Narcis sah auf, als Helena das Wohnzimmer betrat.
Sie hatte sich eine weißgoldene Klammer ins Haar gesteckt, aber die meisten Locken brachen wie ein Wasserfall daraus hervor.
„Gut, dass du da bist. 30 Gold. Warum, Narcis? Warum nur 30?“
Ihr Rock war bauschig, mit Gaze unterlegt und deshalb etwas steif. Sie ging im Zimmer umher wie eine Puppe, die vor lauter Langeweile zum Leben erwacht war.
„Nur 30? Hörst du dich sprechen, Helena? Das ist mehr als ich je besitzen werde.“
„Ja, aber es geht nicht um dich. Antworte vernünftig.“
Der junge Mann hatte vor kurzem eine Statue aus fossilem Holz verkauft. Ein reicher Adeliger war ins Pfandhaus gekommen, in Begleitung seines Vetters Levi, und hatte ohne Umstände die unanständige Summe gezahlt, um einen Baum ohne Blätter mitzunehmen, der dazu auch noch aus Stein war. Er empfand Unverständnis darüber, dass Helena trotz allem nicht zufrieden war, aber es stand ihm nicht ins Gesicht geschrieben. Er hatte es erwartet.
„Der bekannte Wert lag bei mindestens 30 Gold“, sagte sie und schlich um ihn und den Tisch, an dem er saß, herum. Seine Augen folgten ihr nicht. Er blickte in seinen Kelch. „Du sagst, er hat sofort bezahlt. Du hättest wahrscheinlich gut 40 oder mehr verlangen können.“
„40 Goldstücke für einen alten Stein, um den ein paar Geschichten kursieren! Komm schon! Er wollte ihn haben. 30 sind mehr als genug. Du hast gerade mal die Hälfte bezahlt.“
„Das ändert nichts, es hätte das Geschäft höchstens noch besser machen können. Interessiert es dich überhaupt, das Geschäft? Oder bist du nur an Mädchen interessiert? Wer war die Frau, die neulich am Frühstückstisch saß?“
Narcis blickte auf. Helena war einmal um die Tafel geschritten und stand jetzt wieder vor ihm. Er betrachtete die kleinen Spitzenverzierungen an ihren Trompetenärmeln, bis sie „Hallo?“, hauchte und sein Kinn so griff, dass er keine Wahl hatte, als ihr ins Gesicht zu sehen.
„Eine Freundin. Sie hat im Gästezimmer geschlafen.“
„Im Gästezimmer?“ Sie rückte heran, küsste seine Wange und trat dann gleich zwei große Schritte auf einmal zurück. Irgendein Gespenst von Heiterkeit war in sie gefahren. „Narcis. Magst du Männer?“
„Helena, magst du Männer? Ein wenig zu gern vielleicht?“
Das nächste, was er spürte, war ihre kalte Hand in seinem Gesicht. Sein Wange schallte noch von der Ohrfeige, als die junge Frau, nachdem sie ihn eine Sekunde trotzig angestarrt hatte, seinen Weinkelch an sich nahm und ihm mit einem Ruck ins Gesicht schüttete. Dann gab es wieder eine Pause, in der sie ihn anstarrte.
„Entschuldige.“ Ihr Kleid fächerte sich auf, als sie vor ihm niedersank und seine Hand griff.
Erst rügte sie ihn, dann küsste sie ihn, dann schlug sie ihn und jetzt bat sie um Verzeihung. Und er wunderte sich noch nicht einmal über die Eigenarten seiner Verwandten, seitdem er sie einige Wochen aus der Beobachtung erlebt hatte. Nie wusste sie, was sie wollte. Nie, wie sie fühlte. Stets wollte sie alles auf einmal, verworr sich in Widersprüchen, zog alles an und konnte doch nichts bei sich behalten, weil sie selbst zu schnell die Position wechselte. Was versuchte, sie an einer Stelle zu halten, danach schlug sie. Sie mochte sich danach entschuldigen, doch der Schlag war geschehen.
In seinem Fall tat Narcis es mit einem müden Lächeln ab.
„Bier soll gut fürs Haar sein“, sagte er. „Nicht Wein. Und um deine Frage zu beantworten, wenn sie ernst gemeint war-“
„Aber du kannst auch nicht alles zu mir sagen!“ Plötzlich war sie wieder hochgefahren. Im Nachhinein fiel Narcis Helenas Talent auf, selbst ihre Entschuldigungen wie einen Vorwurf auszusprechen.
„Es gibt bei dir immer für alles einen Verantwortlichen, nicht wahr? Nur bist es nie du.“
„Ich hätte 60 Gold rausgeschlagen. Mehr!“
„Und dann? Wofür brauchst du es, Helena? Du hast jetzt schon mehr als du ausgibst. Deine Werte und Prioritäten sind wie ein Puzzle, bei dem kein Teil zum anderen passt.“
„Mach dich nicht lächerlich. Ich habe gute Werte.“
Narcis wusste, dass ihn die Angelegenheit nichts anging. Aber die Regel, nicht in fremder Leute Intimsphäre zu wühlen, galt für ihn genauso wenig wie jede andere Regel. Er öffnete den Mund, um zu sprechen, doch Helena kam ihm zuvor.
„Ich habe wohl den ein oder anderen Fehler. Aber ich brauche mich nicht wie das Opfer aufzuspielen und glauben, ich wäre Schuld an jedermanns Elend. Das machen nur die Pathetischen. Davon gibt es in der Stadt wahrlich genug.“
Sie zeigte ihm die kalte Schulter, wortwörtlich, denn sie und ihr wallendes Kleid wandten sich dem Flur zu. Aus einer Laune heraus beschloss er, sie ein wenig zu reizen.
„Und dein Baron ist selbst an seinem Elend schuld, was? Was langweilt er dich auch mit seiner Aufrichtigkeit. Du bräuchtest einmal einen ganz üblen Mann. Das könnte deinen Horizont erweitern.“
Dass er eine Grenze übertreten hatte, merkte er daran, dass Helena innehielt, klirrend vor Frostigkeit auf dem Fleck verharrte und dann herumschoss wie ein Blitz.
„Ich bin schon mein gesamtes Leben von sehr üblen Männern umgeben, Narcis. Und wenn ich keine Frau wäre, dann wär ich selbst ein übler Mann. Aber für dich und deinen Bruder bringe ich mich in die größte Gefahr. Und wenn du wieder so über mich sprichst!“ Sie griff an ihren Kopf, riss den Kamm heraus und auch die aufgesteckten Haare stürzten entlang ihres Gesichtes herab. Zu seinem Verblüffen vergrub sie den Kamm in seinem Haar. „Mache ich dich zu einem Mädchen. Du wärst erstaunt zu sehen, wie das Leben ist, wenn man nicht den Vorteil hat, ein Mann zu sein.“
„Ein bisschen verbittert, oder?“, fragte er sanft, wobei er ihr unerwünschtes Geschenk von seinem Kopf zog. Er überreichte es ihr wieder. „Und doch kein Opfer? Ich höre da einen gewissen Klang.“
Sie nahm den Kamm schwungvoll, posierte vor ihm und malte damit etwas in die Luft. Es war unerkennbar, was es gewesen war.
„Was habe ich gemalt?“, fragte sie kurz darauf.
Narcis fragte sich, ob er sich ihren warnenden Ton wenige Momente vorher eingebildet hatte. Ob es nur ihre kindliche Ader zum Eigensinn gewesen war, denn jetzt war sie wieder quietschfidel mit ihrem Puppenkleid und ihrem unordentlichen Haar.
„Ich habe keine Ahnung“, stellte er fest.
„Das war ich, Narcis. Wie ich vor dir stehe und dir einen Finger zeige. Diesen hier.“
Stolz zeigte sie ihm ihren Mittelfinger.
„Als ich herkam“, erwiderte er und goss sich Wein nach. „Habe ich gedacht, es würde einfach mit dir werden. Ich dachte, man müsse dir nur schmeicheln. Aber man weiß nie, wann bei dir Mondfinsternis ist.“
„Was soll das denn heißen? Was redest du für einen Blödsinn. Bei dir ist, glaube ich, Gehirnfinsternis.“
Er lachte träge.
„Jaja. Das meine ich. Mal willst du Nettigkeiten. Mal Garstigkeiten. Von mir bekommst du das, was du verdienst, in Ordnung?“
„Jedermanns Liebe und Anbetung!“
Einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, seinen Kelch in ihr Gesicht zu leeren.
Aber er hielt seinem Wort nicht stand. Weder sein Bruder Banel, der Grenzen noch viel weniger achtete, noch er selbst hatten tatsächlich das Recht, sie stets so zu behandeln, wie sie es verdient hatte.
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