammenmärchens oder eines schlechten Scherzes, war in Wirklichkeit ein gleichsam erschreckender, wie desillusionierender Augenblick gewesen. Ein wachrüttelnder Augenblick, nur wenige Stunden vor dem Angriff des Weißen Mantels und damit hoffnungslos verspätet. Die Strategie ihrer Widersacher war bis dato aufgegangen – die Überraschten hatten ihre gegenseitigen Eitelkeiten nicht überwinden können und teilweise gegeneinander gearbeitet, statt sich auf eine sachdienliche Kooperation einzulassen. Hätte das irgendeinen Außenstehenden verwundert? Eine Agglomeration von Rassisten, die allesamt ihre eigenen Zwecke verfolgten, doch nun, wo es die unabdingbare Notwendigkeit erforderte, zur einem multilateralen Vorgehen gezwungen waren? Nachträglich konnte man auch in diesem Falle nur von Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten sprechen oder sich auch an dieser stelle in Euphemismen flüchten. Es half nicht und veränderte nichts.
Sooc stieß der Gedanke dahingehend sehr bitter auf, da es in seinem Leben bereits die zweite Situation war, in welcher er viel zu spät zu einer determinanten Erkenntnis gelangt war. Damals hatte er eine Chance bekommen, dieses mal war es faktisch bereits seine Zweite. Es grämte ihn deshalb, weil sich manche Dinge noch immer seiner Kontrolle entzogen. Die Kontingenz konnte einfach nicht überwunden werden. Doch was hätte er denn tun sollen? Er war Wissenschaftler, dessen einziger Anspruch es gewesen war, die Ewige Alchemie zu entschlüsseln, somit über Tyria zu herrschen und die Welt – sollte es sich ergeben – vielleicht ein Stück effizienter zu machen. War das denn zu viel verlangt gewesen? Dass er einstmals ein solches Pathos durchlebte wie zum jetzigen Zeitpunkt, hatte er weder gewünscht noch erwartet.
Langsam richtete er sich im Stuhl wieder auf, wischte mit den Greifklauen beide Koteletten hinter die Ohren und legte hernach beide Hände mit gespreizten Klauen auf den Tisch. Niemand hatte sich eine solche Situation gewünscht oder sie erwartet. Doch trotz ubiquitärer Desillusion, welche rund alle Anwesenden ergriffen hatte, war dennoch niemand bereit gewesen, sich der Lage einfach zu ergeben. Die Priester des Grenth hatte sich nach anfänglicher Verärgerung und Skepsis als überraschend vernünftig und empfänglich für die vorherrschende Problematik gezeigt. Wesentlich mehr imponierte dem Magister jedoch, dass der Priester bei der Erwähnung transkranieller Magnetsimulationen nicht gefragt hatte, ob es sich dabei um etwas essbares handelte, sondern dass seine Vermutung durchaus in eine richtige Richtung ging. Für einen Bookah sehr beachtlich. Obendrein hatte er sich als Vermittler sachdienlich erwiesen, um der holden Maid in Rot Einhalt zu gebieten, die ihre vierwöchige Menstruation – kein Wunder dass ihre Rüstung von so tiefrotem Kolorit war – am Doric-See auszuleben gedachte. Was machte die Maid und ihre Kriegshetzerei eigentlich besser als die vermeintlichen Ketzer des Weißen Mantels?
Eine Frage, die sich der Magister stellte, doch nach keiner konkreten Antwort suchen musste, weil er sie bereits zu kennen glaubte. Unabhängig davon, dass sie mit der vorrangigen Angelegenheit nichts zu tun hatte. Er streckte die Hand zaghaft aus und wollte den Holoprojektor ein weiteres mal in die Hand nehmen, doch er hielt inmitten der Bewegung inne und versteinerte kurz. Schließlich schüttelte er unter den wachsamen Augen der Schreinwache nur den Kopf und zog sich zurück. Denn er wusste, den Projektor zu berühren, wäre der kausale Nexus eines neuen Vortrags gewesen, welcher die geistige Gesundheit Soocs restlos ruiniert hätte. Diese Bookah...
Ja, diese Bookah. Eine Pauschalisierung, die für den Magister in Wirklichkeit gar keine Gültigkeit zu beanspruchen vermochte. Nicht, weil er sie fälschlicherweise in ihrem kognitiven Unvermögen falsch eingeschätzt hätte. Auch nicht er sich mittlerweile für die Folgen ihrer wahllosen Selbstzerstörung interessierte. Vielmehr, weil es einige vermocht hatten, seine Einschätzungen und Ansichten zu verändern, die er einst als unerschütterlich und korrekt angesehen hätte. Man lerne nie aus, hatte das vermessene Prinzesschen gesagt. Sooc schmunzelte bitterlich auf. Ein Prinzesschen, dass er schon seit langer Zeit nicht mehr in ihr sah. Denn als es darauf angekommen war, in diesem Moment in dem gewürgten Flaschenhals, hatte sie ihr Versprechen gehalten. Sie hatte ihn nicht verraten, obwohl es ihr die beiden Religioten wohl ohne weiteres jedwede Lüge abgekauft hätten. Obwohl er dankbar war, erinnerte er der Asura an jedes Detail dieses abends nur mit einem missbilligenden Stirnrunzeln zurück. Eigentlich zweifelte er nicht eine Minute daran, dass ihren Beweggründen ein rationales Kalkül vorausgegangen war. Sie hatte spekuliert, dass Sooc lebendig eine größere Hilfe gegen den gemeinsamen Feind war, als tot. Dennoch stand er dafür in ihrer Schuld. Er hatte das Risiko begangen, ihr zu vertrauen, weil sie wüsste, wie schmerzlich sich Verrat anfühlte und weil sie wesentlich mehr war, als nur das zu beschützende Prinzesschen, dass ein jeder anderer in ihr sah. Es hatte auf die Schnelle keine Gelegenheit mehr gegeben, ihr persönlich zu danken. Und nun würde es auch keine mehr dazu geben.
Schließlich erhob sich Sooc von seinem Stuhl, stieg diesen mit einer wackeligen Klettereinlage herab und machte sich daran, diesen Raum das letzte Mal zu verlassen. Im Morgengrauen würde er aufbrechen und seinen Teil der Schlacht austragen. Eine Schlacht, in deren Gesamtbetrachtung es am Ende nur kleine und großer Verlierer geben würde. Das war die Realität, so trist und authentisch, wie sie bar einer Eudaimonie der Euphemismen eben erschien.
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