Es rasselte schwer, als die Gittertüre sich öffnete und der Mann schreckte ein wenig hoch. Nicht, weil er sich tatsächlich erschrocken hätte, sondern weil man es eben so tat, wenn man jäh aufgeweckt wurde.
Er hatte geschlafen oder zumindest gedöst. Was war ihm auch anderes übrig geblieben? Es gab eben nicht viel zu tun in diesem miefigen Raum, umgeben von Leuten, die einander kaum wohlgesonnen waren. Noch dazu war sein eines Auge beinahe völlig zugeschwollen, warum nicht das Zweite einfach auch zumachen. Einfach ein wenig dösen. Er hatte sich dazu den strategisch günstigsten Ort ausgesucht: Vorne an den Gitterstangen, an denen es zwar zugig wie Hölle war und dabei trotzdem nach altem Urin stank, wo aber sein Rücken nach draußen zu den Wachhabenden gewandt war. Es war deren Job, darauf zu achten, dass sich zumindest in ihrer Sichtweite die Insassen nicht gegenseitig abmurksten.
Glücklicherweise war das hier ohnehin nicht die größte Gefahr. Das hier war das Westliche Marktviertel, nicht das Östliche und, Sechs bewahre, auch nicht Löwenstein. Hier hatte es nur wenig richtigen Abschaum. Der Großteil seiner Zellenmitinsassen waren unglücklich erwischte Trunkenbolde und der ein oder andere Ehefrauenschläger oder Einbrecher. Keine schweren Jungs. Für einen Gefängnisaufenthalt im Prinzip reiner Luxus.
"Valentine." forderte eine Stimme aus dem Halbdunkel und Harry erhob sich ächzend.
Das wurde aber verdammt nochmal Zeit.
"Ich komm' schon, ich komm' schon." murrte er. Im Abgang entbot er den Zellenkameraden ein schiefes, entschuldigendes Grinsen. Winkte lasch, ganz der reuige Sünder, der auch nicht wusste, warum sie eigentlich alle hier gelandet waren, der seinen Teil der Schuld aber mit Scham trug. "Bis bald, eh?" Pack schlug sich, Pack vertrug sich und eines Tages würden sie alle wieder gemeinsam am Tresen hocken, dem großen Gleichmacher vor den Sechsen.
"Komm' ich jetz' vor'n Gericht?" witzelte er halbgrantig, als Harry dem Seraphen folgte, der ihn gerade aus der Zelle geholt hatte. Dass er für die Beteiligung an einer Massenkeilerei durchaus zu irgendetwas zwischen Geldstrafe oder einer kurzen Erholungspause hinter Eisen verdonnert werden könnte, das war ihm wohl bewusst. Dass die Strafe sich ungleich erhöhte, erführe jemand, dass er selbst der ursächliche Grund und Brandbeschleuniger jener Rauferei gewesen war, war Harry genau so klar.
Es war ihm nur schlicht und ergreifend komplett gleichgültig gewesen.
Harry Valentine hatte sich prügeln wollen und wenn er dafür ein wenig in den Bau gewandert wäre, fein. Auch recht. Es war ihm dringlich danach gewesen, Zähne und Blut fliegen zu sehen, Leute aufeinander losgehen zu lassen, Holz splittern zu hören und ganz generell die Scheiße aus sich und allen Umstehenden herauszuprügeln.
Sie hatte ihn verletzt. Es erstaunte Harry noch immer auf eine fahrlässig überdimensionierte Weise, dass sie das überhaupt vermochte. Mittlerweile hatte er sich ja wieder anständig eingekriegt, doch gestern hatte ihn das schon arg aus der Bahn gekegelt. Als er sie verließ, war ihm klar, dass er nun genau zwei Möglichkeiten hatte und die Uhr ganz nötig tickte, sich für eine davon zu entscheiden: Entweder einen arglosen Passanten dafür büßen lassen - oder aber einen guten Ort für eine Keilerei finden, ein metaphysisches Streichholz werfen und sich dann einfach über die explodierende Scheiße treiben zu lassen. So eine zünftige Schlägerei war nicht die schlechteste Methode, mit überfordernden Emotionslagen umzugehen. Vor allem nicht dann, wenn man keine anderen gelernt hatte.
"Nah. Lass dich vielleicht so bald nicht mehr im Stiefel blicken. Ansonsten hab' ich deinen Namen abgeputzt." Der Seraph schmunzelte Harry zu und drückte ihm ein dickes, in Wachspapier gewickeltes Steak in die Hand. "Ich hab...hehehe...ich hab' einfach behauptet, 's käm' von allerhöchster Stelle. Die Kommandantin steht auf den Klatsch über dich. He. Verrat's mir. Is' es wirklich...du weißt schon..." Der Seraph senkte die Stimme zu einem gaaanz leisen Flüstern. "...wenichmeinIhreMajestätundso?"
Wer ist es.
Sag es mir nicht. Es ist mir egal.
Du bist ein Schwein.
Harry Valentine brauchte eine ganze Menge Selbstbeherrschung, um dem guten Seraphen, der ihn gerade aus der Scheiße holte, nicht die Fresse auf Links zu polieren. Stattdessen wickelte er bedacht das Steak aus und drückte das rohe, kalte Fleisch auf sein eigenes geschwollenes Auge. Der schöne Mund grinste einnehmend.
"Der Genießer schweigt, Mann. Der Genießer schweigt. Danke, Alter."
Man schlug jovial ein und verabschiedete sich. Harry wurde durch die Nebentüre der Wache hinaus in den grauen Morgen entlassen. Als er in den neuen Tag spazierte, kaltes Rind im Gesicht und Unrast im Gemüt, da merkte er, dass die Blätter langsam ihre Farbe verloren.
Ausgerechnet.
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