Kleine Flügel III

Den ganzen Tag über war die kleine Lynn ein Abbild von Anstand und Gelehrsamkeit gewesen. Den Lektionen des Hauslehrers war sie aufmerksam gefolgt, sie hatte geholfen die Hühner zu füttern, war im Stall bei den Pferden gewesen, nur zu den Schweinen ging sie nicht mehr. Durfte sie auch gar nicht, nachdem sie dort einmal einen Zahn gefunden hatte. Das Mädchen hatte noch genau vor Augen, wie Lis die Farbe aus dem Gesicht gewichen war, als sie ihren Fund stolz präsentierte.
Den Zahn durfte sie nicht behalten. Die Schweine waren ihr auch verboten worden. Und ein Bauchgefühl, das feinfühlig auf Unterschwelliges und Bedrohliches reagierte, für das sie aber weder Bilder noch Namen hatte, riet ihr sich an das Verbot zu halten und, was noch viel wichtiger war, nicht darüber nachzudenken, ahnend, das etwas Unheimliches auf der anderen Seite des Begreifens auf sie wartete. Es war das gleiche Gruseln, dass sie davon abhielt, Nachts unter das Bett zu gucken. Denn ganz bestimmt lauerte dort etwas, aber solange sie nicht hinsah, konnte sie sich einreden, es würde auch diese Nacht dort unten bleiben.
Als sie nun im dunklen Zimmer auf dem Fensterbrett saß, schon wieder, und darauf wartete, dass es ruhig im Haus wurde, die Arme fest um ihren Rucksack geschlungen, kam Lynn sich mit ihrer Angst vor dem Unbekannten unter dem Bett fast albern vor. In ihrer Entschlossenheit für den Moment einige Jahre gealtert und mutiger als sonst, tadelte sie sich nun dafür sich wie ein kleines Mädchen aufzuführen. Ein kleines Mädchen war sie nämlich nicht mehr. Und wenn sie Lis erst gegenüber stand, würde diese das auch einsehen müssen. Sorgsam vermied sie es immer noch, sich Gedanken über den dunklen Wald zu machen. Viel lieber malte der kleine Kolibri sich die überraschten Gesichter aus, wenn sie Götterfels endlich erreicht hatte. Und dann, nur eine Stunde später, wurde es schließlich Zeit aufzubrechen.


Die bauschigen Unterröcke ihres apfelgrünen Kleides raschelten leise, als sie von dem Fensterbrett rutschte. Lynn hatte sich bewusst für dieses entschieden, denn sie war sich sicher, der dickere Stoff würde sie warm halten. Gleich viermal musste sie neu ansetzen die Schleife ihres Umhangs zu binden, nachdem sie ihn von der Garderobe an ihrer Zimmertür genommen hatte, so sehr zitterten ihre Finger. Doch schließlich gelang es ihr. Als sie die Hand auf die Klinke legte lauschte sie, aber wenn Ceiran wirklich vor ihrer Zimmertür schlief, dann atmete er zu leise, als dass das Mädchen ihn hören konnte. Die Tür schwang so leise auf, dass Lynn glaubte man müsse ihr Herz im ganzen Flur schlagen hören, als sie sich Schritt für Schritt vorwärts wagte. Kein Ceiran. Und auch sonst kein Wächter. Kein Licht, keine Stimmen in der Nähe, im ganzen Haus nicht, während die Kleine sich von Ecke zu Ecke und Treppenstufe um Treppenstufe hinab pirschte und sich mit jeder noch so kleinen erfolgreichen Etappe ihrer Flucht immer zuversichtlicher fühlte. Sie folgte dem erdachten Plan an Zimmern und Kammern vorbei, quer durch den Saal mit dem Flügel vor den Fenstern bis in die Küche, in der eine einfache Holztür hinaus in einen kleinen Kräutergarten führte, der jetzt noch karg und ungemütlich aussah. Die kleinen Füße hüpften von Trittstein zu Trittstein, unwillig sich die Schuhe in der lockeren Erde schmutzig zu machen, dann kletterte sie über die kleine Steinmauer, die die Gartenbegrenzung darstellte und ihr gerade mal bis zu den Schenkeln reichte.
Sie hatte sich ihre Kapuze über die kupferblonden Locken gezogen, wagte kaum zu atmen und sah sich nun verstohlen um. Irgendwo um die Hausecke unterhielten sich Männer. Es war ihr nicht wichtig wer oder wie viele, sie dachte nur daran, dass sie sich beeilen musste, wenn sie nicht entdeckt werden wollte. Nicht weit vor ihr lag das blass glitzernde Wasser und der Steg, der sich dunkel davon abhob. Dort war ihr Ziel und so schnell ihre Beine sie trugen rannte Lynn nun den kleinen Hügel hinab, über das kurz gehaltene Gras und dachte erst nach dem zweiten Schritt auf den Holzbohlen wieder daran, dass sie ja leise sein musste. Noch einmal sah sie zurück. Niemand rief. In keinem der Zimmer war Licht angegangen. Und wo sie eigentlich den ersten Triumph hätte verspüren sollen, rührte sich in ihr irrational aber kindlich die Enttäuschung.
Tränen stiegen ihr in die Augen, die sie verbissen niederkämpfte. Sie blinzelte und blinzelte nochmal, als sie umständlich in das kleine Ruderboot kletterte. Das Seil glitt ihr mehrmals aus den Fingern, während sie versuchte es vom Steg zu lösen, dann stieß sie sich mit beiden Händen von den Holzbohlen ab und fiel vom plötzlichen Schaukeln eher auf eine der Sitzplanken, als das sie sich setzte.
Mit großen Augen sah sie auf das Anwesen zurück, den kleinen Rucksack auf dem Rücken, und mühte sich darum zu begreifen, dass ihr die Flucht tatsächlich gelungen war. Dass das hier wirklich passierte. Und sie erschrak, als ihr allmählich das Ausmaß dessen bewusst wurde, das hier vielleicht gerade begann. Aber nun war es zu spät. Die Strömung des Delavan-Sees hatte das kleine Boot bereits erfasst und trieb es mit sich fort von dem dunklen Anwesen. Und damit auch fort von den fernen Lichtern der Götterstadt.

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