Kleine Flügel I

Mit hängenden Schultern betrachtete das Mädchen die Schuhspitzen ihrer hellbraunen Wildlederstiefel, die jedes Mal, wenn sie ihre Beine nach vorn baumeln ließ unter den bauschigen Rüschen ihrer Unterröcke hervorlugten. Unter ihr plätscherte stetig das Wasser des Delavan-Sees gegen die Holzbohlen des Steges auf dem sie saß. Links neben ihr war ein kleines Ruderboot festgemacht, das hin und wieder dumpf gegen den Steg rumpelte und damit die Geräuschkulisse ihrer trüben Umgebung komplettierte. Der Himmel hatte sich schon seit Tagen nichtmehr richtig aufgeklart und die Wolken hingen erdrückend schwer und tief über der Landschaft. Die feucht-kalte Brise spielte mit den feinen kupferblonden Locken, als Lynn nun das Näschen hob und versuchte durch das Grau der Wolken die fernen Umrisse der Götterstadt auszumachen. An klaren Tagen war das möglich. Tage, an denen ihr der Anblick der fernen Stadt Trost spendete, wenn Lis nicht hier war, sondern dort. Heute nicht. Schon wieder nicht. Das Mädchen zog schniefend die Nase hoch.
SechzehnTage waren es jetzt. Sie hatte das genau mitgezählt. Sechzehn Tage,in denen sich weder Lis, noch Alesha hatten blicken lassen. Sechzehn Tage, in denen sie sich zunehmend fortgesperrt fühlte, eingepfercht hinter den hohen Mauern, die das iorgasche Anwesen im Tal in jeder Richtung umgaben. Nur in dieser nicht, wo es an den See grenzte und damit diesen Ort zu ihrem Lieblingsplatz machte. Das schwere Eisentor auf der anderen Seite des Hauses bleib seit geraumer Zeit fest verschlossen und gut bewacht. Nur bestimmten Personen war es gestattet zu kommen und zu gehen, wie sie wollten. Lynn gehörte nicht dazu. Nichtmal Ausreiten war ihr gestattet, auch nicht in Begleitung. 'Zu gefährlich.' hatte Ceiran behauptet, der als Wächter wie ein Schatten an ihr klebte und sich auch jetzt stumm unter einem Baum in der Nähe aufhielt um sie nicht aus den Augen zu lassen. Allein dafür mochte Lynn ihn nicht. Manchesmal gelang es ihr ihm zu entwischen. Aber stets nur für kurze Zeit, als habe der blonde Mann es selbst gar nicht nötig zu essen oder zu trinken. Schlafen tat er, so argwöhnte sie, vermutlich vor ihrer Zimmertür, jedoch war sie noch nie mutig genug gewesen um nachzuschauen ob das stimmte.
Stoisch hatte er bisher jede ihrer Bitten abgewiesen, das Anwesen verlassen zu dürfen, bis die Kleine kaum noch anders konnte, als sich ungerecht behandelt zu fühlen. Sie wollte sich nicht einsperren lassen. Und sie wollte auch nichtmehr hier sein. Wenn Lis nicht zu ihr kam, dann würde sie eben selbst nach Götterfels gehen müssen. Der Gedanke reifte schon seit einigen Tagen in dem kleinen Köpfchen, aber jetzt fasste sie den Entschluss es zu versuchen. Mit dem Antrieb der getroffenen Entscheidung raffte sie sich auf die Beine und strich das hübsche Kleidchen glatt, bevor sie, einen trotzigen Bogen um Ceiran beschreibend, auf das Haus zustrebte. Drinnen angekommen und ein paar Treppen später zog sie die Zimmertür entschieden hinter sich und vor Ceirans Nase zu. Ihn brauchte sie nun wirklich nicht, als sie sich daran machte ihre kleine Tasche zu packen.

"Manchmal wandelt die Pflicht auf einer Straße, auf der das Herz ihr nicht folgen kann."

Kommentare 3

  • Oh oh. Ob Ceiran dafür im Schlachthaus endet?

  • Awww, bin gespannt wie das weitergeht. :)


    Die arme Kleine!

  • Jaaaa ich weiß. Die war schonmal da. Aber jetzt hab ich auch die Zeit für den Miniplot. Und das Schreiben.