Rot

Rot



Risse im etwas vergilbten Putz der Decke. Alexander sah sie über sich. Es waren vier, fünf, wenn man die eine kleine Unterbrechung mitzählte, die sich bald ebenfalls geschlossen haben würde. Ein Gebäude stand niemals so still, wie es wirkte. Es arbeitete, stöhnte und knarzte darüber in der Nacht und fing doch jeden Tag erneut damit an, sobald die Sonne es erwärmte. Vier haarfeine Risse im Putz. Und fünf warme Finger, die sich über seine nackte Brust schoben.
„Du wirkst schon wieder so in dich gekehrt.“
Rote Locken streiften die Haut seiner Schulter, als der dazugehörige Kopf sich bewegte. Es war kein echtes Rot, sondern gefärbt, vermutlich aus dem Wunsch heraus, damit all die Assoziationen heraufzubeschwören, die man allgemein hin mit rotem Haar verband. Eine Signalfarbe, die das Auge fing, noch bevor man den Rest der Erscheinung betrachtet hatte. Rote Locken konnten ihren Träger wilder wirken lassen, auf basale Art besessener, hier aber waren sie nur billig. Die Farbe zog sich am Ansatz bereits heraus und die gesplitteten, trockenen Enden zeugten von zu viel Gebrauch der Brennschere. Also waren nicht einmal die Locken echt. Alexander fühlte ein leises Lachen in seiner Brust aufsteigen.
„Woran denkst du gerade?“
Nicht, dass es die Frau tatsächlich interessiert hätte. Sie gurrte diese Frage nur, weil es von ihr erwartet wurde, Interesse zu heucheln, das man ihr früher oder später mit kleinen oder größeren Geschenken vergalt. Diese Wohnung mit der rissigen Decke war ein solches Geschenk.
Maria Valentino Di Rosso hieß mit bürgerlichem Namen Margarete Schreiber und lebte von ihren Gönnern, zu denen in jüngeren Jahren auch Alexander gehört hatte. Vor allem deshalb, weil er das Talent der Opernsängerin bewunderte. Nachlassende Stimmgewalt und noch einige andere kleine Zeichen legten aber den Schluss nahe, dass die Diva ihren Zenit überschritten hatte und bald schon Jüngeren würde weichen müssen. Alexander hatte sie auf Anfang vierzig geschätzt, doch jetzt sah er sich gezwungen, diese Zahl etwas nach oben zu korrigieren.
„Lass mich dich wieder in Stimmung bringen.“
Eine Hand schob sich über seine Bauchdecke entschlossen nach unten, doch er setzte sich so abrupt auf, dass sie von ihm herunter glitt. Er konnte an ihrer Stimme hören, dass sie effektvoll schmollte. Effektvoll für eine Zwanzigjährige.
„Du willst schon wieder gehen, mi amore?“
Sogar das R rollte sie nicht mehr so gekonnt wie früher. Ein verblassendes Trugbild, alles an ihr.
„Ich muss. Die Arbeit.“
„In der Nacht?“
„Ich bin Arzt, Maria.“
Sie schnalzte mit der Zunge und warf im Aufsetzen ihre Lockenpracht über die Schulter. Ihr Blick brannte sich in Alexanders Rücken.
„Du liebst mich nicht!“, klagte sie ihn dramatisch an und Alexander unterdrückte ein ungeduldiges Aufstöhnen. Das lief ganz und gar nicht so, wie er sich das vorgestellt hatte, als er herkam.
„Natürlich liebe ich dich nicht, Maria.“, sagte er deshalb in aller ihm eigenen Ruhe und wandte sich ihr dafür sogar noch einmal zu, anstatt nach seiner Hose zu greifen. Es war ein Fehler, wie sich heraus stellen sollte, denn nun hatte er sie wütend gemacht.
Unter ihrem verwischten Puder lief die Frau rot an und zog sich damit einen Moment Alexanders Faszination zu, denn eine solche Gesichtsfarbe war wirklich beeindruckend und ließ ihn überdies auf ein Blutdruckproblem schließen. Vielleicht deshalb bemerkte er die heran fliegende Hand zu spät, die schallend seine Wange traf und dort einen Abdruck hinterließ, ebenfalls rot. Die Frau hatte eine Kraft, als hätte sie ihr Leben lang Baumstämme gewuchtet und nicht Koloraturen gemeistert.
„Wie kannst du so etwas herzloses nur sagen! Du weißt doch, wie sehr ich mich nach dir verzehre! Ich leide, Alexander, Jahre schon!“ Sie war aufgesprungen, das Laken um sich gewickelt wie eine Toga und ihr tiefes, zittriges Luftholen kündigte einen weiteren dramatischen Monolog an. Das Temperament hatte sie dem falschen Haar angepasst.
„Maria...“, versuchte er noch Schlimmeres zu verhindern, während er seine brennende Wange rieb, doch sie hatte sich bereits in ihrer Selbstinszenierung verloren.
„Ich hatte gedacht, du wärst anders. Ich hatte gedacht, dir ginge es wirklich um mich, als du heute nach so langer Zeit vor meiner Türe gestanden hast. Du bist ein Monster, Alexander!“
Er hatte es in der Zeit immerhin in seine Hose geschafft und unterdrückte nur mit Mühe ein tiefes Luftholen. Stattdessen versuchte er es mit einem versöhnlichen Lächeln und musste sich im nächsten Moment unter einer ziemlich präzise geworfenen Tasse hinweg ducken, die hinter ihm an der Türe zerschellte.
„Also Madame!“, stieß er halb erschrocken, halb im Tadel aus. „Jetzt fassen Sie sich doch.“
Er bekam sein Hemd und die Schuhe in die Finger, nach denen er hastig griff, bevor Marias Frühstücksbrettchen schmerzhaft gegen seine Schulter prallte.
„Ich soll mich fassen? Ich soll mich fassen?!“
Dass es aber auch nirgends Aufzeichnungen darüber gab, wie man eine rasende Dame beruhigte. Ihr Griff nach dem nächsten Wurfgeschoss veranlasste Alexander zur Strenge, mit der sein ältester Bruder stets die tobenden kleinen Schwestern zur Räson brachte. Vielleicht zeigte das ja Wirkung, denn er hatte nicht einmal die untersten Knöpfe des Hemdes schließen können und halbnackt durch das nächtliche Götterfels zu flüchten erschien ihm mehr als unrühmlich.
Er hatte jedoch kaum den Mund geöffnet, da warf sie bereits ihren, den Göttern sei Dank leeren, Nachttopf nach ihm und er sah sich doch zu einem mehr oder minder geordneten Rückzug gezwungen. In einer Hand noch Schuhe, Socken und Jackett, griff er mit der anderen hastig nach der Klinke und riss die Türe auf. Genau in diesem Moment fand sie zu alter Stimmgewalt zurück und schrie tragend, damit es auch das ganze Haus hörte: „Ich will dich nie wieder sehen, Alexander Beaufort! Nie wieder!!“
Der Nachttopf zerschellte zu seinen Füßen, die ihn hinaus in den Flur und raschen Schrittes die Treppe hinab führten, denn erste Türen wurden bereits geöffnet, bevor er es in die sichere Dunkelheit der Nacht geschafft hatte. Er blieb auch noch weitere fünfzig Meter nicht stehen und erst im Halbschatten eines leeren Karrens lehnte er sich schwer atmend gegen die kalte Wand. Er sah die Welt verschwommen und begriff, dass er seine letzte Brille bei seiner Flucht hatte zurücklassen müssen. Ursprünglich hatte er bei seiner Anreise in Götterfels zwei besessen und beide nun durch wütende Damen eingebüßt.

Ihr solltet das nicht tun, Dok.
Dieser Satz, völlig aus dem eigentlichen Kontext gerissen, klang ihm nun wieder im Ohr und brannte in seiner Brust beinahe so unangenehm, wie die rot gefärbte Wange. Aber er betitelte so treffend den ganzen heutigen Abend, dass Alexander nicht anders konnte, als herzhaft und laut aufzulachen.
„Ich weiß.“, erzählte er der Dunkelheit. „Ich weiß es ja.“, seufzte er und dann ging er barfuß nach Hause.

Kommentare 21

  • Ich weiß, er war nicht nackt. Aber irgendwie stelle ich ihn mir mit wehender Nudel auf der Flucht vor :D

    • Ich geb dir gleich ne wehende Nudel! XD

    • Ist wirklich toll geschrieben! Ich hatte die ganze Zeit so ein dickes Dauergrinsen im Gesicht und musste so oft lachen. Die Frau macht ihn halt völlig fertig, und der arme Doktor kann nichts dagegen tun. Einfach schön. :D

    • Oh, dankeschön! <3 Dann hab ich erreicht, was ich wollte.

  • [Drama intensifies]


    Ich mag den klaffenden Kontrast zwischen Geburtsname und Pseudonym... x)

  • Gniiiii, mehr!! *schwelg* <3

  • Ich kenne keine Opernsängerin, aber Alexanders Abgang fand ich einfach... hahaha, so gut! Wie er vor der Furie in die Nacht flüchtet. Männlich selbstsicher, maskulin und würdevoll. Sauber. 8)

  • DU LIEBST MICH NICHT!!!!



    Thahaha...die Tasse habe ich gefeiert. Das Ganze eigentlich. Schön! Es ist so ein abartig riesiges Klischee, darinnen aber so gut gemacht, dass es großartig ist :D