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Ein wenig Gewalt, ein wenig Information. Beides in Maßen.
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„Du musst sie noch kleiner machen, Narcis. So krieg ich sie nicht los.“
„Noch kleiner?“
„So krieg ich sie nicht los.“ Vito Libanez wischte sich mit einem völlig blutverschmierten Arm über die Stirn. Er sah aus wie ein Metzger. Gar nicht so unpassend. „Die Zeiten, in denen man menschenförmige Säcke durch die Stadt spazieren tragen kann, sind vorbei.“
„Ach, gab es diese Zeit?“
„Naja. Vor dem Mantel...vielleicht.“
Diese Nacht hatte gewonnen.
In einer Aneinanderreihung von beschissenen Tagen und Nächten schoss sie den Vogel ab.
Und dass er gerade zusammen mit Vito eine Frau in Stücke sägte, die er vor ein paar Stunden noch gar nicht gekannt hatte, war noch das kleinste Übel an der Sache. Obwohl er das nicht sagen sollte. Auch nicht denken. Er war Schuld an ihrem Tod, nicht absichtlich, aber das änderte nichts daran, dass er sie ermordet hatte, oder?
„Hey, Narcis.“ Vito winkte ihm. Verstörenderweise benutzte er dafür nicht seinen eigenen Arm. „Wir haben hier noch was zu erledigen.“
Sie war rothaarig gewesen. Ihr hatte der Name Narcis gefallen, aber seinen zweiten Namen, Sinică, hatte sie noch lieber gemocht. Ihr Haar spitzte noch unter der Decke heraus. In seiner Gegenwart war sie aufgetaut, nicht sofort, aber er hatte sich Mühe gegeben, ihr zu Selbstbewusstsein zu verhelfen. Warum hatte er ihr seinen Namen gesagt? Warum hatte er sie hierher gebracht. Ailis. So hatte sie geheißen. Oder Airin? Aine?
„Narcis. Im Ernst. Ich mach das hier nicht allein. Es ist deine Leiche.“
Warum hatte sie zugehört?
„Ich bin so ein Idiot. Ich hätte das Mädchen einfach wegschicken sollen, Vito. Ich dachte nicht, dass sie...ich hab nicht nachgedacht.“
„Ja.“ Der Löwensteiner stützte sich über die Ablage, schürzte die Lippen und zog die Mundwinkel nach unten. Dann reichte er Narcis über die Sauerei zwischen ihnen hinweg die Säge. „Das kenne ich.“
Er konnte baden, aber Schuld ließ sich nicht vom Körper waschen.
Im Rückblick war das Auftauchen seines alten Kumpels Fortune wie ein schlechtes Omen.
Schon wieder. Er gab anderen Leuten die Schuld.
Wenn er überhaupt einen Dritten belasten konnte, dann wahrscheinlich seinen Onkel Nicolae. Oder Adrian. Vendetta. Diese ganzen Arschlöcher, die ihn und seinen Bruder mit in Sachen reinzogen, von denen sie sich, das hatten sie sich geschworen, in Zukunft fernhalten hatten wollen.
Und dann Trajan, dieser verblendete Hohlkopf, mit seinen Wehwehchen.
„Trajan war bei mir“, hatte Helena zu ihm gesagt. „Er empfindet dein Verhalten als inakzeptabel.“
Wirklich, inakzeptabel war er? Dabei hatte er ihm nicht mal aufs Maul gehauen. Er hatte streng genommen gar nichts getan. Er meinte es gut mit dem Burschen und wollte ihn aus solchen Situationen heraushalten. Wollte eben diese Momente für seinen Vetter vermeiden, die er selbst gerade durchlebte, dass er sich abtrocknete und trotzdem weder trocken noch sauber wurde. Und Trajan bemängelte seine Rücksichtslosigkeit ihm gegenüber.
„Da fragt man sich doch, wer hier die Prinzessin ist. Helena oder Tutu.“
Er hatte die Säcke mit Vito zusammen entsorgt. Lynn und Alesha hielten sich immer noch Schweine.
Jetzt saßen Narcis und Vito beieinander, tranken starken Branntwein durcheinander und redeten aneinander vorbei.
„Wusstest du, dass meine Mutter in der Stadt lebt?“, fragte er Vito irgendwann. Sein eigener Blick war glasig, während der Löwensteiner wie ein Bollwerk auf seinem Stuhl saß und aussah wie immer. Ein kantiger Typ. Breites Gesicht, schmieriges Grinsen, schmieriges, öliges, schwarzes Haar. Vertrug er so viel? Oder...hatte er überhaupt getrunken?
„Anya? Klar. Wusste ich. Du nicht?“
„Banel hat's mir gesagt. Neulich.“
„Was ist da zwischen euch und eurer Mutter vorgefallen?“
Narcis stand auf, der Stuhl schrammte laut. Fast wäre er umgefallen. Der Stuhl. Und Narcis. Er hielt sich am Tisch fest. Wartete, bis der Schwindel vorbei war.
„Nichts“, nuschelte er und griff nach der Flasche. Wie viel daraus hatte er getrunken und wie viel Vito?
Ihm ging da eine Kleinigkeit nicht aus dem Kopf. Er versuchte, sie mit Kartoffelschnaps zu bekämpfen, aber diese Kleinigkeit wich seinen Angriffen aus. Unmöglich. Es wollte ihm nicht in seinen Schädel, wie sowas passieren konnte, und gleichzeitig bekam er es nicht heraus.
Er hatte Banel davon erzählt, dass sie die Witwe Lotti retten mussten. Ihr Vetter Adrian hatte sie entführt und sie mussten sie wiederbeschaffen. Für das ehemalige Brick-Haus, oder eher, weil Lottis Sohn ihnen ein ganz besonderes Geheimnis versprochen hatte, wenn sie die alte Dame heil zurückbrachten. Wenn nicht...Vendetta wusste über die Familie Bescheid. Gleichzeitig wusste die Familie über Vendetta nur sehr wenig.
Aber erst durch das Gespräch mit seinem Bruder war Narcis aufgegangen, in was sie hineingeraten waren.
Irgendeine Ileana war bei Banel gewesen. Sie hatte behauptet, Adrians Tochter zu sein. Gleichzeitig hinterging sie Adya mit ihrem Besuch in Götterfels, denn angeblich war sie ohne sein Wissen gekommen, in Nicolae Iorgas Auftrag. Die Begebenheiten waren diffus und vertrauensunwürdig, Nicolaes Forderung hingegen war ganz klar.
Banel sollte die alte Dame erlösen. Er musste.
Seit Banu aus dem Knast entlassen worden war, machte er nur Ärger. Er hatte einen Plan, sein Leben wieder in den Griff zu bekommen. Aber dafür brauchte er Nicolaes Einverständnis. Und dieses Einverständnis, dieses verfickte, schwachsinnige Detail, hing von einer Sache ab.
Er musste.
Allerdings bedeutete das: Helena verraten. Adrian ans Bein pissen. Vendetta aufwiegeln.
„Ich bin so oder so in Zugzwang“, hatte Banel gesagt. Denn wenn ich das nicht mache, beweist das nicht nur, dass ich nicht vertrauenswürdig bin, meine Idee nicht ernst nehme und – im zweiteren Falle – 'ne Bedrohung bin, weil ich jetzt schon mehr weiß als ihr. Ihr, welche die Alte retten wollt. Er hat mich jetzt so oder so schon in der Hand, das macht also keinen Unterschied mehr. Also muss ich nachdenken, welche Möglichkeiten bestehen.“
Narcis hatte nicht denken können. Er hatte sich gegen das Bein geschlagen, die Zähne aufeinander gebissen, sein Messer in den Tisch gebohrt. Es gab keine Lösung.
„Du kannst es durchziehen“, hatte er geantwortet. „Ich sag dir gleich: Ich bin dagegen. Sobald du irgendwas tust, was Nicolae nicht gefällt, hat er dich in der Hand. Es kann sein, dass es ihm reicht und dass er sich an sein Wort hält. Aber wie sehr ist ihm zu vertrauen?“
Ihm war überhaupt nicht zu vertrauen. Und das wussten sie beide.
„Aber wenn du es Helena sagst...“ Leider wusste Narcis, dass die Alternative nicht besser war. „Wird sie es dir verbieten. Wenn du es dann trotzdem machst, hast du sie gegen dich. Wenn du es ihr sagst und Lotti freilässt, ist Nicolae angepisst. Weißt du was?“ Er hatte gegen einen nahen Stuhl gekickt, sodass der gegen die Wand gekracht war. „Scheiß auf den Wichser und mach einfach, was du tun willst. Soll er kommen. Ich mach ihn kalt. Ihn und seine Kohorten. Er hat uns von Anfang an nur verarscht.“
„Narcis.“ Banels Stimme war beschwichtigend geworden, sein Blick bestimmend. Er hatte versucht, ihm den Wind aus den Segeln zu nehmen. Mit schlechtem Erfolg. Im Endeffekt hatte Banel wahrscheinlich nur das Segel zerrissen. Zu Anfang ihrer Unterhaltung hatte für Narcis festgestanden, dass er Banel die Sache ausreden würde. Er würde nicht Helena hintergehen. Er würde nicht, nur damit sein Bruder seinen sowieso fragwürdigen Plan umsetzen konnte, riskieren, am Ende ALLE gegen sich zu haben. Doch im Endeffekt hatte er gesagt:
„Ich dreh jeden auf links, der dir quer kommt.“
Und damit war die Sache entschieden gewesen.
Dann war ihm aufgefallen, dass eine Tür im Flur offenstand. Nur einen Spalt. Es war die Tür, hinter der Ailis...Airin...Aine...auf ihn warten hatte sollen. Als er mit ihr angekommen war, hatten sie Banel in der Küche vorgefunden. In elendigen Gedanken versunken. Sie hätte einfach nur warten sollen. Aber sie hatte zugehört.
„Hey...Vito. Ich denke ich geh ins Bett.“
„Dein Zimmer muss erst noch geputzt werden. So wie es da jetzt ausschaut, würd ich da drin nicht schlafen.“
„Ah ja, richtig. Danke.“ Ein paar Momente sank Narcis über dem Tisch ein, als wäre er eingeschlafen. Dann zog er sich in die Höhe und schlurfte aus dem Anwesen. Er konnte nicht mal mit seinem alten Kumpel Fortune darüber sprechen.
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