Kleine Flügel II

Am nächsten Morgen saß Lynn übellaunig am Frühstückstisch, das Kinn noch ein bißchen mehr gereckt als üblich und trotzig und vorwurfsvoll in die Runde starrend. Tilly, die neue Köchin, saß zu ihrer Rechten und obwohl sie dem Mädchen gerade einen herrlich dampfenden Pfannkuchen auf den Teller lud, hatte dieses das unbestimmte Gefühl unsichtbar zu sein.
Die gemütliche Küche war erfüllt von dem belanglosen Gezwitscher und albernen Gekichere der überschaubaren Anzahl junger Frauen, in deren Zuständigkeit es fiel das Haus in Ordnung zu halten und deren einzigen Sorgen darin zu bestehen schienen welches Mittel die Haare besonders geschmeidig machte, wie man Flecken aus einer weißenTischdecke bekam und ob Doran, einer der Wächter, heute nicht wieder besonders verwegen aussah.
Lynn versuchte sie zu ignorieren und damit im Grunde nur Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Lustlos und gereizt stocherte sie in dem Pfannkuchen herum. Sie hatte heute gar nicht mehr hier sein wollen. Den ganzen vorherigen Nachmittag hatte sie damit zugebracht sich ihre Flucht in allen Farben bunt auszumalen. Vor allem aber hatte sie sich ausgemalt, wie Lis gucken würde, wenn sie plötzlich in Götterfels vor der Haustür stand. Natürlich würde sie zuerst schimpfen. Aber dann würde sie sich freuen. Ja, ganz sicher würde sie das. Und bestimmt wäre sie auch ein bißchen stolz darauf, dass Lynn es ganz alleine bis zu ihr geschafft hatte und würde einsehen, dass sie das Mädchen nicht wieder aus der Stadt auf's Anwesen verbannen konnte.
Mit diesen wärmenden Bildern im Herzen hatte die Kleine auf die Dunkelheit gewartet. Und dann noch länger, bis es leise im Haus geworden war. Still, und auf ihrer Unterlippe kauend hatte sie im Fenster gesessen und nach draußen geschaut. Und mit der aufkommenden Ruhe hatten sich die ersten, leisen Zweifel gemeldet. Was, wenn es nun nicht klappte? Was, wenn sie sich im Wald den Fuß verknackste? Oder wenn sie auf Wölfe traf? Oder schlimmer noch, gemeine Räuber, von denen man schließlich immer wieder hörte. Und wenn sie sich im Dunkeln verlief? Sie war noch gar nicht dazu gekommen, sich darum zu sorgen, wie sie Lis in der großen Stadt überhaupt finden wollte, als ihr in den Sinn kam, dass sie vergessen hatte, sich Proviant aus der Küche zu stehlen, damit sie unterwegs etwas zu essen hatte. Nein, ohne ein paar Brote sollte sie ganz sicher nicht losziehen.
"Du isst ja gar nichts." ertönte Tilly's freundliche Stimme neben dem Mädchen und durchschnitt damit den Faden ihrer Gedanken. "Möchtest du Apfelmus? Hier." sprach die Köchin weiter und lud ihr gutmütig einen großen Löffel braungelber Pampe auf den Teller ohne eine Antwort abzuwarten. Danach wandte sie sich dem Tischgespräch wieder zu und hatte keinen Sinn für die wachsende Fassungslosigkeit in dem jungen Mädchengesicht. Nichtmal, als Lynn geräuschvoll den Stuhl nach hinten schob um aufzustehen wurde ihr nennenswerte Beachtung geschenkt. Niemand hier fühlte sich verpflichtet dem kleinen Kolibri irgendwelche Vorschriften zu machen. So verließ sie die Küche und ging in Gedanken den Inhalt ihrer kleinen Tasche nochmal durch, die unter dem Bett versteckt auf sie wartete.
Heute Nacht! Sie nahm es sich fest vor. Und dieses mal würde sie die Brote ganz bestimmt nicht vergessen.

"Manchmal wandelt die Pflicht auf einer Straße, auf der das Herz ihr nicht folgen kann."

Kommentare 2

  • Die böse Köchin will sie nur einlullen mit dem Apfelmus. Und als echte Iorga sollte sie auch Angst vor Ettinen im Wald haben!

  • So süß die Kleine!