Es war dunkel im Zimmer und viel zu spät in der Nacht um wach zu liegen, doch die rythmischen, langsamen Atemzüge Alexejs genügten nicht um Lynn langsam in den Schlaf zu wiegen. Auf dem Rücken lag sie, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und starrte an die Zimmerdecke, die in der Dunkelheit nicht mehr war als eine graue Fläche, die in unbestimmter, aber nicht allzuweiter Ferne über ihr schwebte. Sie bot wenig Ablenkung für Lynn's Gedanken, doch selbst, wenn dort dergleichen zu finden gewesen wäre, kaum etwas hätte es vermocht, sie von dem fortzuziehen, was sie gerade soviel mehr beschäftigte.
Lynn hielt sich selbst eigentlich nicht für naiv. Sie tat es nicht, weil sie von Grund auf ein mistrauischer Mensch war, der Verrat und Egoismus zu den natürlichen Charaktereigenschaften absolut Aller erzählte. Sie hielt sich auch deswegen nicht für naiv, weil sie zumeißt, genau genommen ungesund oft, Situationen, Begebenheiten, Beziehungen, sogar Personen aus einer distanzierten und wenig emotionalen Position heraus bewerten konnte, die es ihr erlaubte besonnen und berechnend vorzugehen. Vor allem aber hielt sie sich nicht für naiv, weil sie aus genau diesem Grund mit Sicherheit wusste, dass sie naiv war, wenn es um ihre Familie ging.
Sie war naiv, weil sie sie liebte. Jeden einzelnen davon. Sie war naiv, weil sie naiv sein wollte, weil sie es sich leisten können wollte im Kreis ihrer Familie nicht ständig über die Schulter zu blicken um nach Tücke oder einer Hinterlist zu suchen. Und sie war naiv, weil sie bedürftig war. Bedürftig wie wohl jede Waise, die sich nach einem 'Zu Hause' sehnte
Nun also lag sie in diesem Bett und musste einsehen, dass es auch naiv gewesen war zu glauben, sie könne es einfach allen recht machen und sich nicht in die komplizierten, internen Verwicklungen ziehen zu lassen. Nur nicht zwischen die Stühle geraten, ein kluger Leitspruch. Klug, aber leider nicht realisierbar.
Das Bild von Helena zwang sich ihr auf. Helena, der man niemals nah und fern genug gleichermaßen sein konnte. "Ich weiß nicht sicher, wem ihre Loyalität gehört, Lynn. Ich kann mir ihrer nicht sicher sein. Du darfst mit niemandem darüber sprechen, hast du mich verstanden?" Natürlich hatte sie verstanden. Und natürlich würde sie schweigen.
Narcis' schönes, betroffenes Gesicht, nur wenige Tage später, als er geglaubt hatte neben einem Mädchen zu sitzen, dass er selbst vor Jahren einmal seiner Heimat beraubt und verkauft hatte. Er hatte nichts gesagt. Aber selbstverständlich würde Lynn die Zeit finden, sich dieses Mädchen aus der Nähe anzusehen um herauszufinden, ob seine Befürchtungen sich bewahrheiteten.
Trajan, von dem sie fand, dass er viel zu oft für seine Bemühungen nicht wertgeschätzt wurde. Er mochte jemandes verzogenes Söhnchen und dadurch vielleicht nicht gewohnt sein kräftig zuzupacken. Aber das Familiengeschäft brauchte auch Köpfchen. Strategen. Ihn zu unterschätzen und zu vergrätzen würde sich früher oder später als nachteilig, vielleicht sogar als gefährlich, erweisen. Nein, Trajan bedurfte Aufmerksamkeit. Lynn hatte ein ums andere Mal darüber nachgegrübelt, wie sie es schaffen könnte ihn näher zu holen. Aber sie war nicht gut in diesen Dingen. Umso mehr hatte sein Brief sie überrascht. "Doch erachte ich es als wichtig dich - und neben Helena alleine dich - in diese Information einzuweihen."
Dafür, dass Banel sich dem Anschein nach von all diesen Heimlichkeiten fern hielt, war sie ehrlich dankbar. Banel, dem man ins Gesicht sagen konnte, wenn er ein Arschloch war. Dem man ins Gesicht sagen konnte, wenn er Scheiße gebaut hatte, ebenso, dass man ihn schätzte. Und der selbst nicht zögerte, Gleiches mit Gleichem zu vergelten, auch wenn seine Urteile sich in fliegenden Stühlen äußern konnten. Zumindest war er ehrlich.
Sie musste auch an Claire und Victor denken. Nein, um die musste sich jemand anderes kümmern. Und wenn man es genau nahm kümmerten sie sich eigentlich auch sehr gut um sich selbst. Zwei Kinder waren es jetzt also. Nein! Das schob sie von sich fort. "Dunkles krauses Haar, ein breiter Mund. Elonisch vermutlich. Halt die Augen offen." Natürlich würde sie die Augen offen halten. Und das wusste er.
"Es ist nichts." hatte Helena erst an diesem Abend gesagt. "Ich habe auch ein persönliches Leben. Und ich muss morgen noch einmal fort. Kümmere dich ruhig erstmal weiter..." Die Aufforderung war an einen bestimmten Aufgabenbereich geknüpft. Aber ja. Ja, Lynn würde sich kümmern. Darum. Und um alles weitere, das andere, oder sie sich selbst, ihr nahe legten. Helena hatte keinen guten Eindruck gemacht. Wie so oft hatte Lynn keinen Schimmer, was in der Iorga vorging, aber nicht zuletzt das hatte sie bewogen Trajan darum zu ersuchen, Helena in die neusten Erkenntnisse ersteinmal nicht einzuweihen. Erkenntnisse, die sie vielleicht voreilig wieder zu Nicolae führen würden.
Und zu Adrian, der ihr gerade erst diesen lächerlich oppulenten Strauß hatte zukommen lassen. Ein kleines Meer aus Lilien und Narzissen mit einem einzelnenVeilchen darin. Veilchen, weil Lynn sie vorschnell als ihre Lieblingsblumen betitelt hatte. Sie hatte sein sinnendes Lächeln erst begriffen, als sie diesen Strauß in den Händen hielt und halb betroffen, halb belustigt feststellen musste, was für ein Sinnbild der Löwensteiner aus dieser Auskunft gemacht hatte.
"Halte Helena davon ab, Dummheiten gegen Löwenstein zu planen. Denn dort gibt es nicht nur Nicolae. Und ich werde die Meinen mit allen Mitteln beschützen."
"Natürlich Adrian. Nichts leichter als das." flüsterte sie jetzt leise und zog sich das Kissen über den Kopf, weil ihr in der aufkommenden Hilflosigkeit nichts anderes mehr einfiel als zu lachen.
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