Vor ein paar Wochen …
„Im Feld gibt es auf der gegnerischen Seite keine Menschen – nur Ziele.“ – „Warum hast du mich nicht erschossen?“ – „Weil du eine menschliche Regung gezeigt hast.“
Entnervt seufzend schob sie die Akten an denen sie gerade arbeitete von sich und griff stattdessen nach der altgedienten Kaffeetasse, die sie schon seit dem ersten Tag bei den Seraphen begleitete. Ihre Mutter hatte sie handbemalt mit schönen, ländlichen Kornblumen, deren blaue Farbe langsam verblasste.
Wie lange hatte sie sie nicht gesehen?
Mit verengten Brauen dachte Marya nach und schüttelte dann nur noch entnervter den Kopf in Anbetracht der Antwort. Noch nicht einmal Briefe hatte sie nach Hause geschickt während des Feldzuges, ohne dass sie hätte sagen können warum. Aus irgendeinem Grund hatte sie die letzten zwei Jahre seit der Versetzung vom Fort Salma keinen Fuß mehr auf den heimischen Hof gesetzt, sondern sich sehr erfolgreich darum gedrückt und das obwohl sie wusste, dass auch ihre Familie von den Banditen angegriffen wurde. Obwohl sie wusste, dass es ihrem Vater nicht gut ging. Obwohl sie wusste, dass man sich so sehr wünschte sie wieder in die Arme nehmen zu können.
Marya hatte sie gelesen, die Briefe von daheim. Vor allem die von ihrer Mutter, die sie jedes Mal auf den neuesten Stand brachte und in jedem letzten Satz fragte, wann sie es denn einrichten könne zu Besuch zu kommen, man vermisse sie sehr. Am Anfang war da noch so etwas wie ein schlechtes Gewissen, das sich ab und zu zu Wort meldete, sie aber nicht nennenswert daran hinderte zu lügen, oder nur schlichte Ausreden auf Papier zu bringen. War das schon ein erstes Anzeichen des Verfalles der eigenen Moral?
‚Krieg bedeutet Veränderung‘ - und mittlerweile wusste die Seraphin deutlich, dass es nicht nur die Veränderung eines Landstriches bedeutete, sondern auch die Persönlichkeit derjenigen, die ihr letztes Hemd gaben um jene zu schützen, die selbst nicht dazu in der Lage waren. Rückblickend betrachtet hatten die letzten Kriege für sie, Marya, nur positive Seiten zur Folge gehabt: Ihre Karriere war steil, nur wenige hatten es geschafft innerhalb von knappen sechs Jahren zum Korporal aufzusteigen, sie war fleißig, gewissenhaft, mutig, loyal – und genau das wollte sie auch für andere sein. Ein strahlendes Vorbild. Aber der Preis …
Mopsi, der kleine Hund der sie nun seit einem dreiviertel Jahr begleitete, bellte leise und ließ sein Lieblingsbällchen vor ihr auf den Boden fallen. „Jaja, die Mama ist ein grandioses Vorbild. Das Beste überhaupt!“, lachend griff sie nach dem Spielzeug und ließ es ein paar Mal in ihrer Hand auf und ab hüpfen, ehe sie es in hohem Bogen durch den Raum warf. Sofort rannte der kleine Corgi auf seinen stummeligen Beinen los um es zu fangen und wie sie ihm so hinterher sah, kam die Seraphin nicht umhin sich zu fragen, ob der Hund sich auch verändert hatte.
Für Mopsi war der Krieg am Doric See der erste an dem er offiziell teilnehmen durfte, wenngleich nicht der erste Einsatz an sich. Es war dennoch nicht leicht gewesen den Antrag für die Tauglichkeit des Hundes durchzusetzen, aber wenigstens dieses eine Mal erwies sich Feldwebel Hadrick als nützlich, der zwar jedes Mal das Gesicht verzog, wenn Marya das Tier mit in den Kampf nahm, aber wenigstens ihre Ausführungen unterstützte ihn überhaupt mit in das Lager nehmen zu dürfen. Aus irgendeinem Grund schaffte dieses Fellknäul es, dem Vorgesetzten Emotionen zu entlocken, die weit über Geilheit, Missgunst, Wut, Jähzorn und innere Unzufriedenheit hinaus führten.
Sehr vorsichtig legte Mopsi das Bällchen wieder zurück in die offen hingehaltene Hand Maryas und wackelte direkt ein paar Hundeschritte nach hinten, bereit wieder loszustürmen und das Spiel fortzuführen. Jetzt in diesem Augenblick wirkte es fast so, als sei die Welt wieder in Ordnung. Als wäre Fort Salma nie gewesen. Als wäre der See nie gewesen.
„Warum hattet ihr so viele junge Menschen dabei? Sie hätten doch wissen müssen, dass sie belogen wurden?“ – „Weil sie an Veränderung glaubten, an ein besseres Leben“
Das schlimmste war das Einsammeln der Pfeile. Menschen waren Ziele, nicht besser als Zentauren oder Strohpuppen, solange sie auf Distanz blieben, solange sie nicht laut schrien, solange man sich nicht mit ihrer Sterblichkeit direkt auseinander setzen musste. Grünes Gras, rotes Blut, junge Leute – teilweise nicht älter als Marya. An einen erinnerte sie sich noch genau. Viel genauer als sie es wollte. Es war ein Bursche von vielleicht 19 Jahren, nicht sonderlich gut ernährt, dreckig. Ein Bandit. Ihr Pfeil hatte ihm eine hässliche Bauchwunde beschert, die ihn leiden ließ, aber seinen Tod noch um Stunden hinaus zögern würde. Mopsi fand ihn zuerst. Nie würde sie das Brechen der Hoffnung im Blick des Burschen vergessen, als er realisierte, dass diese bessere Zukunft für ihn und auch für die anderen niemals kommen würde. Dann trieb sie ihm ihre Klinge durch die Kehle.
Es war einer der letzten Kämpfe am Doric See seitens ihrer Kompanie.
Die Tür zum gemeinsamen Büro mit dem Feldwebel öffnete sich nach einem mehr als nur knappen anklopfen. In früheren Zeiten wäre das verheerend gewesen, vor allem wenn Hadrick mit im Raum war. Vor dem Krieg. Vor ein paar Monaten. Aber Krieg brachte Veränderung.
Rühmann schob nur den Kopf durch die halbgeöffnete Tür und grinste breit: „Marya – äääh… Korporal Lyran!“ Mopsi ließ sofort das Bällchen Bällchen sein und wackelte fröhlich bellend hinüber zu dem Kollegen, der vor allem der Rothaarigen mehr als nur einmal das Leben gerettet hatte, um ihn zu begrüßen: „Ja Hallo Mopsi! Ja soooo ein Feiner, ja wer ist ein Feiner?! Duuuu bist das!“ Manchmal, aber wirklich nur manchmal, fragte Marya sich, warum Menschen und vor allem gestandene Männer zu vollkommenen Idioten wurden, wenn sie mit dem knopfäugigen Hund sprachen. Das war fast wie mit Frauen und Babys. Unglaublich albern – aber normal.
„Gefreiter Rühmann, wenn ihr wegen dem Hund gekommen seid, dann könnt ihr das auch einfach sagen.“ – „Nein, nein.“ Er sah auf, nur um das Tier weiter zu Herzen und noch im Satz ein leises: „Ja so ein Braver.“ zu intonieren. „Der Umzug steht an und ein paar wollten ihre Sachen schon einmal rüber bringen. Ich dachte, vielleicht wollt ihr mitgehen?“ Die Frage garnierte der Gefreite mit einem offenen, gewinnenden Lächeln, als wäre der Vorschlag die Idee des Jahrtausends.
Marya öffnete den Mund um schon nahezu reflexartig eine Absage zu erteilen, wie sie es immer tat, wenn es darum ging Aktivitäten außerhalb des soldatischen Daseins mit anderen Mitgliedern der Kompanie durchzuführen, da empfand sie auf einmal einen Stich im Herzen. Der Gefreite sah sie fast so an, wie Mopsi es immer tat, wenn er bettelte. Durchschnaufend drehte sie den Kopf zur Seite, um das Elend nicht länger mit ansehen zu müssen und nickte anschließend verkniffen.
„Wenn es sein muss.“ Die Antwort erklang automatisch wesentlich garstiger als sie sie eigentlich klingen lassen wollte und innerlich schalt sie sich gleichermaßen einen Idioten. Früher hätte sie auch auf das Betteln nicht reagiert – aber Krieg veränderte. Und vielleicht war es zumindest ein bisschen an der Zeit sich endlich wirklich kameradschaftlich zu Verhalten. Vielleicht.
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